Ha, wie naiv. Gleich der Klappentext belehrt den Leser eines Besseren: »Der Kampf gegen CC mag sich als Speerspitze eines wehrhaften Liberalismus verstehen. In Wahrheit ist er Teil des Backlash, der die Demokratie überhaupt erst bedroht.« Verstanden! Es tut sich also ein unregelmäßiges Dreieck auf: hier die Rechten, da die Liberalen, dort die Woken / Linken. Interessanterweise lägen gemäß dieser Betrachtung die Winkel des liberalen und des illiberalen (= rechten) Punktes viel enger beieinander, als sie das vergleichsweise zum linken und woken Standpunkt tun.
Autor Adrian Daub (geboren 1980 in Köln, heute in Stanford lehrend) geht davon aus, daß die Rede über CC aus einer moralischen Panik rühre. Von »Panik« zu sprechen ist dabei ähnlich sinister und unscharf wie die Rede von (Trans‑, Xeno- etc.) Phobie. Sowenig, wie Kritiker von Zuwanderung normalerweise Furcht und Schrecken (»phob«) gegenüber Fremden empfinden, sowenig »panisch« artikulieren sich diejenigen, die eine CC anprangern.
Daub versucht nicht mal, eine solche Panik nachzuweisen. Panik ist für ihn bereits, darüber zu verhandeln. Heißt, panisch ist er selbst. Im Wortlaut: »Die Panik fängt an, wenn die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse umgedreht werden: wenn transgender Studierende, die in den Medien nie zu Wort kommen, zur ›Translobby‹ erklärt werden, während Bundestagsabgeordnete, Präsident:innen, Milliardär:innen […] als machtlose Opfer gelten; wenn aus Lappalien maximale Diagnosen abgeleitet werden; wenn angeblich neu aufziehende Gefahren aus jahrzehntealten Zwischenfällen festgemacht werden […].«
Bereits hier, auf Seite 29, möchte man den Herrn Professor rütteln und fragen: Hallo? Können Sie bitte wenigstens einmal Roß und Reiter nennen? Oder behaupten Sie nur?
Aber genau dies – letzteres – tut Daub permanent in seiner wichtigtuenden Suhrkampschrift. Nach seiner Lesart drischt die Medienelite ausgerechnet auf »die Translobby« ein – und nicht etwa auf echte Outlaws wie die AfD-Klientel.
Sein Trumpf: Die Rede über CC sei nur die Fortsetzung des Diskurses über Political Correctness – und er, Daub, hat’s gemerkt! Er zählt (x‑fach) auf, wie oft CC bejammert werde. Und wie »selektiv« und »partiell« dabei argumentiert werde! Für Daub (das ist im Ernst sein Hauptargument) sind sämtliche Beispiele für CC nur alleinstehende, unbewiesene Anekdoten. »Mikroskopisch kleine Kontexte« würden hier »aufgebläht«. De facto gibt es natürlich Hunderte Fälle allein in Deutschland, wo abweichende Stimmen »gecancelt« wurden – von der Auftrittsabsage über die Nichtnennung (beispielsweise in Bestsellerlisten) bis hin zur Job-Kündigung.
»Es gibt solche Fälle. Aber sind sie der Rede wert?« Nein, ausgestrichen, getilgt, suspendiert werde heute kaum einer. Oder nur der, der es echt verdiene. Daub »weist nach«: Es gebe in den USA ein halbes Dutzend Onlinedatenbanken, die CC dokumentierten. Aber »nur 387 Fälle« kämen in mehr als einer dieser Listen vor! Für Daub ein schlagender Beweis, daß CC ein Phantom sei.
Daub, in einer typisch neunmalklugen Sentenz: »Die Angst vor CC ist #Metoo für Menschen, die Angst vor #Metoo haben.« Und: »Ich [»ich« spielt hier eine Hauptrolle; EK] möchte dem Diskurs seine Geschichte zurückgeben.« Daub strickt sich hier seine eigene Fama als Retter der eigentlich Unterdrückten (oh, er kennt als Bruder im Geiste »Black Twitter« und die ihm innewohnende superiore Ironie in- und auswendig!) zurecht. Das sorgt für Dutzende waschechte Bullshitsätze wie diesen: »Der, der sich über Canceln beklagt, signalisiert gleichzeitig, die Rede vom Canceln werde ihm von außen aufgezwungen.«
Wie jetzt? Daub steht nicht an, solche Fragen zu beantworten. Aber er hat einen gewissen neidischen Affekt, nämlich: Im Falle von #Metoo und #Blacklivesmatter sei »jahrzehntelange Theoriearbeit geleistet« worden, um eine Verbindung vom Einzelfall zum System herzustellen. Bei der Behauptung von CC gehe es hingegen um nichts Systemisches, sondern allein um Simulation, hundertfach gepredigte Mantras, »Fabeln« und »miserable Texte«.
Apropos miserable Texte: Interessant ist auch die Sprache, in welcher der junge Professor sein Problem verhandelt. Es ist diese Mixtur aus akademischer Aufblähung (samt voraussetzungsreichem Vokabular und kruden Schwurbelsätzen), popkulturellen Bescheidwisser-Anglizismen, aus halb devotem, halb lässigem Gender-und-Minoritäten-Gehorsam und einer betonten Flapsigkeit (»rausposaunen«, »ausflippen«). Oft wird eine »coole« Mündlichkeit inszeniert, die offenbar bewußt mit der Intellektualität des Autors changieren soll.
Summa summarum bleibt es: eine Blasenwissenschaft. Dieses Buch mag in linken Echokammern ein einträgliches Wabern haben. Über diese Blase kommt es an keinem Punkt hinaus. Es ist mithin: eingepreist beschränkt. Er habe sich in seiner verblasenen »Intuition immer wieder sehr allein gefühlt«, bekennt Daub in seiner Danksagung. Immerhin sahen es – ebenfalls via Danksagung – ein paar Dutzend Leute aus der Medienelite ähnlich wie er. Die hier – wir dort: Somit bleibt irgendwie alles beim alten. Aber gut, daß wir geredet haben. Ihr da oben, in Stanford und bei Suhrkamp – und wir hier am Rande. Mehr Geschwätz war selten.
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Adrian Daub: Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfaßt, Berlin: Suhrkamp 2022. 371 S., 20€
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