Artem Tschech: Nullpunkt

Der Abnutzungskrieg in der Ukraine dauert nun zwölf Monate an.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Jeder ver­folg­te die Trup­pen­be­we­gun­gen in den ers­ten Wochen und Mona­ten nach dem rus­si­schen Ein­marsch, aber im Som­mer ver­blaß­te das Kar­ten­bild. Deutsch­land schluck­te eine Mil­li­on Ukrai­ner und füt­tert seit­her ihren gro­ßen Grenzverkehr.

Von der Front­li­nie, die den Don­bass schon Jah­re zuvor als sepa­ra­tis­ti­sches Gebiet mar­kier­te, war in den Jah­ren vor dem Krieg kaum die Rede. Wache­re Beob­ach­ter sahen dort eine der Wun­den, in denen die NATO unter US-Füh­rung sto­cher­te, wäh­rend der Kreml hell­wach dar­auf poch­te, daß es nicht nur für »die ein­zi­ge Welt­macht« rote Lini­en gebe, son­dern auch für die­je­ni­gen, die nach den bru­ta­len, zer­set­zen­den Neun­zi­gern nun an einem rus­si­schen Selbst­be­wußt­sein bau­ten. Im nach­hin­ein ist alles so leicht les­bar, im nach­hin­ein lag im Don­bass alles zutage.

Aber die­ses Zuta­ge­lie­gen­de ist wie­der zuge­schüt­tet wor­den, weil die Erzäh­lung vom jähen und bös­ar­ti­gen Über­fall Ruß­lands als ein­zig gül­ti­ge wie­der und wie­der erzählt wur­de und wird – zumin­dest hier­zu­lan­de. Dabei gibt es eine Vor­ge­schich­te, eine nicht nur diplo­ma­ti­sche, son­dern hand­fes­te Ein­krei­sung Ruß­lands und eine poli­tisch nach Wes­ten kip­pen­den Ukrai­ne, die wie ein Keil in die kriegs­ge­schicht­lich berühm­te und stra­te­gisch unver­zicht­ba­re rus­si­sche »Tie­fe des Rau­mes« ragt.

Aber man muß gar nicht so ins Wei­te den­ken, son­dern sich bloß ein­mal die Artil­le­rie­tä­tig­keit der ukrai­ni­schen Streit­kräf­te in den bei­den Wochen vor dem Angriff in Erin­ne­rung rufen und nach den Begrün­dun­gen dafür suchen, war­um auf die Regi­on Don­bass ein sich von Tag zu Tag stei­gern­des Trom­mel­feu­er nie­der­ging. Der 24. Febru­ar war nicht der Nullpunkt.

Null­punkt lau­tet der Titel einer Text­samm­lung, die der 1985 gebo­re­ne ukrai­ni­sche Autor Artem Tschech vor­ge­legt hat. Sie besteht aus Prosa­stücken, die fürs Inter­net geschrie­ben wur­den. Sie sind Tsch­echs Wehr­dienst-Tage­buch, er führ­te es von Mai 2015 bis Juni 2016 und beschreibt dar­in Rekru­tie­rung, Aus­bil­dung und Front­ein­satz – einen har­ten Win­ter lang, »ein gan­zes Leben und ein biß­chen mehr«, wie er es nennt. »Null­punkt« sei die Bezeich­nung für die kon­tur­lo­se Front­li­nie quer durch die Ukrai­ne. Das ist ein wenig spre­chen­der Begriff – man könn­te sich eine Ankunft im Nie­mands­land dar­un­ter vor­stel­len, aber der Begriff bleibt ungelenk.

Viel eher ist doch die Zeit, in der Tschech dien­te, ein Null­punkt: Die ukrai­ni­schen und die rus­si­schen Bemü­hun­gen, eine für Mos­kau akzep­ta­ble Regie­rung in Kiew zu wis­sen, waren nach der Mai­dan-Revo­lu­ti­on gegen Wik­tor ­Janu­ko­wytsch end­gül­tig geschei­tert, und seit­her füh­ren alle Stra­ßen in die Zer­stö­rung am öst­li­chen Rand Europas.

Tschech schil­dert, was jeder kennt, der dien­te. Dann schil­dert er, was nur kennt, wer an unwirk­lich umkämpf­ten Lini­en Dachs­höh­len und Lauf­grä­ben schanz­te und den­noch für sich und sei­ne Kame­ra­den ein Taxi bis vor den Unter­stand bestel­len kann, um ein­mal rasch in der nahen Klein­stadt Pom­mes und Hühn­chen zu essen. Das Daten­vo­lu­men reicht für die abend­li­che Net­flix-Staf­fel, und die Minen­räu­mer fin­den im Wald den zer­fled­der­ten Rest des Offi­ziers, den man zu den Rus­sen über­ge­lau­fen wähn­te, der sich aber doch bloß erschos­sen hatte.

Im letz­ten Drit­tel ver­dich­ten sich Tsch­echs Gedan­ken. Er stammt aus Kiew und wuß­te vom Krieg in sei­nem Land nichts, bevor man ihn ein­zog. Täg­li­che Dusche, abends Bar oder Kino, Lap­top und lan­ge im Bett – dort kommt er her. Aber nun wäre er lie­ber bei sei­nen Kame­ra­den geblie­ben, als zur Lesung sei­ner Frau zu fah­ren, die Gedich­te schreibt. Sol­che Anwand­lun­gen klin­gen in Kriegs­ta­ge­bü­chern manch­mal so, als wür­den sie im Nach­schliff ein­ge­fügt. Aber das stimmt nicht. Und eben­falls kei­ne Phra­se ist die Abnei­gung gegen Front­romantiker und Kriegstouristen.

Tschech ver­gleicht die Unter­stand­be­su­cher im Don­bass mit Hen­ri Bar­bus­se, André Gide und Lion Feucht­wan­ger, die in den 30ern »etwas über die UdSSR gele­sen haben und nun fas­zi­niert sind und dort­hin wol­len.« Sol­che Leu­te müß­ten nicht nur im Som­mer und für ein paar Tage, son­dern in Dreck und Win­ter­re­gen für »ein Leben und ein biß­chen mehr« vor­bei­schnei­en – viel­leicht wür­de dann auch ihr Patrio­tis­mus »unter Beton begra­ben«, wie Tschech es in ein wei­te­res, selt­sa­mes Bild faßt.

Null­punkt ist das Tage­buch aus einem laten­ten Vor­gang: kaum Tote, fast Still­stand. Die­ser von Kiew betrie­be­ne, köcheln­de Krieg gegen den Auto­no­mie­wunsch zwei­er Regio­nen lie­fer­te jene Begrün­dung, die not­wen­dig war, um die Ukrai­ne so auf­zu­rüs­ten und aus­zu­bil­den, daß sie den über­mäch­ti­gen Vor­stoß der Rus­sen in einen Abnut­zungs­krieg ablei­ten konn­te. Tschech schrieb noch vor dem Vorhang.

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Artem Tschech: Null­punkt, Wup­per­tal: Arco Ver­lag 2022. 196 S., 20 €

 

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Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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