Im Zuge der Debatte um Thilo Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab spekulierten zahlreiche Politologen ab 2010 über die Chancen und Erfolgsbedingungen einer politischen Kraft, die sich rechts der Union im bundesdeutschen Parteiensystem verankern könnte.
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie sprach damals davon, daß in Deutschland alle »Zutaten« für eine rechtspopulistische Kraft gegeben seien (1) – sinkende Bindungskräfte der etablierten Volksparteien, die Dauerthemen Migration und Islamisierung sowie ein Repräsentationsdefizit von rechtskonservativen Standpunkten in den öffentlichen Debatten.
Auch die konservativeren Kräfte innerhalb von CDU und CSU hatten schon damals Bedenken angemeldet, daß die positionellen Verschiebungen der Union in die Konsenskultur der linken Mitte einen Leerraum hinterlassen würden, der mittelfristig von einer neuen politischen Kraft aufgefüllt werden könnte. Drei Jahre später wurden diese Sorgen zur faktischen Realität: Mit der AfD entstand der »späte Nachzügler« in der rechtspopulistischen Parteienfamilie Europas.
Natürlich war die AfD nicht die erste Partei, die sich rechts der Christdemokraten als neues politisches Angebot aufstellte. Republikaner, NPD, DVU, Schill-Partei und weitere konnten insbesondere ab den 1980er Jahren einige starke Wahlergebnisse einfahren. Ihr Erfolg war jedoch entweder auf regionale Schwerpunkte oder auf Zeitepisoden beschränkt, obwohl sich rechte Einstellungsmuster in der bundesrepublikanischen Bevölkerung über viele Jahrzehnte konstant zwischen zehn und zwanzig Prozent bewegten.
2001 untersuchten die Wahlforscher Arzheimer, Falter und Schoen in einer Studie die Verteilungsstrukturen des »rechtsgerichteten Einstellungspotentials« in der Bevölkerung und wie sich dieses innerhalb der unterschiedlichen parteipolitischen Spektren widerspiegelte. Demnach blieb das generelle rechte Wählerpotential über den Meßzeitraum zwischen 1976 und 1998 stets konstant. Doch die scheinbare Paradoxie liegt darin, daß rechtsgerichtete Wähler keineswegs auch automatisch zu rechten Parteien tendieren.
Im Juni 1998 gaben nur durchschnittlich 5,5 Prozent der rechts eingestellten Wähler an, daß sie die Republikaner tatsächlich wählen würden. (2) Zwei Drittel verteilten sich auf die beiden großen Volksparteien und das Nichtwählerspektrum. Die Geschichte rechter Wählerschaften in der Bundesrepublik zeigt also eine Diskrepanz zwischen einem beständigen Potential und seiner Verfügbarkeit bzw. Mobilisierung. Nicht jeder rechts eingestellte Wähler wählt eine dezidiert rechte Partei.
Es dürfte insbesondere die Integrationsleistung der frühen CDU gewesen sein, die über einige Jahrzehnte hinweg rechte Wählerblöcke für sich mobilisieren konnte. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, rechte Wahlerfolge nur im Hinblick auf Absetzbewegungen von der Union zu begreifen. So konnten die Republikaner etwa bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin 1989 vordergründig ehemals sozialdemokratisch gebundene Milieus in klassischen Arbeitersiedlungen mobilisieren. Vormalige Teilerfolge der NPD Ende der 1960er Jahre bildeten sich noch verstärkt aus einem konservativen und ländlich geprägten Mittelstand im höheren Alter. (3)
Rechte Wahlerfolge aus Gelegenheitsstrukturen
Der Erfolg der AfD entstammt also nicht nur einem rein politischen Zufallsmoment, sondern beruht zum Teil auf ähnlichen Bedingungen und Gelegenheitsstrukturen wie der Erfolg ihrer rechtskonservativen Vorgänger. Fragmentierte Parteiensysteme, abnehmende Parteiidentifikation und die Asymmetrien im öffentlichen Agenda-Setting (für rechte Parteien gilt dies zuvorderst in der Migrationspolitik) eröffnen stets Mobilisierungsräume.
Mit den Erfolgen von DVU und NPD bei den Wahlen im Osten zwischen 2002 und 2006 zeigte sich rechtes Wahlverhalten aber zunächst vor allem als Phänomen deprivierter Sozialschichten, bei denen alle Erwartungen und Hoffnungen der Wendezeit nun in Desillusionierung und Enttäuschung umgeschwenkt waren, wofür schließlich ein politisches Ventil gesucht wurde. (4)
Dieses Faktum war im vorletzten Jahrzehnt im europäischen Vergleich schon eine Ausnahme. Wo andere europäische Rechtsparteien wie die FPÖ oder auch der Front National bereits auf erweiterte soziale Milieus setzen konnten, blieb ein umfassender Zugriff auf das breite bundesdeutsche Wählerspektrum für eine rechte Partei völlig unrealistisch. Die AfD konnte als erste rechtskonservative Kraft Schneisen in die sozialen Mittelschichtsmilieus schlagen und dadurch grundsätzlich Resonanz- und Potentialräume erweitern.
Die soziale Basis des rechten Wahlverhaltens
Die politische Geographie weist AfD-Hochburgen sowohl in abgehängten ostdeutschen Landkreisen als auch in prosperierenden Industriestandorten im Südwesten Deutschlands aus. (5) Die Strukturschwäche eines Wahlkreises ist durchaus ein Indikator, der zu einer höheren AfD-Wahlbereitschaft führt. Dennoch scheinen sich an konkreten Beispielen wie im Stuttgarter Raum oder in den südöstlichen Teilen Bayerns auch gewisse rechte Wahltraditionen abzuzeichnen, wo in den 1990er Jahren schon die Republikaner starke Ergebnisse einfahren konnten und nun auch die AfD punkten kann.
Grundsätzlich korreliert die rechte Wählergeographie schon seit einigen Jahrzehnten mit drei entscheidenden Faktoren: 1. hoher Beschäftigungsanteil im verarbeitenden Gewerbe, 2. geringe konfessionelle Bindung oder protestantisches Milieu, 3. demographische Abwanderungsprozesse und stark alternde Bevölkerung, wobei dieser Punkt nicht den Fehlschluß erlaubt, daß rechte Parteien überwiegend von älteren Menschen gewählt werden.(6)
Es hat sich gezeigt, daß die Erklärungskraft reiner ökonomischer Beziehungen zu begrenzt ist, um rechtes Wahlverhalten beispielsweise als veritablen Sozialkonflikt zu interpretieren. Bereits internationale Studien zu anderen Rechtsparteien haben gezeigt, daß kulturelle Variablen eine wesentliche größere Effektstärke aufweisen als ökonomische. So wird überwiegend die These eines »Cultural Backlash« vertreten, aus der sich rechtes Wahlverhalten auch als gesellschaftlicher Wertewandelprozeß skizzieren läßt.
Im Zentrum dieses Ansatzes werden rechtspopulistische Wahlerfolge vor allem als Gegenbewegung zum Progressivismus und zur Liberalisierung familiärer und arbeitsweltlicher Lebensmodelle verstanden. Globalisierung, Wertewandel und die Bildungsexpansion im akademischen Bereich haben die einst »nivellierte Mittelschichtsgesellschaft« (Schelsky) (7) als soziales und politisches Zentrum der BRD-Frühphase ab den 1980er Jahren in zwei Lager gespalten: eine urbane und mit hohen Bildungsabschlüssen ausgestattete obere Mittelschicht, die sich in der neuen Wissens- und Informationsökonomie problemlos bewegt, und ein traditionelles Arbeitsmilieu im verarbeitenden Gewerbe und Industriesektor mit einfacher Bildung, dessen Lebensmodell zunehmend unter Druck gerät.
In ihrer wirtschaftlichen Lage gibt es zwischen diesen beiden Lagern keine signifikanten Unterschiede. Die sozialen Klassen und ihre wirtschaftlichen Lagen blieben seit den 1980er Jahren recht konstant. Der klassische Facharbeiter am Standort eines größeren Automobilkonzerns dürfte sich nach einigen Jahren Berufserfahrung in ähnlichen Einkommensklassen bewegen wie der Medienreferent einer PR-Agentur im Prenzlauer Berg. Die Wertvorstellungen, die Statuspositionen und auch das Wahlverhalten dieser beiden Prototypen sind im Schnitt jedoch völlig unterschiedlich.
Somit werden die rechtspopulistischen Wahlerfolge der letzten Jahre vor allem als Kulturkonflikt gedeutet, der durch die Migrationskrise 2015 ein zusätzliches plastisch-identitäres Bild erhielt. Es hat sich stets gezeigt, daß AfD-Wähler und ‑Sympathisanten nicht aus der Position einer sozial prekären Lage heraus ihre Wahlentscheidung treffen, sondern aus Sorge vor einer zunehmenden Abwärtsmobilität und als Verteidigung ihrer traditionellen Lebensvorstellungen.
Rechtswähler sind laut einheitlicher Studienlage häufiger von Abstiegssorgen und Statusängsten geprägt. Dieser Zusammenhang wird in der Forschung auch mit dem Begriff der »relativen Deprivation« beschrieben und macht deutlich, inwieweit sich objektive soziale Statuslagen von ihren subjektiven Wahrnehmungshorizonten entkoppeln können. Das heißt, wir finden unter rechtspopulistischen Wählerschaften ein wesentlich stärker ausgeprägtes Sorgenprofil über politische, kulturelle oder auch ökonomische Entwicklungen.
Umfragen unter AfD-Anhängern zeigen, daß es insbesondere Sorgen vor allgemeinen und kulturellen Veränderungsprozessen sind. 82 Prozent der AfD-Wähler gaben bei der Bundestagswahl 2021 an, sie machten sich große Sorgen, daß sich Deutschland zu stark verändere. Der Durchschnitt in der Gesamtwählerschaft lag bei nur 41 Prozent.
Die Wahlmotivationen für die AfD sind demnach auch eine Art politische Immunisierungsstrategie gegen die radikalen Wandlungsprozesse, die im Vorfeld der AfD-Parteigründung nur in kleinen Dosierungen spürbar waren und sich spätestens ab 2015 mit der Massenmigration nach Deutschland in einem sichtbaren und konfrontativen Bild gezeigt haben. 2015 war nicht einfach nur ein spontaner Erregungsimpuls, sondern der aufbrechende Krater, der schon im Vorfeld durch zahlreiche Risse markiert war. Das Migrationsthema wurde zum Sinnbild eines Kulturkampfes, der sich schon zuvor auf vielen Mikroebenen in der Gesellschaft manifestiert hatte.
Migrationskritik und Nativismus als verbindende Klammer
Die Klammer rechter Wahlmotivationen blieben stets Kritik und Unzufriedenheit mit der Migrationspolitik. Sie sind der Stimmungskatalysator, der nahezu alle anderen sozioökonomischen Erklärungsfaktoren aussticht. In mehreren Studien konnten verschiedene soziale Gruppen im Hinblick auf ihre Wahlbereitschaft für die AfD untersucht werden. Unterschiedliche Modelle fanden dabei heraus, daß sich die Wahlwahrscheinlichkeit für die AfD immer dann erhöht, wenn gleichzeitig der Faktor »Einwanderungskritik« erhöht wird. (8)
Das heißt, sowohl Menschen in unteren als auch in oberen Einkommensschichten weisen gleichermaßen eine erhöhte AfD-Wahlbereitschaft auf, wenn sie besonders einwanderungskritisch eingestellt sind. In bezug auf andere Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Wohnort, Einkommen oder Berufsstand konnten nur leichte Korrelationen festgestellt werden. Rechte Wählerschaften formieren sich somit eher einstellungsbezogen als klassenorientiert.
Der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde hat zur Unterscheidung von Links- und Rechtspopulismus den Faktor des »Nativismus« auf seiten des Rechtspopulismus als zentrales Identitätsmerkmal herausgearbeitet, das die Sympathien und Einstellungskoordinaten rechtspopulistischer Wählerschaften konstituiert. (9) Demnach werden politische Institutionen und soziale Anspruchsrechte als zu verteidigendes Inventar der Nationalstaaten betrachtet, worüber schließlich eine identitäre Innenperspektive und ein abzugrenzendes »Außen« geschaffen werden. Dies ist nach Mudde die entscheidende Gleichung in der rechtspopulistischen Mentalitätsstruktur, die neben den weiteren Definitionsbestandteilen des Rechtspopulismus am stärksten wiegt.
Rechte Wählerdynamiken
Beobachter der AfD haben der Partei zu Beginn ihrer ersten Wahlerfolge keine lange Halbwertszeit attestiert. Wählerstrukturen und Bewegungen glichen zwischen 2015 und 2018 denen einer klassischen Protestpartei, die mit einem polarisierenden Thema temporäre Wahlerfolge einfahren konnte. Der Anfangserfolg der AfD gründete maßgeblich auf ihrer Mobilisierungsstärke innerhalb der Nichtwählermilieus. Bei der Bundestagswahl 2017 bestand ein Viertel der AfD-Gesamtwählerschaft aus ehemaligen Nichtwählern.
Ein-Themen-Parteien sind aber immer auch stark abhängig von der gegenwärtigen Themenlage, was den Aufbau stabiler Milieustrukturen und fester Stammwählergemeinschaften erschwert. Obwohl Umfragen bei AfD-Wählern zumeist eine reine Protest- und Enttäuschungsmotivation zeigen, widerspricht dem die wissenschaftliche Studienlage, wonach AfD-Anhänger eine besonders hohe Bindung zu ihrer Partei aufweisen. Der sogenannte Verfügbarkeitsindex gibt an, wie hoch die Wechselbereitschaft von bestimmten Parteianhängern zu anderen Parteien ist. Schon ab 2015 zeigte sich, daß AfD-Anhänger kaum für das Mobilisierungspotential anderer Parteien zur Verfügung standen. Die AfD-Wählerschaft scheint somit weniger fluide zu sein als angenommen. Sie kann somit als eine stabilisierte Protestpartei mit einer sicheren Stammwählerbasis von zehn bis fünfzehn Prozent angesehen werden.
Dennoch bleibt das große Manko, daß Protestwählerschaften kaum auf einen gemeinsamen ideologischen Nenner zu bringen sind. Die Migrationskrise 2015 mag bis heute so starke Nachwirkungen haben, daß sie die AfD weiterhin sicher in die Parlamente trägt. Dennoch fehlen der Partei feste soziale Trägergruppen mit gemeinsamen Wertevorstellungen und einem weltanschaulichen Minimalkonsens.
Die Grünen konnten in ihrer Anfangsphase aus dem akademischen und postmateriellen 68er-Milieu schöpfen. CDU und SPD verwalten bis heute die Restbestände der konfessionsgebundenen Milieus und der übriggebliebenen Arbeiterklasse. Die Linkspartei kann vordergründig im Osten durch ihre DDR-nostalgischen Milieus politisch überleben.
Was fehlt, ist das Herauswachsen eines eigenständigen rechtskonservativen Milieus, das nicht einfach nur eine konservativ optimierte CDU sein kann, sondern seinen eigenen Kompaß finden und ausrichten muß. Dies kann man nicht erzwingen oder am Reißbrett entwerfen. Aber die AfD kann die Vorbedingungen schaffen, um für ein derartiges Milieu eine langfristige Attraktivität auszustrahlen.
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(1) – Vgl. »Potential für eine neue Partei am rechten Rand«, sueddeutsche.de vom 11. September 2010.
(2) – Vgl. Oskar Niedermayer, Richard Stöss: »Rechtsextremismus, politische Unzufriedenheit und das Wählerpotential rechtsextremer Parteien in der Bundesrepublik im Frühsommer 1998«, in: Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum Nr. 1, 1998, FU Berlin.
(3) – Vgl. Hans D. Klingemann, Franz Urban Pappi: »Die Wählerbewegungen bei der Bundestagswahl am 28. September 1969«, in: Demokratische Politik – Analyse und Theorie. Politische Vierteljahresschrift 11 (1), 1970, S. 111 – 138.
(4) – Vgl. Viola Neu: »Landtagswahl in Sachsen am 19.9.2004«, in: Wahlanalysen. Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2004, S. 3.
(5) – Vgl. Andreas Klärner, Torsten Osigus: »Ergebnisse der Bundestagswahl 2021: ländliche Räume im Fokus« (= Thünen Working Paper; 181), Oktober 2021.
(6) – Vgl. Christian Franz, Marcel Fratzscher, Alexander Kritikos: »AfD in dünn besiedelten Räumen mit Überalterungsproblemen stärker«, in: DIW-Wochenbericht 8 / 2018, S. 135 – 144.
(7) – Helmut Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Stuttgart 21954.
(8) – Vgl. Holger Lengfeld, Clara Dilger: »Kulturelle und ökonomische Bedrohung. Eine Analyse der Ursachen der Parteiidentifikation mit der Alternative für Deutschland mit dem Sozio-oekonomischen Panel«, in: Zeitschrift für Soziologie 47 (3), 2018, S. 181 – 199.
(9) – Vgl. Cas Mudde: The Far Right Today, Cambrigde /Medford 2019.