Klassiker der Parteienkritik

 PDF der Druckfassung aus Sezession 112/ Februar 2023

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

175 Jah­re nach dem Zusam­men­tre­ten der deut­schen Natio­nal­ver­samm­lung, knapp 100 Jah­re nach Wil­helms II. »Burg­frie­den« und fast 80 Jah­re nach der Wie­der­zu­las­sung von Par­tei­en auf deut­schem Boden stellt sich um so mehr die Fra­ge nach der tat­säch­li­chen poli­ti­schen Bedeu­tung und Funk­ti­on von Par­tei­en in der real exis­tie­ren­den Bun­des­re­pu­blik. Die his­to­ri­sche Par­tei­en­kri­tik gibt Antworten.

 

Mois­ei Jakow­le­witsch Ost­ro­gor­ski: La Démo­cra­tie et l’Organisation des Par­tis Poli­ti­ques (1901)

Der Autor (1854 – 1921), emi­grier­ter zaris­ti­scher Jus­ti­ti­ar, stu­dier­te in Paris Poli­ti­sche Wis­sen­schaft und spe­zia­li­sier­te sich auf die Ana­ly­se poli­ti­scher Par­tei­en. 1901 erschien sein Haupt­werk, im Fol­ge­jahr in zwei Bän­den auch eng­lisch­spra­chig. Eine Über­set­zung ins Deut­sche liegt bis heu­te nicht vor.

Ost­ro­gor­ski erläu­tert auf 1400 Sei­ten die his­to­risch-poli­ti­schen Grund­la­gen der ­Ent­ste­hung und die Struk­tur der Par­tei­en im eng­lisch­spra­chi­gen Raum, begin­nend mit dem Ende der »alten Ein­heit« der eng­li­schen Stan­des­ge­sell­schaft. Erwe­ckungs­re­li­giö­se Beschwö­run­gen des Individual­gewissens hät­ten im 18. Jahr­hun­dert das Indi­vi­du­um auf die poli­ti­sche Büh­ne gestellt. Dem­entspre­chend sieht der Autor im moder­nen, säku­la­ren Staat die Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit als Ablö­sung der Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit – im Ver­bund mit der uti­li­ta­ris­ti­schen For­de­rung an den Staat, über Nütz­lich­keit und Wohl­erge­hen sei­ner Ange­hö­ri­gen zu wachen, also poli­ti­sche Öko­no­mie zu pflegen.

Revo­lu­tio­nä­re Umwäl­zun­gen (1776, 1789) und Indus­tria­li­sie­rung hät­ten schließ­lich den Mit­tel­stand akti­viert und in die gesell­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Adels­stand geführt. Reak­tio­nä­re Bestre­bun­gen gegen den »mor­bi­den Indi­vi­dua­lis­mus« hät­ten das bür­ger­lich-par­la­men­ta­ri­sche »Neue Regime« mit sei­ner indi­vi­dua­lis­ti­schen, uti­li­ta­ris­ti­schen Dok­trin nicht bän­di­gen können.

Aus die­ser arbei­tet Ost­ro­gor­ski die ­Ursprün­ge der »poli­ti­schen Asso­zia­tio­nen« her­aus, die sich spä­ter in klas­si­sche Par­tei­en umwan­deln soll­ten. In den USA wur­de die um 1830 gründ­lich moder­ni­sier­te Demo­kra­ti­sche Par­tei zur ers­ten moder­nen Volks­par­tei der Welt, wäh­rend das dort erson­ne­ne Cau­cus-Modell mit sei­nem unge­kann­ten Mobi­li­sie­rungs­po­ten­ti­al das Ende der klas­si­schen poli­ti­schen Sys­te­ma­tik Eng­lands ein­läu­te­te. Die Kon­kur­renz zwi­schen kon­ser­va­ti­vem und libe­ra­lem Lager beding­te die Her­aus­bil­dung der tat­säch­li­chen Par­tei­en, die Ost­ro­gor­ski eben­so ein­ge­hend ana­ly­siert wie im zwei­ten Band die Par­tei­en­his­to­rie der Ver­ei­nig­ten Staa­ten. In der Mas­se des Text­kor­pus ver­steckt liegt die par­tei­en­so­zio­lo­gi­sche Erkenntnis.

Dem Ana­lys­ten geht es »nicht um poli­ti­sche For­men, son­dern um poli­ti­sche Wirk­mäch­te«; um den Cha­rak­ter gesell­schaft­li­chen Han­delns zu begrei­fen, müs­se man des­sen »Funk­ti­ons­wei­sen im Lich­te des Cha­rak­ters der­je­ni­gen stu­die­ren, die es in Gang brin­gen, und unter Beach­tung der sozia­len und poli­ti­schen Bedin­gun­gen, unter deren Ein­fluß sich ihre Absich­ten for­men und manifestieren«.

Ost­ro­gor­skis Bei­trag zur poli­ti­schen Ana­ly­se liegt in der Her­aus­ar­bei­tung der Ten­denz aller Mas­sen­par­tei­en, sich von zweck­ge­bun­de­nen Zusam­men­schlüs­sen zu stän­di­gen Orga­ni­sa­tio­nen mit einer Füh­rungs­schicht aus Berufs­po­li­ti­kern zu ent­wi­ckeln. Das Bedürf­nis nach Selbst­er­halt füh­re zur Anpas­sung von Ziel­set­zun­gen und Akti­vi­tä­ten zuguns­ten eines Zuge­winns an Geld­mit­teln und Wäh­ler­stim­men. Kurz: Von Mit­teln zum Zweck wan­deln sich Par­tei­en zum Selbstzweck.

 

Robert Michels: Zur Sozio­lo­gie des Partei­wesens in der moder­nen Demo­kra­tie. Unter­su­chun­gen über die olig­ar­chi­schen Ten­den­zen des Grup­pen­le­bens (1911)

Der deutsch-ita­lie­ni­sche His­to­ri­ker Robert ­Michels (1876 – 1936) zählt zu den bedeu­tends­ten Par­tei­en­kri­ti­kern. Er war 1901 der Sozia­lis­ti­schen Par­tei Ita­li­ens bei­getre­ten und 1903 der SPD. Nach­dem ihm wegen »sozia­lis­ti­scher Agi­ta­ti­on« die Habi­li­ta­ti­on ver­wei­gert wor­den war, ging Michels 1907 als Pri­vat­do­zent nach Turin, wand­te sich dort vom Sozia­lis­mus ab und schloß sich 1928 dem Par­ti­to Nazio­na­le Fascis­ta an, wo er zu einem bedeut­sa­men Theo­re­ti­ker aufstieg.

Sein 1911 erschie­ne­nes, dem »lie­ben Freun­de« Max Weber »mit seelenverwandtschaft­lichem Gru­ße« gewid­me­tes Haupt­werk ist Pro­dukt sei­ner Innen­an­sich­ten der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei, der sei­ner­zeit ein­zi­gen deut­schen Par­tei mit einem qua­si­re­vo­lu­tio­nä­ren und basis­de­mo­kra­ti­schen Selbst­an­spruch. Was Michels dort gese­hen hat­te, ins­be­son­de­re auf den drei von ihm besuch­ten Par­tei­ta­gen, war mit die­sem Anspruch aller­dings kei­nes­wegs vereinbar.

Dreh- und Angel­punkt von Michels’ Betrach­tung ist die The­se, daß die Funk­ti­ons­me­cha­nis­men moder­ner Mas­sen­par­tei­en von deren poli­ti­schen Aus­rich­tun­gen und Ziel­set­zun­gen unab­hän­gig sei­en. Sie gehorch­ten viel­mehr eige­nen Gesetz­mä­ßig­kei­ten. Der ers­te Teil sei­ner Ana­ly­se behan­delt die »Ätio­lo­gie des Füh­rer­tums«, also die Ursa­chen­for­schung unter tech­nisch-admi­nis­tra­ti­ven, psy­cho­lo­gi­schen sowie intel­lek­tu­el­len Gesichts­punk­ten. In der Fol­ge han­delt Michels den »tat­säch­li­chen Herr­schafts­cha­rak­ter der Füh­rer« ab, maß­geb­lich cha­rak­te­ri­siert durch Sta­bi­li­tät, finan­zi­el­le Macht und büro­kra­ti­sche Zentralisierung.

Des wei­te­ren the­ma­ti­siert wer­den die »Psy­cho­lo­gi­schen Rück­wir­kun­gen der Mas­sen­füh­rung auf die Füh­rer­schaft« (ins­be­son­de­re die Zuspit­zung der Par­tei auf die Führer­persönlichkeit) sowie die »Sozia­le Ana­ly­se der Füh­rer­schaft«, ein­schließ­lich der Dis­kus­si­on mög­li­cher Maß­nah­men zur pro­phy­lak­ti­schen Beschnei­dung von deren Macht, etwa »prä­ven­ti­ver« For­men von Syn­di­ka­lis­mus und Anar­chis­mus, aber auch des Refe­ren­dums und der poli­ti­schen »Ent­sa­gung«.

Michels schließt mit einer »Syn­the­se«, dem Pos­tu­lat des soge­nann­ten eher­nen Geset­zes der Olig­ar­chie, das bis heu­te ein geflü­gel­tes Wort dar­stellt. Im Wort­laut: »Selbst wenn es der Unzu­frie­den­heit der Mas­sen ein­mal gelin­gen soll­te, die herr­schen­de Klas­se ihrer Macht zu berau­ben, so müßte […] sich doch not­wen­di­ger­wei­se im Scho­ße der Mas­sen selbst eine neue orga­ni­sier­te Min­der­heit vor­fin­den, die das Amt einer herr­schen­den Klas­se übernähme.«

Hat­te Ost­ro­gor­ski zur Bre­chung ihrer Macht vor­ge­schla­gen, Par­tei­en abzu­schaf­fen und zu Zweck­ver­bän­den zurück­zu­keh­ren, wel­che nach geta­ner Arbeit wie­der aus­ein­an­der­ge­hen soll­ten, so ver­warf Michels sol­che Vor­ha­ben als sinn­los: Die moder­ne Mas­sen­ge­sell­schaft sei durch der­ar­ti­ge Gele­gen­heits­aus­schüs­se weder ver­walt- noch regier­bar. Außer­dem sei die Hin­nei­gung zur Olig­ar­chie eine offen­sicht­li­che anthro­po­lo­gi­sche Kon­stan­te und dem­nach nicht ein­fach »lös­bar«.

 

Carl Schmitt: Die geis­tes­ge­schicht­li­che Lage des heu­ti­gen Par­la­men­ta­ris­mus (1923)

Carl Schmitt (1888 – 1985) bleibt »Kron­zeu­ge für eine fun­da­men­ta­le Kri­tik am Par­la­men­ta­ris­mus und Libe­ra­lis­mus« (Die Zeit). Sei­ne wesent­li­che Abnei­gung rich­te­te sich gegen den »des­in­te­grie­ren­den« libe­ra­len Hang zu Ver­mitt­lung und Aus­gleich. Ihm war es unter ande­rem dar­um zu tun, zwi­schen klas­si­scher Demo­kra­tie und moder­nem Par­la­men­ta­ris­mus zu unter­schei­den – und ers­te­re gegen letz­te­ren in Schutz zu neh­men. Aus dem Gesamt­werk ragt dies­be­züg­lich sei­ne ers­te dezi­diert poli­ti­sche Schrift her­aus, Die geis­tes­ge­schicht­li­che Lage des heu­ti­gen Par­la­men­ta­ris­mus von 1923.

Par­la­men­te fin­den in der Theo­rie für jedes Pro­blem eine Kon­sens­lö­sung – zwar in der Regel nicht die stärks­te Lösung, aber eine, die schein­bar von »allen« getra­gen wird. Schmitt hin­ge­gen ist Für­spre­cher der star­ken Lösun­gen, und so stellt er dem par­la­men­ta­ri­schen Ver­tre­tungs­mo­dell eine »iden­ti­tä­re Demo­kra­tie« gegen­über, die das in Inter­es­sen­grup­pen zer­fal­le­ne Volk in einen mono­li­thi­schen Kör­per als Sou­ve­rän über­füh­ren solle.

Die zwei­te Auf­la­ge (1926) wur­de um eine »Vor­be­mer­kung über den Gegen­satz von Par­la­men­ta­ris­mus und Demo­kra­tie« ergänzt. Sie ver­dich­te­te Schmitts Par­la­men­ta­ris­mus­kri­tik auf weni­ge Sei­ten und schloß mit dem Ruf nach staat­li­cher Wür­di­gung des immer stär­ker her­vor­tre­ten­den »Gegensatz[es] eines von mora­li­schem Pathos getra­ge­nen libe­ra­len Indi­vi­dua­lis­mus und eines von wesent­lich poli­ti­schen Idea­len beherrsch­ten demo­kra­ti­schen Staats­ge­fühls. […] Es ist der in sei­ner Tie­fe unüber­wind­li­che Gegen­satz von libe­ra­lem Ein­zel­mensch-Bewußt­sein und demo­kra­ti­scher Homogenität.«

Schmitt woll­te die Idee der Demo­kra­tie als gemein­sa­mer poli­ti­scher Wil­lens­äu­ße­rung des mög­lichst homo­ge­nen Staats­volks von ihrer Schwund­stu­fe im von Par­tei­en und Inter­es­sen­ver­bän­den zer­ris­se­nen Par­la­men­ta­ris­mus abset­zen und stell­te des­halb des­sen Apo­rien her­aus, etwa den ver­küm­mer­ten öffent­li­chen Mei­nungs­kampf. Die Par­tei­en sei­en dabei ledig­lich Nutz­nie­ßer im Par­la­men­ta­ris­mus selbst ange­leg­ter Webfehler.

Schmitts Visi­on, am Ende der Wei­ma­rer Repu­blik zur Wah­rung der staat­li­chen Inte­gri­tät das Par­la­ment aus­zu­schal­ten und unter einer Prä­si­di­al­dik­ta­tur die laten­te Bür­ger­kriegs­si­tua­ti­on auf­zu­lö­sen, führ­te ins Nichts. Nach der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Macht­über­nah­me bemüh­te er sich zeit­wei­lig, als Ver­fech­ter der neu­en Ord­nung hervorzutreten.

Bei der Aus­ar­bei­tung des west­deut­schen Grund­ge­set­zes wur­den sei­ne Leh­ren über die Wehr­haft­ma­chung des Staats gegen Par­tei­en­in­ter­es­sen gera­de­zu auf den Kopf gestellt: Aus Angst vor einer neu­en Staats­kri­se schal­te­te man alle mit dem Par­la­ment kon­kur­rie­ren­den Gewal­ten aus – auch das Volk selbst. Seit­her wählt der Bun­des­bür­ger alle vier Jah­re das Par­la­ment und gibt sei­ne Mög­lich­keit zur Mit­be­stim­mung an Abge­ord­ne­te ab. Alle wei­te­ren wich­ti­gen Posi­tio­nen wer­den per Reprä­sen­ta­ti­ons­wahl besetzt. Die­se zen­tra­len Kri­tik­punk­te Schmitts in sei­ner Pha­se als »anti­par­la­men­ta­ri­scher Demo­krat« sind unge­bro­chen aktuell.

 

Mau­rice Duver­ger: Les par­tis poli­ti­ques (1951)

Das Haupt­werk des fran­zö­si­schen Juris­ten Mau­rice Duver­ger (1917 – 2014) erschien 1959 in deut­scher Über­set­zung mit aus­drück­li­chem Hin­weis des Über­set­zers auf die Eigen­tüm­lich­kei­ten der »spe­zi­fisch fran­zö­si­schen Sicht­wei­se« auf poli­ti­sche Din­ge. Indes birgt das Buch wich­ti­ge Ein­sich­ten zum Gesamt­pan­ora­ma der euro­päi­schen Parteiensoziologie.

Ana­ly­ti­sche Bedeu­tung kommt dabei ins­be­son­de­re der Mikroebe­ne der inter­nen Bezie­hun­gen und Ver­bin­dun­gen zwi­schen den »Basis­ein­hei­ten« der Par­tei­en zu, von Mit­glie­der­ge­win­nung und ‑bin­dung bis hin zu Aus­wahl und Bedeu­tung des Füh­rungs­per­so­nals. Dem­nach bevor­zug­ten Eli­ten­par­tei­en die Qua­li­tät gegen­über der Quan­ti­tät. Sie sei­en ent­spre­chend fle­xi­ble und eher lose orga­ni­sier­te Hono­ra­tio­ren­par­tei­en, die inner­halb des Par­la­ments zweck­be­zo­gen geformt wür­den und von der Unter­stüt­zung ihrer Gön­ner abhän­gig sei­en. Duver­ger bewer­tet sie als struk­tu­rell »unter­ent­wi­ckelt«.

Mas­sen­par­tei­en hin­ge­gen sei­en straff durch­or­ga­ni­siert und besä­ßen eine hier­ar­chi­sche, »star­ke« Struk­tur in Form einer Pyra­mi­de. Ihre Mit­glie­der sei­en stär­ker an die Ziel­set­zung der Par­tei als an ihre Füh­rungs­ge­stalt gebun­den, der par­tei­in­ter­ne Zusam­men­halt sei des­halb ideo­lo­gisch-abs­trakt und abge­si­chert gegen staat­li­che Repres­si­on. Im Gegen­satz zu Eli­ten­par­tei­en finan­zier­ten sich Mas­sen­par­tei­en »von unten« durch Bei­trä­ge ihrer Mit­glie­der, müß­ten ihre Gefolg­schaft also immer wei­ter vergrößern.

Als drit­ten Typus iden­ti­fi­zier­te Duver­ger tota­li­tä­re Par­tei­en mit stren­ger, zen­tra­li­sier­ter Glie­de­rung. Homo­ge­ni­tät, Geschlos­sen­heit und abso­lu­te Dis­zi­plin zähl­ten zu den höchs­ten Par­tei­wer­ten. Die kom­mu­nis­ti­sche Par­tei fuße auf der »Basis­ein­heit« der Betriebs­zel­le. Eine Wahl­teil­nah­me sei nicht geplant, statt des­sen gehei­me Unter­grund­ar­beit. Die Miliz als »Basis­ein­heit« der faschis­ti­schen Par­tei tra­ge para­mi­li­tä­ri­schen Cha­rak­ter. Zu einer Teil­nah­me an Wah­len kön­ne es kom­men, um im Erfolgs­fall die demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen zu beseitigen.

Duver­gers Neue­rung war, neben den Par­tei­en­struk­tu­ren die Ent­wick­lung des Wahl­rechts zu unter­su­chen: Wäh­rend Hono­ra­tio­ren­par­tei­en kei­ne kon­stan­te Arbeit geleis­tet und sich auf Wahl­vor­gän­ge kon­zen­triert hät­ten, sei ihnen in den Mas­sen­par­tei­en ein Kon­kur­rent ent­stan­den, der fort­wäh­ren­de Agi­ta­ti­on zum Aus­bau der eige­nen Wäh­ler­ba­sis ein­set­ze. Aus Inter­es­se am Macht­er­halt müß­ten sich des­halb alle eli­ten­ba­sier­ten Par­tei­en zwangs­läu­fig in Massen­parteien umwan­deln (»Anste­ckungs­the­se«).

Dar­aus erge­be sich auch eine Rück­wir­kung des Wahl­sys­tems auf das Par­tei­en­spek­trum (»Loi de ­Duver­ger«): Das Bestehen eines rela­ti­ven Mehr­heits­wahl­sys­tems füh­re zur Her­aus­bil­dung eines Zwei­par­tei­en­sys­tems, wäh­rend umge­kehrt das Ver­hält­nis­wahl­recht eine Viel­zahl an Par­tei­en her­vor­brin­ge. Die­ses Modell ist nicht wider­spruchs­frei, trägt aber zur Ver­ständ­lich­keit des Par­tei­en­stel­len­werts ins­ge­samt bei. In den Wor­ten des Autors: »Die Geg­ner einer ›Par­tei­en­herr­schaft‹ wer­den vie­le Argu­men­te in die­sem Buch finden.«

 

Fried­rich August Frei­herr von der Heyd­te, Karl Sach­erl: Sozio­lo­gie der deut­schen Par­tei­en (1955)

Für Heyd­te (1907 – 1994), Ordi­na­ri­us für Öffent­li­ches Recht und Poli­ti­sche Wis­sen­schaf­ten in Würz­burg, und Sach­erl (1916 – 1994), Pri­vat­do­zent für Psy­cho­lo­gie in Mainz, waren in der jun­gen Bun­des­re­pu­blik »die in Frei­heit sich bil­den­den und umbil­den­den poli­ti­schen Par­tei­en […] das Lebens­ele­ment aller poli­ti­schen Frei­heit, das Lebens­ele­ment vor allem der Demo­kra­tie«: »Der moder­ne demo­kra­ti­sche Staat steht und fällt mit der Frei­heit der Parteien.«

Sie beton­ten indes, Par­tei­en dürf­ten nicht ver­ab­so­lu­tiert wer­den, um den Plu­ra­lis­mus zu erhal­ten. Das stand bereits damals im Wider­spruch zur poli­ti­schen Pra­xis. 1958 urteil­te das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt zur dem Ver­fas­sungs­prin­zip der Gleich­heit wider­spre­chen­den Bevor­zu­gung der Par­tei­en gegen­über ande­ren ­gesell­schaft­li­chen Grup­pen: »Dort, wo es sich nicht um poli­ti­sche Wil­lens­bil­dung oder Aus­übung poli­ti­scher Macht, son­dern um ein Tätig­wer­den gesell­schaft­li­cher Mäch­te und Insti­tu­tio­nen han­delt« – zu denen die Par­tei­en also nicht zäh­len –, »hat der Satz von der Chan­cen­gleich­heit, wie er sich im Bereich der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung für die Par­tei­en ent­wi­ckelt hat, kei­ne Geltung.«

Der ers­te Teil des Buchs beleuch­tet »Die Par­tei­en im Gefü­ge der Gesell­schaft«. Dem­nach kön­ne die poli­ti­sche Wirk­lich­keit der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Par­tei­en deren Selbst­an­sprü­chen und denen des Grund­ge­set­zes kaum genü­gen. Ent­ge­gen ihrem eigent­li­chen poli­ti­schen Auf­trag sei­en sie pri­mär mit der Absi­che­rung von Macht­po­si­tio­nen befaßt. Ein krea­ti­ver Umgang mit den demo­kra­ti­schen Regel­me­cha­nis­men zei­ge sich in der stra­te­gi­schen Zeit­pla­nung: Zu lan­ge Wahl­kämp­fe ermü­de­ten die Wäh­ler; gleich­zei­tig kön­ne kei­ne Par­tei ihre Geg­ner unwi­der­spro­chen auf die öffent­li­che Mei­nung ein­wir­ken las­sen. Die Bun­des­tags­wahl 1953 habe »das für Deutsch­land (und den gan­zen euro­päi­schen Kon­ti­nent) neue Phä­no­men einer ers­ten all­um­fas­sen­den ›public-relations‹-Kampagne gebracht, wie sie in die­sem Umfang selbst im Ursprungs­land – den USA – noch nicht durch­ge­führt wurde«.

Der zwei­te Teil des Buchs fokus­siert »Das Gefü­ge der Gesell­schaft in den Par­tei­en« – mit hoch­in­ter­es­san­ten Betrach­tun­gen zum Prä­ze­denz­fall der 1952 ver­bo­te­nen Sozia­lis­ti­schen Reichs­par­tei (vgl. Sezes­si­on 80) und zum Art. 21 GG, der bis heu­te bestimmt, wie eine poli­ti­sche Par­tei dem Bann­spruch der Ver­fas­sungs­wid­rig­keit ent­geht: demo­kra­ti­sche inne­re Ord­nung (Heyd­te und Sach­erl nen­nen das »erzwun­ge­ne Demo­kra­ti­sie­rung«), öffent­li­che Aus­kunft über Her­kunft und Ver­wen­dung der Mit­tel sowie Ver­fas­sungs­treue und Staatsbejahung.

Bri­sant wird dies ob der Funk­ti­on des Abge­ord­ne­ten als »Ver­tre­ter des gan­zen Vol­kes« statt sei­ner Par­tei gemäß Art. 38 GG, denn mit Fest­stel­lung der Ver­fas­sungs­wid­rig­keit einer Par­tei ver­lie­ren deren Par­la­men­ta­ri­er ihre Man­da­te. Gemäß »SRP-Urteil« des BVerfG kann der Abge­ord­ne­te einer ver­fas­sungs­wid­ri­gen Par­tei nicht »Ver­tre­ter des gan­zen Vol­kes« sein – und die Wäh­ler einer sol­chen Partei?

 

Johan­nes Agno­li: Die Trans­for­ma­ti­on der Demo­kra­tie (1967)

Johan­nes Agno­li (1925 – 2003) kam in Vene­ti­en zur Welt, war sowohl faschis­ti­scher Nach­wuchs­funk­tio­när als auch im Dienst deut­scher Gebirgs­jä­ger und stu­dier­te nach dem Krieg Poli­ti­sche Wis­sen­schaft in Tübin­gen. Seit 1955 deut­scher Staats­bür­ger, stieg Agno­li zu einem wesent­li­chen Theo­re­ti­ker des SDS auf und wur­de 1972 Professor.

Sein Auf­satz von 1967, eine schar­fe Abrech­nung mit der »plu­ra­lis­ti­schen Fal­le« in der Bun­des­re­pu­blik sei­ner Zeit, gilt als wich­tigs­te deutsch­spra­chi­ge par­la­men­ta­ris­mus­kri­ti­sche Schrift der Nach­kriegs­zeit. Zen­tra­les Ele­ment der Argu­men­ta­ti­on ist die Ent­wick­lung west­li­cher Struk­tu­ren von frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Enti­tä­ten zu diri­gis­ti­schen Appa­ra­ten (»Invo­lu­ti­ons­the­se«), aus­ge­hend von Hegels 1820 geäu­ßer­ter Annah­me, das Volk sei nicht in der Lage, sich selbst zu regieren.

Agno­li ent­geg­ne­te sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Wort­füh­rern sei­ner Zeit, die ver­kün­de­ten, nur die kon­se­quen­te Reform von Staat und Recht ver­wirk­li­che Frei­heit, daß sie dann ja gera­de die links­re­vo­lu­tio­nä­re Oppo­si­ti­on unter­stüt­zen müß­ten. Dabei war klar, daß auch für vor­geb­lich revo­lu­tio­nä­re »Jung­so­zia­lis­ten« Anti­ka­pi­ta­lis­mus gar nicht zur inner­par­la­men­ta­ri­schen Debat­te stand. Viel­mehr sei die »Geschich­te der west­li­chen Gesell­schaf­ten nach dem Krieg« defi­niert von der Steue­rung der »poli­tisch unar­ti­ku­lier­ten« Mas­sen, die der Aus­gang des Zwei­ten Welt­kriegs aus ihren gesell­schaft­li­chen Bin­dun­gen gelöst habe.

Dabei wür­den »Ver­fas­sungs­norm und Ver­fas­sungs­wirk­lich­keit« weit aus­ein­an­der­klaf­fen, da der Staat auf 200 Jah­re alten Tra­di­tio­nen basie­re und aktu­el­len Konflikt­situationen in kei­ner Wei­se gewach­sen sei. In sei­ner Wort­wahl ver­rät Agno­li die Rezep­ti­on Carl Schmitts. In ganz ähn­li­cher Wei­se wie die­ser und des­sen rech­te Epi­go­nen dia­gnos­ti­ziert er der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie die zen­tra­le Funk­ti­on, »den Wider­spruch erfolg­reich glät­ten und durch staat­li­che Rege­lung sozi­al aus­glei­chen« zu müssen.

Die hier­zu not­wen­di­ge ­»Trans­for­ma­ti­on« der Demo­kra­tie, eine »wider­sprüch­li­che Befrie­dung«, bedin­ge eine Funk­ti­ons­ver­la­ge­rung. Dabei tre­te kon­su­mis­tisch indu­zier­ter Plu­ra­lis­mus neben gesell­schaft­lich-poli­ti­sche Pola­ri­tät: Die »erlaub­te« Mei­nungs­viel­falt wer­de auf einen all­ge­mei­nen Kon­sens fest­ge­na­gelt und ver­lie­re so ihre Ergeb­nis­of­fen­heit. Den Par­tei­en – und ganz beson­ders den domes­ti­zier­ten, sich auf ihren einst­ma­li­gen sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­ren Lor­bee­ren aus­ru­hen­den Sozi­al­de­mo­kra­ten – kom­me dabei die Funk­ti­on zu, »Rebel­li­ons­ge­füh­le gegen die bür­ger­lich-kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft zu neutralisieren«.

Dem­ge­gen­über hoff­te Agno­li, der »Staats­kri­ti­ker mit Lehr­stuhl«, auf eine außer­par­la­men­ta­ri­sche Oppo­si­ti­on, die »das Licht der Öffent­lich­keit scheut« und sich so der Kon­trol­le noch ent­zie­hen kön­ne. Indes war bereits Anfang der 1970er mit dem Zer­bre­chen der Stu­den­ten­be­we­gung deut­lich gewor­den, daß die Gefahr einer wei­te­ren Eska­la­ti­on mehr als begrenzt war. Daß die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne sei­ner­zeit urteil­te, Agno­li schrei­be kon­se­quent »am Bedarf vor­bei«, spricht alles ande­re als gegen ihn.

 

Nach der Wende

Spä­tes­tens seit dem Mau­er­fall 1989 und dem befürch­te­ten Erstar­ken natio­na­ler poli­ti­scher Strö­mun­gen wer­den die eta­blier­ten poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen der BRD ten­den­zi­ell als sakro­sankt behan­delt; sie zu kri­ti­sie­ren, kommt seit­her angeb­lich einem Angriff auf die Demo­kra­tie selbst gleich. Die­ses Ver­dikt traf nach einem ent­spre­chen­den Inter­view 1992 selbst den dama­li­gen Bun­des­prä­si­den­ten und pro­mi­nen­ten Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­ger Richard von Weiz­sä­cker. Im Zusam­men­hang mit die­sem Tabu wird Par­tei­en­kri­tik seit den spä­ten 1980er Jah­ren vor allem über die Umwe­ge von Popu­lis­mus und Kor­rup­ti­ons­ge­fahr geübt. Als aktu­el­le »Klas­si­ker« in unse­rer Zeit, in der laut For­sa nur noch 17 Pro­zent der Deut­schen poli­ti­schen Par­tei­en ver­trau­en, haben sich der Ver­fas­sungs­ju­rist Hans Her­bert von Arnim (u. a. Staat ohne Die­ner und Demo­kra­tie ohne Volk, bei­de 1993), der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Phil­ip Manow mit (Ent-)Demokratisierung der Demo­kra­tie (2020) sowie der Sozio­lo­ge Erwin Scheuch (Cli­quen, Klün­gel und Kar­rie­ren, 1992) eta­bliert.

– – –

 

Ergän­zen­de Literatur:

Klaus von Bey­me: Die poli­ti­sche Klas­se im Par­tei­en­staat, Frank­furt a.M. 1993;

Rolf Ebbig­hau­sen: Die Kri­se der Parteien­demokratie und die Par­tei­en­so­zio­lo­gie. Eine Stu­die über Mois­ei Ost­ro­gor­ski, Robert ­Michels und die neue­re Ent­wick­lung der ­Par­tei­en­for­schung, Ber­lin 1969;

Chris­ti­an Graf von Kroc­kow, Peter ­Lösche (Hrsg.): Par­tei­en in der Kri­se. Das Parteien­system der Bun­des­re­pu­blik und der Auf­stand des Bür­ger­wil­lens, Mün­chen 1986;

Hel­mut Stub­be da Luz: Par­tei­en­dik­ta­tur. Die Lüge von der »inner­par­tei­li­chen Demo­kratie«, Frank­furt a. M. 1994.

 

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)