„Die Leute“ haben längst die Flügel gestreckt. Man befindet sich im Transformationchaos – in dem alle im Bewußtsein leben: „Nun geht es eben zu Ende, und es war ja seit langem angekündigt…“
Kleines Update aus der ostdeutschen Provinz:
1. der Nahverkehr. Als Kaff ist man ohnehin abgehängt vom großen Rauschen der Busse und Bahnen. Das weiß man, wenn man hier hinzieht. Nur: daß jeder x‑te Bus, jede x‑te Bahn einfach ausfällt („Personalmangel“), das gab es vor 20 Jahren noch nicht.
Als grandiose Idee (der ÖRR berichtete verschiedentlich freudetrunken) werden weithin die „Rufbusse“ angepriesen. Super, man kann also zum ÖPNV-Preis zu gewissen (zugegeben sehr seltenen) festgelegten Zeiten einen „Rufbus“ außerhalb des Fahrplans anfordern! Für Spartaner, die autofrei leben wollen, fraglos eine tolle Idee! Ganze drei Fahrzeiten an einem Sams- oder Sonntag! (Aber bitte bis Freitag anmelden.)
Im ländlichen Sachsen-Anhalt hatte dieser formidable (hüstel) Service jahrelang großartig funktioniert. Man rief das örtliche Taxiunternehmen an, man kannte sich eh, 20-Sekunden-Telephonat und: schwupp! Mittlerweile geht diese Bestellung aber – warum auch immer, Nachhaken blieb erfolglos – über eine Zentrale in der Landeshauptstadt Magdeburg.
Warteschleife. Dann: Warteschleife. Dann: Warteschleife … dann Ausbuchstabierung des Namens. Nachhaken, ob mit k oder ck? Gubitschek oder Cupitscheck oder Kupitszek? (Dauert immer ca 3 Minuten; den Servicemitarbeitern ist die richtige Namensschreibung extrem wichtig!) Emailadresse bitte, Telefonnummer bitte, wie groß ist ihr Gepäck? Haben Sie einen Rollstuhl? Seit Jahren dreimal wöchentlich dieser Vorgang… Leider funktioniert dann das Fax zur Überstellung an den lokalen Taxiunternehmer oft nicht; sprich: Kind sitzt im Regen und wird nicht abgeholt: „Wir entschuldigen uns.“
(Bereits mehrfach passiert. Am „besten“ war, als die Regionalbahn mal auf offener Strecke im Nirgendwo anhielt und der Schaffner alle Passagiere einfach aussteigen ließ. Unbetreut, was damals auch unser 10jähriges Mädchen betraf. Sie irrte unauffindbar durch die verschneite Gegend; nach drei Stunden Suche nach dem Kind half die Polizei mit.)
2. die Kirche. Noch vor 10 Jahren hatten wir die Möglichkeit, an vier Orten in gut fahrbarer Nähe eine katholische Sonntagsmesse zu besuchen: 9 km, 11 km, 16 km und 33 km entfernt. (Von „die Kirche im Dorf lassen“ war von Anfang an keine Rede, aber das wußten wir, als wir herzogen.)
Das alles ist nun zusammengeklappt, ohne daß sich die Zahl der gläubigen „Interessenten“ sichtbar verringert hätte. Aber man nimmt es so hin; es ist eben „Transformationszeit“ – ein Narr (so denken die Verantwortlichen wohl), der es nicht begreift! „Unter Corona“ wurde es arg. Logisch mußten die Gläubigen verstehen, daß es Wichtigeres gäbe als die Heilige Messe, zum Beispiel die Gesundheit!
Mitten in „Corona“ wurden die Sonntagsmessen in erreichbarer Nähe extrem zusammengestrichen. „Nach Corona“ hat sich gezeigt, daß es so auch irgendwie reiche. Frauen zelebrieren nun in priesterlichen Kostümen „Wortgottesdienste“, na und, geht doch.
3. die Schulen. Das ist schon länger ein Thema, eigentlich seit der Wende. Wo wir heute wohnen, im ehemaligen Rittergut, war nach 1945 die Dorfschule. Auf dem Dachboden haben wir all die alten Schulbänke gefunden. Drei davon waren restaurierbar und werden heute noch von unseren Kindern genutzt.
So sollte es sein: drei, vier Dörfer ergeben eine Dorfschule. Längst ist auch das ländliche Schulsystems zentralisiert. Es gibt Megaschulen mit vier Klassen pro Zug. Meine Tochter fährt 35 Minuten zu ihrer weiterführenden Schule, bei manchen Mitschülern sind es 70 Minuten, also 140 Bussitzminuten pro Schultag. Es ist pervers – und natürlich ist es überhaupt nicht alternativlos. Wie so oft ist es eine Frage des politischen Willens. Geld ist ja da. Man müßte es an der richtigen Stelle einsetzen.
Auch unser Dorfkindergarten sollte vor ein paar Jahren via Amtswillen geschlossen werden, da die Kinderzahl in einem Jahr geringfügig unter „der Norm“ lag. Nur durch vehementes bürgerschaftliches Engagement wurde er am Leben erhalten. Er blüht heute.
4. die Ämter und ihre Terminvergaben. “Vor Corona” konnte man zu bestimmten Zeiten “auf´s Amt” kommen – um den Paß zu verlängern, ein Führungszeugnis zu beantragen etc. Nun ist das reichlich kompliziert geworden; Online-Terminvergabe (die armen Senioren!) und unendliche Wartezeit. “Nach Corona” ist wie ein neuer Zeitabschnitt.
Man könnte das Lamento noch ergänzen:
5. die Ärzte, erst recht die Fachärzte, 6. die Vereine, 7. die Feuerwehren… usw, usf.; das Schlechtreden und das Sich-Einfinden treiben einen Teufelskreis an.
Die zuständigen Ämter und Verwaltungen haben nie gelernt, wie man ordentlich schrumpft. Dort werden 08/15 zementierte Vorgaben bearbeitet, oft ohne Sinn & Verstand, aber mit beinharter Betonkopfmentalität.
Dabei ist Schrumpfen keine Schande, sondern eine Chance. Eine Bundesrepublik Deutschland mit – sagen wir – nur 70 Mio Einwohnern (ich würde noch deutlich druntergehen) stünde keinesfalls vor dem Bankrott!
Es müßte kein „Fachkräftemangel“ herrschen, und dazu bräuchte es keinen Dirigismus, sondern schlicht ein Umstellen von heute völlig verquerstehenden Leitplanken (wie etwa dem „Bürgergeld“.)
Es ist, wie gesagt, rein eine Frage des politischen Willens. Wie man es seit den siebziger Jahren ff. durch eisernen politischen Willen geschafft hat, Hinz & Kunz an die Universitäten zu treiben, so könnte/müßte man heute umsteuern. Uns fehlen keine Akademiker, sondern Leute, die ihr Feld einfach handfest bestellen können.
Es herrscht das “Peter-Prinzip und die Hierarchie der Unfähigen”, und dem wäre relativ leicht abzuhelfen. Die Allgemeine Hochschulreife erreichten 1960 7 %, 1975 sprunghaft 15%, 1990 23%, 2011 36% und 2015 gigantische 41,2% eines Jahrgangs. Weder allgemeiner Wohlstand noch persönliche Zufriedenheit haben sich dadurch verbessert. Nie hatten wir mehr „aus psychischen Gründen“ Krankgeschriebene als heute.
NOCH ist nichts “alternativlos” in diesem Land. Es gäbe nur einige entscheidende Weichen zu stellen. Kaum ein Mensch, außer schwerstens behindert, sollte die Aussicht auf ein arbeitsloses Grundeinkommen haben. Jeder Allergiker, jeder Rückenkranke, jeder psychisch Beeinträchtigte könnte leichterhand eine Arbeit ausführen. Es muß im Grunde keine “Erwerbsunfähigkeitsrenter” mehr geben. Was für ein elendes Luxussegment! Und was es kostet!
Echte Härtefälle sind seltene Ausnahmen.
Schrumpfenlernen und Standhalten müßte ein verpflichtender Grundkurs für Verwaltungsangestellte und Chefs auf Regional- und Lokalebene sein. Es ist nämlich alles machbar, erst recht auf niedrigerem Niveau, in überschaubaren Größen. Unser Land lebte schon immer aus der Provinz! Ein Wert, den wir unbedingt hochhalten müssen!
Libertäre meinen ja (sinngemäß): Wer‘s nicht bringt, wird halt abgeschnitten – das habe ich aus meiner eigentümlich frei -Lektüre mitgenommen.
Es wäre ein Fehler. Man müßte die Weichen nur grundsätzlich anders stellen, zum Wohle des ganzen Landes. Wer nicht arbeitet oder Angehörige pflegt und betreut, muß ran. Sonst gibt´s nichts, punkt. Es wäre nicht äußerst kompliziert, und es wäre ein Segen.
Nachtrag: Die Misere betrifft natürlich nicht nur den Osten. Vor vier Monaten besuchte ich in Hessen mit meinem Vater eine recht entfernte Postfiliale (in meiner Jugend: in jedem Ort ein Postamt!), um Vollmachten zu regeln. Wir standen 80 Minuten in der Schlange, übrigens als einzige Biodeutsche; Offenbach halt. Wir legten die benötigten Formulare/Ausweise etc. vor, alles sollte seinen Gang gehen. Mittlerweile (telephonische Auskünfte: nicht möglich) stand mein Vater zwei weitere Male an. Vor drei Wochen wurde eine “Beschwerdestelle” eingeschaltet. Wir harren der Dinge. Noch immer gibts keine Auskunft.
PPS: Gerade war ich im “Netto” zufällig Zeugin, wie eine “Bewerbungsmappe” abgegen wurde. Das ging so: Vielfach gesichtsberingte Kundin reichte der Kassiererin einen karierten Zettel rüber. Sprach:
Hier also das Zeug für meine Tochter, ob sie anfangen kann bei Ihnen. Zeugnis hattse nicht, da gabs Probleme…
Netto-Frau:
Danke, egal, wir nehmen jeden.
Rheinlaender
Mein Eindruck ist, dass die zunehmende Dysfunktionalität vor allem staatliche und staatlich stark regulierte Bereiche der Gesellschaft betrifft. In den Teilen der Privatwirtschaft, zu denen ich etwas sagen kann, herrscht hingegen ein eisernes Qualitätsmanagement vor, in dem alle Vorgänge mit harter Hand immer weiter optimiert (und nach Möglichkeit automatisiert) werden. Die meisten Vorgänge funktionieren dort nach meinem Eindruck schneller und zuverlässiger als noch vor einigen Jahren. So könnte man m.E. auch mit einem Staat verfahren. Ich vermute spontan, dass hier mindestens 50 Prozent der Aufgaben und 80 Prozent des Personals (Bereiche wie Sicherheit, Bildung etc. ausgenommen) bei gleichzeitiger Leistungs- und Qualitätssteigerung in den wirklich relevanten Funktionen einzusparen wären.