Knut Kleesiek: Notizen aus der Pathologie

 Es gibt eine ganze Menge Bücher, die die deutsche Gesellschaft pathologisieren. Medizinisch-psychologische Kategorien von der »infantilen« bis zur »psychotischen«, »normopathischen« und »neurotischen« Gesellschaft liegen als Metaphern auf der Hand.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Es ist sehr ver­füh­re­risch, den Bild­emp­fän­ger­be­reich (Deutsch­land) nach den Model­len des Bild­spen­der­be­reichs (Patho­lo­gie) zu glie­dern und ihm eine saf­ti­ge Dia­gno­se zu stel­len. Beson­ders dann, wenn der Ver­fas­ser eines sol­chen Buches aus­ge­wie­se­ner Fachnaturwissen­schaftler (Klee­siek ist eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor für kli­ni­sche Che­mie und ­Pat­ho­bio­lo­gie) ist, erscheint die Dia­gno­se kaum abweisbar.

Ich will ver­su­chen, die blin­den Fle­cken die­ser Betrach­tung zu beschreiben.

Da wäre zuerst ein­mal die Aus­gangs­po­si­ti­on der »axio­ma­ti­schen Wis­sen­schaft«, der Klee­siek die kogni­tiv weni­ger anspruchs­vol­len »Sen­tenz­wis­sen­schaf­ten« (ande­re nen­nen sie »Geschwätz­wis­sen­schaf­ten«) gegen­über­stellt. Klee­siek hebt zwar ein­schrän­kend her­vor, daß es nicht voll­um­fäng­lich mög­lich ist, gesell­schaft­li­che Erschei­nun­gen rein wis­sen­schaft­lich zu ver­ste­hen, aber sein Unter­schei­dungs­ras­ter ist selbst genau­so aus­ge­legt, wie »axio­ma­ti­sche« Natur­wis­sen­schaft eigent­lich nicht vor­ge­hen darf, näm­lich poli­tisch und wertend.

Das führt ihn dazu, eine für sei­ne Gene­ra­ti­on der »Boo­mer« sehr typi­sche Inter­pre­ta­ti­on der BRD als »bol­sche­wis­tisch-mar­xis­tisch« infil­trier­te Gesell­schaft zu lie­fern: »Ein gro­ßes Reser­voir die­ser imma­nen­ten Reli­gi­on ent­steht in Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten […]. Dort wach­sen die nicht-axio­ma­ti­schen Gesell­schafts- und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten zu tumo­rö­sen Gebil­den und metasta­sie­ren über­all in die Gesell­schaft. Die Mas­se der Stu­den­ten, deren kogni­ti­ve Mög­lich­kei­ten für die MINT-Fächer nicht genü­gen, rei­chert sich hier an und bil­det eine spru­deln­de Quel­le für eine Zukunft sozia­lis­ti­scher Politik.«

In Anknüp­fung an Eric Voe­gel­ins The­se von den »poli­ti­schen Reli­gio­nen« dia­gnos­ti­ziert Knut Klee­siek Deutsch­land einen »meta­phy­si­schen Mate­ria­lis­mus«. Die­ser ver­birgt sich – soweit ist die Dia­gno­se plau­si­bel – »hin­ter einer schein­wis­sen­schaft­li­chen Nach­ah­mung moder­ner Wis­sen­schaft« (Klee­siek führt die »Schein­wis­sen­schaft­lich­keit« bei­spiels­wei­se der »Corona«-Politik durch sehr detail­lier­te sys­tem­in­ter­ne Kri­tik vor). Für nicht plau­si­bel hal­te ich aller­dings sein Ver­wer­fen »tra­dier­ter Meta­phy­sik und imma­nent-reli­giö­ser Überzeugungen«.

Man kann eine Gesell­schaft als zivil- oder pseu­do­re­li­gi­ös kri­ti­sie­ren, ent­we­der indem man Reli­gi­on und Meta­phy­sik aus der Per­spek­ti­ve der »Auf­klä­rung« für über­holt erklärt und von die­ser War­te aus dann die besag­te Gesell­schaft als »feu­dal«, »mis­sio­na­risch« und »unre­flek­tiert« usw. bezeich­net und ihr als irra­tio­na­les Motiv so etwas Mit­tel­al­ter­li­ches wie einen neu­en »Ablaß­han­del« (z. B. in CO2-Fra­gen) attestiert.

Oder aber man ver­steht den Glau­ben (und die dar­aus ableit­ba­re christ­li­che Meta­phy­sik) nicht nur als bio­lo­gi­sches Emer­genz­phä­no­men (»aller­dings ermög­licht die Funk­ti­ons­wei­se des mensch­li­chen Gehirns kei­nen Athe­is­mus«), son­dern als höchs­ten Bezugs­punkt allen Den­kens, auch des wis­sen­schaft­li­chen und tech­ni­schen Den­kens. Dann wären Pole­mi­ken in Rich­tung »Klima­religion«, »Gen­der­re­li­gi­on« und des demo­gra­phi­schen »Todes­kults« nicht statt­haft. Der Glau­be läßt sich nicht mate­ria­lis­tisch, mar­xis­tisch oder patho­biologisch fas­sen, auch nicht als sozi­al­kri­tisch gemein­ter begriff­li­cher Abklatsch.

Klee­sieks eige­ne natur­wis­sen­schaft­li­che Meta­pho­rik erzeugt bei dem­je­ni­gen Leser, der sich in die The­ma­tik des Trans­hu­ma­nis­mus ein wenig ein­ge­le­sen hat, leich­tes Befrem­den. »Dazu gehört eines [ein Funk­ti­ons­pro­gramm im Gehirn; C S), das als unab­ding­ba­res Betriebs­sys­tem bei der Mensch­wer­dung ent­stan­den und für das ethi­sche, mora­li­sche und reli­giö­se Bewußt­sein eines Men­schen maß­geb­lich gewor­den ist. Befrei­en kann sich der Mensch davon nicht. Jedoch ist die Pro­gram­mie­rung sehr indi­vi­du­ell und tritt als Mosa­ik ver­schie­de­ner Welt­an­schau­un­gen ins Bewußtsein.«

Bei der demo­gra­phisch-phy­si­schen Volks­tod­fest­stel­lung nicht ste­hen­zu­blei­ben, son­dern als Todes­ur­sa­che »feh­len­den Über­le­bens­wil­len als psych­ia­tri­sche Grund­er­kran­kung der Popu­la­ti­on« zu dia­gnos­ti­zie­ren, über­schrei­tet den von Klee­siek in sei­ner »mar­xis­ti­schen« Form ver­wor­fe­nen Mate­ria­lis­mus kei­nen Fußbreit.

Wenn er an einer Stel­le von den »Sen­tenz­wis­sen­schaf­ten« for­dert, eine mini­ma­le Grund­re­gel aus den axio­ma­ti­schen Wis­sen­schaf­ten zu befol­gen, näm­lich hin­ter ver­schie­de­nen sym­pto­ma­ti­schen Merk­ma­len »ein ursäch­li­ches Sys­tem zu erken­nen, das glei­che Gesetz­mä­ßig­kei­ten offen­bart«, dann wet­te ich mit ihm, daß er damit kei­nes­wegs das gemeint hat, was ich als »Sym­pto­ma­to­lo­ge« (­Rudolf Stei­ner) dar­aus ent­wick­le: einen Anlaß für den Leser, von die­sem Punkt aus geis­tes­wis­sen­schaft­lich nach den all­ge­mei­nen Geset­zen des mate­ria­lis­ti­schen Den­kens zu for­schen und zeit­ge­schicht­li­che Phä­no­me­ne (Migra­ti­on, Kli­ma, Viren­theo­rie, Glo­ba­lis­mus, Digi­ta­li­sie­rung, Trans­hu­ma­nis­mus etc.) end­lich neu auf­zu­fas­sen. Die Patho­lo­gie beschäf­tigt sich mit bereits Totem; es käme dar­auf an, das wahr­haft Leben­di­ge dahin­ter zu ver­ste­hen. Sen­tenz­wis­sen­schaft? Aber ja!

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Knut Klee­siek: Noti­zen aus der Patho­lo­gie. Das impe­ri­al-sui­zi­da­le Syn­drom der Deut­schen, Lüding­hau­sen: Manu­scrip­tum 2022. 368 S., 26 €

 

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Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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