Ganz gleich, ob kulturelle, ethnische, sexuelle Nutzbarmachung – seit das giftige Wort der Appropriation die Runde im Kulturbetrieb macht, meint man in jeder Aneignung eine Enteignung, in jeder Appropriation auch eine Expropriation wahrnehmen zu müssen. Die Diskussion ist toxisch und kennt fast nur Apodiktisches.
Jens Balzer (*1969), seines Zeichens sogenannter Poptheoretiker und im Hauptstrom der Beobachter verortet, will mit seiner kleinen Ethik einen Kompromiß zwischen kritikloser Übernahme und Ablehnung des Konzeptes liefern. Per se sei die Appropriation ein zweiseitiges Ding: Zum einen sei sie schöpferisch und kulturstiftend, zum anderen sei sie in Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse verstrickt. Es müsse also eine richtige und eine falsche Form geben. Sie zu bestimmen ist die Aufgabe.
Elvis, Eric Clapton, Eminem – das sei falsche Aneignung, denn die Weißen profitierten, ohne die Last zu tragen. Mehr noch, sie bestählen die wahren Pioniere des Jazz, Blues oder Hip-Hop, profitierten ökonomisch, setzten sich an die Spitze der Vermarktung und entzögen somit den Gründern die Möglichkeit der Verwertung. Sie eigneten an und enteigneten im selben Moment. Anders die Rapper von Public Enemy mit ihrer intelligenten »counter appropriation«.
Um diesen windigen Zuschreibungen philosophische Substanz zu verleihen, zitiert Balzer Deleuze, einen sehr zweifelhaften Deleuze. Der hatte nämlich die Wesensdifferenz von amerikanischer und europäischer Kunst am Ausmaß ihrer Fragmentierung festgemacht. Demnach hätten »die Europäer einen angeborenen Sinn für die organische Totalität«, während die Amerikaner einen »natürlichen Sinn fürs Fragment« besäßen, was wiederum ihrer föderalen Verfassung und ihrer ethnischen Vielfalt aus Minderheiten zugeschrieben werden könne.
So sehr verliebt sich Balzer in diese Pauschalisierung, daß ihm glatt entgeht, wie Deleuze von Amerikanern und nicht von Afroamerikanern schrieb, Balzer unter ersteren aber nur letztere zu verstehen scheint. Sie hätten eine »Geschichte des Zerreißens von kultureller Tradition erlebt durch die Entwurzelung ihrer Träger und deren Verstreuung über die Welt«, so als ob afroamerikanische Kultur ein Ausfluß der afrikanischen und nicht viel mehr der amerikanischen Kultur wäre.
Appropriation wird somit auf beiden Seiten unterschiedlich wahrgenommen und hat verschiedene Berechtigung – warum wir aber die Perspektive der anderen annehmen sollen, die anderen aber unsere ablehnen dürfen, bleibt ungeklärt. In der Aneignung durch schwarze Künstler sieht Balzer keine Enteignung, denn diese »durchqueren kulturelle Traditionsfelder, um Gemeinsamkeiten zwischen marginalisierten Gruppen zu betonen«.
Es ist lobenswert, die Motive anderer Argumentationen verstehen zu wollen – es allerdings gleich zu seinem Eigenen zu machen und das Ureigene damit zu verleugnen, das ist fragwürdig und unterwürfig. Auch will Balzer nicht sehen, daß Funk und Rap als Aneignungsobjekte einer hochentwickelten und ausdifferenzierten europäischen Rockkultur zu Beginn der 1980er großen Schaden zugefügt haben, keine Bereicherung, sondern Rückschritt waren, was wiederum den Heavy Metal als Ausweg schuf.
Letztlich geht es immer – auch Balzer landet dort – um Identität und deren Berechtigung. Wie so viele, die sich dabei auf das »immer Hybride«, die ständige Bewegung, das ewige Werden und Verändern berufen, begeht auch er den Fehler, vom Sein auf ein Sollen zu schließen, tappt also in die bereits von Hume kenntlich gemachte Falle. Ganz folgerichtig landet er bei einem Vulgärhegelianismus, der zum einen ein richtiges und falsches Bewußtsein statuiert, zum anderen in Dialektikjargon mündet: »Die richtige Appropriation bildet die Antithese zur falschen, indem sie die falsche Appropriation selber appropriiert und damit auf eine neue, richtige Ebene hebt, in welcher der Gedanke der Appropriation negiert und aufbewahrt, aber auch überschritten wird«.
Richtige Appropriation ist letztlich jene, die die Machtverhältnisse mitdenkt und in Frage stellt, die letztlich also auf einer komplexen Macht- und Gesellschaftsanalyse basiert. Das heißt, es wird nicht nur ein Begreifen, ein richtiges (!) Begreifen, sondern auch ein Bekennen eingefordert, ein Bekenntnis zum Richtigen. Damit verlangt Balzer mehr, als 3000 Jahre Denkgeschichte bisher leisten konnten; als Voraussetzung, bevor jemand Indianer spielt, sich das Gesicht anmalt oder den falschen tune singt. Gut, daß es die Abkürzungen zu Foucault, Deleuze und Butler gibt. Eine Ethik ist das jedenfalls nicht, vielmehr eine – partiell bedenkenswerte – Apologie der »richtigen« Appropriation.
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Jens Balzer: Ethik der Appropriation, Berlin: Matthes & Seitz 2022. 87 S., 10 €
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