Es ist sehr verführerisch, den Bildempfängerbereich (Deutschland) nach den Modellen des Bildspenderbereichs (Pathologie) zu gliedern und ihm eine saftige Diagnose zu stellen. Besonders dann, wenn der Verfasser eines solchen Buches ausgewiesener Fachnaturwissenschaftler (Kleesiek ist emeritierter Professor für klinische Chemie und Pathobiologie) ist, erscheint die Diagnose kaum abweisbar.
Ich will versuchen, die blinden Flecken dieser Betrachtung zu beschreiben.
Da wäre zuerst einmal die Ausgangsposition der »axiomatischen Wissenschaft«, der Kleesiek die kognitiv weniger anspruchsvollen »Sentenzwissenschaften« (andere nennen sie »Geschwätzwissenschaften«) gegenüberstellt. Kleesiek hebt zwar einschränkend hervor, daß es nicht vollumfänglich möglich ist, gesellschaftliche Erscheinungen rein wissenschaftlich zu verstehen, aber sein Unterscheidungsraster ist selbst genauso ausgelegt, wie »axiomatische« Naturwissenschaft eigentlich nicht vorgehen darf, nämlich politisch und wertend.
Das führt ihn dazu, eine für seine Generation der »Boomer« sehr typische Interpretation der BRD als »bolschewistisch-marxistisch« infiltrierte Gesellschaft zu liefern: »Ein großes Reservoir dieser immanenten Religion entsteht in Schulen und Universitäten […]. Dort wachsen die nicht-axiomatischen Gesellschafts- und Kulturwissenschaften zu tumorösen Gebilden und metastasieren überall in die Gesellschaft. Die Masse der Studenten, deren kognitive Möglichkeiten für die MINT-Fächer nicht genügen, reichert sich hier an und bildet eine sprudelnde Quelle für eine Zukunft sozialistischer Politik.«
In Anknüpfung an Eric Voegelins These von den »politischen Religionen« diagnostiziert Knut Kleesiek Deutschland einen »metaphysischen Materialismus«. Dieser verbirgt sich – soweit ist die Diagnose plausibel – »hinter einer scheinwissenschaftlichen Nachahmung moderner Wissenschaft« (Kleesiek führt die »Scheinwissenschaftlichkeit« beispielsweise der »Corona«-Politik durch sehr detaillierte systeminterne Kritik vor). Für nicht plausibel halte ich allerdings sein Verwerfen »tradierter Metaphysik und immanent-religiöser Überzeugungen«.
Man kann eine Gesellschaft als zivil- oder pseudoreligiös kritisieren, entweder indem man Religion und Metaphysik aus der Perspektive der »Aufklärung« für überholt erklärt und von dieser Warte aus dann die besagte Gesellschaft als »feudal«, »missionarisch« und »unreflektiert« usw. bezeichnet und ihr als irrationales Motiv so etwas Mittelalterliches wie einen neuen »Ablaßhandel« (z. B. in CO2-Fragen) attestiert.
Oder aber man versteht den Glauben (und die daraus ableitbare christliche Metaphysik) nicht nur als biologisches Emergenzphänomen (»allerdings ermöglicht die Funktionsweise des menschlichen Gehirns keinen Atheismus«), sondern als höchsten Bezugspunkt allen Denkens, auch des wissenschaftlichen und technischen Denkens. Dann wären Polemiken in Richtung »Klimareligion«, »Genderreligion« und des demographischen »Todeskults« nicht statthaft. Der Glaube läßt sich nicht materialistisch, marxistisch oder pathobiologisch fassen, auch nicht als sozialkritisch gemeinter begrifflicher Abklatsch.
Kleesieks eigene naturwissenschaftliche Metaphorik erzeugt bei demjenigen Leser, der sich in die Thematik des Transhumanismus ein wenig eingelesen hat, leichtes Befremden. »Dazu gehört eines [ein Funktionsprogramm im Gehirn; C S), das als unabdingbares Betriebssystem bei der Menschwerdung entstanden und für das ethische, moralische und religiöse Bewußtsein eines Menschen maßgeblich geworden ist. Befreien kann sich der Mensch davon nicht. Jedoch ist die Programmierung sehr individuell und tritt als Mosaik verschiedener Weltanschauungen ins Bewußtsein.«
Bei der demographisch-physischen Volkstodfeststellung nicht stehenzubleiben, sondern als Todesursache »fehlenden Überlebenswillen als psychiatrische Grunderkrankung der Population« zu diagnostizieren, überschreitet den von Kleesiek in seiner »marxistischen« Form verworfenen Materialismus keinen Fußbreit.
Wenn er an einer Stelle von den »Sentenzwissenschaften« fordert, eine minimale Grundregel aus den axiomatischen Wissenschaften zu befolgen, nämlich hinter verschiedenen symptomatischen Merkmalen »ein ursächliches System zu erkennen, das gleiche Gesetzmäßigkeiten offenbart«, dann wette ich mit ihm, daß er damit keineswegs das gemeint hat, was ich als »Symptomatologe« (Rudolf Steiner) daraus entwickle: einen Anlaß für den Leser, von diesem Punkt aus geisteswissenschaftlich nach den allgemeinen Gesetzen des materialistischen Denkens zu forschen und zeitgeschichtliche Phänomene (Migration, Klima, Virentheorie, Globalismus, Digitalisierung, Transhumanismus etc.) endlich neu aufzufassen. Die Pathologie beschäftigt sich mit bereits Totem; es käme darauf an, das wahrhaft Lebendige dahinter zu verstehen. Sentenzwissenschaft? Aber ja!
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Knut Kleesiek: Notizen aus der Pathologie. Das imperial-suizidale Syndrom der Deutschen, Lüdinghausen: Manuscriptum 2022. 368 S., 26 €
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