Jeder verfolgte die Truppenbewegungen in den ersten Wochen und Monaten nach dem russischen Einmarsch, aber im Sommer verblaßte das Kartenbild. Deutschland schluckte eine Million Ukrainer und füttert seither ihren großen Grenzverkehr.
Von der Frontlinie, die den Donbass schon Jahre zuvor als separatistisches Gebiet markierte, war in den Jahren vor dem Krieg kaum die Rede. Wachere Beobachter sahen dort eine der Wunden, in denen die NATO unter US-Führung stocherte, während der Kreml hellwach darauf pochte, daß es nicht nur für »die einzige Weltmacht« rote Linien gebe, sondern auch für diejenigen, die nach den brutalen, zersetzenden Neunzigern nun an einem russischen Selbstbewußtsein bauten. Im nachhinein ist alles so leicht lesbar, im nachhinein lag im Donbass alles zutage.
Aber dieses Zutageliegende ist wieder zugeschüttet worden, weil die Erzählung vom jähen und bösartigen Überfall Rußlands als einzig gültige wieder und wieder erzählt wurde und wird – zumindest hierzulande. Dabei gibt es eine Vorgeschichte, eine nicht nur diplomatische, sondern handfeste Einkreisung Rußlands und eine politisch nach Westen kippenden Ukraine, die wie ein Keil in die kriegsgeschichtlich berühmte und strategisch unverzichtbare russische »Tiefe des Raumes« ragt.
Aber man muß gar nicht so ins Weite denken, sondern sich bloß einmal die Artillerietätigkeit der ukrainischen Streitkräfte in den beiden Wochen vor dem Angriff in Erinnerung rufen und nach den Begründungen dafür suchen, warum auf die Region Donbass ein sich von Tag zu Tag steigerndes Trommelfeuer niederging. Der 24. Februar war nicht der Nullpunkt.
Nullpunkt lautet der Titel einer Textsammlung, die der 1985 geborene ukrainische Autor Artem Tschech vorgelegt hat. Sie besteht aus Prosastücken, die fürs Internet geschrieben wurden. Sie sind Tschechs Wehrdienst-Tagebuch, er führte es von Mai 2015 bis Juni 2016 und beschreibt darin Rekrutierung, Ausbildung und Fronteinsatz – einen harten Winter lang, »ein ganzes Leben und ein bißchen mehr«, wie er es nennt. »Nullpunkt« sei die Bezeichnung für die konturlose Frontlinie quer durch die Ukraine. Das ist ein wenig sprechender Begriff – man könnte sich eine Ankunft im Niemandsland darunter vorstellen, aber der Begriff bleibt ungelenk.
Viel eher ist doch die Zeit, in der Tschech diente, ein Nullpunkt: Die ukrainischen und die russischen Bemühungen, eine für Moskau akzeptable Regierung in Kiew zu wissen, waren nach der Maidan-Revolution gegen Wiktor Janukowytsch endgültig gescheitert, und seither führen alle Straßen in die Zerstörung am östlichen Rand Europas.
Tschech schildert, was jeder kennt, der diente. Dann schildert er, was nur kennt, wer an unwirklich umkämpften Linien Dachshöhlen und Laufgräben schanzte und dennoch für sich und seine Kameraden ein Taxi bis vor den Unterstand bestellen kann, um einmal rasch in der nahen Kleinstadt Pommes und Hühnchen zu essen. Das Datenvolumen reicht für die abendliche Netflix-Staffel, und die Minenräumer finden im Wald den zerfledderten Rest des Offiziers, den man zu den Russen übergelaufen wähnte, der sich aber doch bloß erschossen hatte.
Im letzten Drittel verdichten sich Tschechs Gedanken. Er stammt aus Kiew und wußte vom Krieg in seinem Land nichts, bevor man ihn einzog. Tägliche Dusche, abends Bar oder Kino, Laptop und lange im Bett – dort kommt er her. Aber nun wäre er lieber bei seinen Kameraden geblieben, als zur Lesung seiner Frau zu fahren, die Gedichte schreibt. Solche Anwandlungen klingen in Kriegstagebüchern manchmal so, als würden sie im Nachschliff eingefügt. Aber das stimmt nicht. Und ebenfalls keine Phrase ist die Abneigung gegen Frontromantiker und Kriegstouristen.
Tschech vergleicht die Unterstandbesucher im Donbass mit Henri Barbusse, André Gide und Lion Feuchtwanger, die in den 30ern »etwas über die UdSSR gelesen haben und nun fasziniert sind und dorthin wollen.« Solche Leute müßten nicht nur im Sommer und für ein paar Tage, sondern in Dreck und Winterregen für »ein Leben und ein bißchen mehr« vorbeischneien – vielleicht würde dann auch ihr Patriotismus »unter Beton begraben«, wie Tschech es in ein weiteres, seltsames Bild faßt.
Nullpunkt ist das Tagebuch aus einem latenten Vorgang: kaum Tote, fast Stillstand. Dieser von Kiew betriebene, köchelnde Krieg gegen den Autonomiewunsch zweier Regionen lieferte jene Begründung, die notwendig war, um die Ukraine so aufzurüsten und auszubilden, daß sie den übermächtigen Vorstoß der Russen in einen Abnutzungskrieg ableiten konnte. Tschech schrieb noch vor dem Vorhang.
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Artem Tschech: Nullpunkt, Wuppertal: Arco Verlag 2022. 196 S., 20 €
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