Damals veröffentlichte der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg in der FAZ einen »Grundkurs Demographie«. Basso continuo: Es sei heute bereits »fünf nach zwölf«, da sich seit Jahrzehnten ein deutsches Paar quantitativ nicht mal selbst reproduziere. Dazu wäre eine durchschnittliche Kinderzahl von 2,1 nötig. Das schaffen wir nicht. Wir liegen bei unter 1,6 Geburten. Deutsch natürlich in Anführungszeichen. Die zugewanderten Neudeutschen heben den Schnitt.
Was macht nun Stefan Schulz (*1983), Journalist und erfolgreicher Podcaster, daraus? Er beginnt lustig. Hatte überlegt, sein Buch Opakalypse now oder Omageddon zu betiteln. Das wär’s! Aber schnell wird es ernst. Die Zahlen sind drastisch. Beispiele: Der Geburtsjahrgang 1964: 1,4 Millionen Neugeborene. Schwenk auf den Jahrgang 2011: 743 000 Geburten. Ab 2023 (dies ist der offizielle Buchanlaß) gehen die sogenannten Babyboomer in Rente. Diese Kohorte umfaßt rund 18 Millionen Bürger. Im selben Zeitraum werden aber nur elf Millionen Leute ihren 18. Geburtstag feiern. Die resultierende Unwucht ist bestechend klar.
1990 lag das Durchschnittsalter in Deutschland bei 38 Jahren. Heute ist der Durchschnittsdeutsche 46 Jahre alt. Nach Japan sind wir das zweitälteste Land der Welt. Dieser Tendenz stehe die Einwanderung als Jungbrunnen entgegen: 55,5 Prozent der zwischen 2010 und 2919 Zugewanderten waren jünger als dreißig!
Afrika hat heute eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden, 2100 dürften es 4,5 Milliarden sein. Die drängen wohin? Und weiter: Ab 2035 wird es (zumal in den ostdeutschen Ländern!) mehr Pflegebedürftige geben als Menschen unterhalb von dreißig Jahren. Laut Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen wird es ab dann doppelt so viele Rentner geben wie heute.
Bereits im Jahr 2020 standen 253 Milliarden Euro Rentenbeiträge 338 Milliarden Euro Ausgaben gegenüber. Bei gleicher Finanzierung würde ab 2060 die Hälfte des gesamten Bundeshaushalts in die Rente fließen. Und: In heutigen Wahlkampfkalkulationen spielen die Jungen keine Rolle: »Es gibt sechsmal mehr Wähler*innen über 50 als solche unter 30 Jahren. Kurzfristige Mathematik schlägt langfristige Konsequenz.« Schulz rechnet auch vor, daß es bereits mehr pensionierte Beamte gibt als arbeitende. Dringender Änderungsbedarf!
Der Autor hat uns hier unermüdlich Fakten, Zahlen und Stimmungen versammelt. Man kann sagen, er hat die sogenannte Presselandschaft zwischen 2016 und heute ausgewertet oder wenigstens »eingebracht«. Das ist lobenswert, aber vor allem ist es dies: eine Fleißarbeit. Nach den ersten beiden (anregenden) von sieben Kapiteln wird das als Manko deutlich.
Schulz wirft zunächst gute Fragen auf: Wirtschaftswachstum? Wie denn und warum? Ist Schrumpfen nicht zwangsläufig? Gibt es eine »Umvolkung« wie von »rechts« geunkt? (Schulz zu den entsprechenden Berechnungen: »Diese Zahlen entsprechen der Realität«, kehrt sie im Verlauf aber unter den Tisch.) Daß Schulz in seinem breiten Literaturverzeichnis zahlreiche Links zu Bundesbehörden und Zeitgeistmedien aufführt, Standardwerke der renommierten Bevölkerungswissenschaftler (horrible dictu!) Josef Schmid und Herwig Birg nicht mal rezipiert, spricht Bände.
Insofern ist man froh über Fundstücke, von denen zwei herausgehoben gehören. Erstens die Personalie Ernst Fehr. Es geht hier um das »Ökonomenranking« der FAZ. Die Plätze bis Rang sieben (etwa die prominenten Marcel Fratzscher, Hans-Werner Sinn, Claudia Kemfert) erhielten von den Experten zwischen 17 und 66 »Punkte«. Aber wer landete unangefochten mit 500 Punkten (!) auf Platz eins? Der dem Publikum unbekannte Fehr.
Er hat das Feld des »Vertrauens« innerhalb von wirtschaftlichen Transaktionen untersucht – ein wesentlicher Lenkungsfaktor in der alternden Massengesellschaft. Die angeblich »werberelevante Zielgruppe« zwischen 14 und 49 Jahren ist seit 2001 von 41 auf 35 Millionen geschrumpft. Das wirkt sich auf die Werbebilder aus: »Dann stürzt nicht mehr der fitte Radfahrer, sondern die Schwiegermutter beim morgendlichen Duschen.«
Der zweite Treffer von Schulz findet sich ebenfalls im ersten Buchviertel: Er brandmarkt die Auswirkungen der digitalen Sphäre. Die nämlich (laut Schulz auf 2008 datierend, den Beginn der Altenrepublik) bedeutete einen Rückzug der Jungen aus der ersten in die zweite, nichtanaloge Welt. »Seit 2008 fällt die Gesellschaft anhand ihrer Eigentumsverteilung auseinander. Schaut man auf die politischen Geschichtsbücher, bleibt diese Entwicklung unerzählt.« Unsere Digital natives tangiert das echte Geschehen kaum. Sie neigen deutlich mehr zu Depressionen und Suizidalität.
Schulz unterzieht die Rentenprogramme sämtlicher größerer Parteien einer Überprüfung. Der Leser darf raten, welche Partei bei dieser Betrachtung fehlt. Der Name beginnt mit A. Was für ein Zufall!
Hier hat ein Autor einen guten Anlauf genommen, ist ordentlich abgesprungen und hat dann auf dem Weg sein Ziel verfehlt. Das Ganze hat etwas von einer gelenkigen Ausgleichsbewegung. Angestrebt wird unterm Strich eine Geburtenrate von 1,8 wie in Dänemark. Eine glatte Drei.
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Stefan Schulz: Die Altenrepublik. Wie der demographische Wandel unsere Zukunft gefährdet, Hamburg: Hoffmann und Campe 2022. 223 S., 23 €
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