Die immerhin fast zehn Jahre umfassende Lücke, die dazwischen liegt, ist der Tatsache geschuldet, daß sich die deutsche Ausgabe der Tagebücher auf eine Auswahl beschränkt. Angesichts der 18 Bände umfassenden Originalausgabe – Prischwin führte fast 50 Jahre lang Tagebuch – eine nachvollziehbare Entscheidung, ohne die dieses äußerst wichtige Dokument der russischen Geschichte vermutlich unübersetzt geblieben wäre.
Prischwin (1874 – 1953) ist hierzulande nicht bekannt genug, um solch ein wirtschaftliches Risiko einzugehen. Er hatte zwar in der DDR einen festen Platz als sowjetischer Autor, der vor allem für seine Tier- und Naturgeschichten bekannt war, allerdings offenbaren die Tagebücher einen bislang völlig unbekannten Prischwin.
Dieser hatte in der Revolutionszeit, als einige seiner Freunde erschossen wurden, verstanden, daß seine offenherzigen Tagebücher in den Händen der Geheimpolizei ein Todesurteil zur Folge haben konnten. Daher versteckte er die Hefte sein Leben lang, seine Angehörigen sorgten dafür, daß es auch nach seinem Tod so blieb. Publiziert wurden sie erst nach dem Ende der Sowjetunion; der erste Band der russischen Ausgabe erschien 1991, der letzte 2018.
Ist der erste Band der deutschen Übersetzung von den Revolutionswirren, dem Elend, der Unsicherheit und dem unsteten Umherirren, dem provisorischen Einrichten auf Zeit geprägt, sind die Jahre des zweiten Bandes durch eine gewisse Normalisierung der Verhältnisse gekennzeichnet, wobei sich »normal« nur darauf bezieht, daß man nicht täglich Angst um sein Leben haben mußte und wieder eine dauerhafte Bleibe beziehen konnte.
1926 organisiert Prischwin für sich und seine Familie ein kleines Holzhaus in Sergijew Possad, einer kleinen Stadt, fünfzig Kilometer nordöstlich von Moskau, die vor der Revolution ein Zentrum der Orthodoxie war (und heute wieder ist). Da sich Prischwin als Schriftsteller etabliert hat, pendelt er regelmäßig nach Moskau, um dort Termine bei verschiedenen Publikationsorganen und Vereinigungen wahrzunehmen. Kennzeichnend für diese Etablierung ist der regelmäßige Austausch mit Maxim Gorki, der sich seit seiner Rückkehr in die Sowjetunion ganz in den Dienst Stalins gestellt hat. Prischwin läßt sich von ihm fördern, u. a. schreibt Gorki ein Vorwort für eine Werkausgabe Prischwins.
Im Gegensatz zu dieser öffentlichen Anpassung an die Verhältnisse hält Prischwin im Tagebuch nicht nur die durch die Kollektivierung der Landwirtschaft ausgelöste Hungersnot (von der er als passionierter Jäger weniger als der Durchschnitt betroffen ist), die ständigen Stromausfälle und den Mangel an den einfachsten Gegenständen (es gibt keinen Eimer zu kaufen) fest, sondern auch seine Meinung zu Gorki.
Dieser kommt im Tagebuch außerordentlich oft vor, und Prischwin macht ihm nicht nur seine Nähe zur Macht zum Vorwurf, sondern auch seine Bemühungen, diese pragmatische Entscheidung als eine moralische darzustellen. Die von Prischwin anerkannte Größe Gorkis macht dessen Anpassung nur noch schlimmer. Prischwin konstatiert die »Macht des Kroppzeugs«, die »Lebenskalkulation nur auf kurze Zeit«, die sich in Gorki ein Vorbild nehmen kann, weil er sich unter Wert verkauft hat.
Am Anfang des Jahres 1930 steht die Zerstörung der Glocken des Dreifaltigkeitsklosters in Sergijew Possad, die Prischwin nicht nur im Tagebuch festhält, sondern auch fotografisch dokumentiert. Aus dem ausgezeichneten Nachwort der Übersetzerin erfährt man, daß diese Fotografien aufgrund ihrer Qualität (Prischwin war auch ein hervorragender Fotograf) bei der Rekonstruktion der Glocken nach dem Ende des Kommunismus als Vorlage dienten.
Im Dezember 1931 berichtet Prischwin von der Sprengung der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, die nur einen Haufen Steine und den Umriß des Gebäudes umkreisende Vögel zurückläßt, die noch immer hoffen, »ihr eingesessener Ort zeige sich wieder«. Prischwin sieht, daß die alte Welt verschwindet, ohne daß ihr jemand nachtrauert: »Jetzt ist die Vergangenheit einfach vergangen, das neue Land ist bereits aufgekeimt und wächst.« Allerdings »ändert sich die Welt nicht im Namen der Liebe und der zu erfüllenden Sohnespflicht, sondern durch den Verrat an dem, was man einst liebte«. Das Leben geht weiter, auch im Bolschewismus, auch für Prischwin, der auf interessante Buchaufträge hofft.
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Michail Prischwin: Tagebücher. Band II 1930 – 1932. Aus dem Russischen, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Eveline Passet. Mit einem Essay von Ulrich Schmid, Berlin: Guggolz Verlag 2022. 507 S., 34 €
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