Michail Prischwin: Tagebücher. Band II 1930 – 1932.

Nachdem der erste Band der Tagebücher des russischen Schriftstellers die Jahre der bolschewistischen Revolution und des Bürgerkriegs (1917 bis 1920) umfaßte (Sezession 96), enthält der zweite Band die Eindrücke Prischwins aus der frühen Stalinzeit.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Die immer­hin fast zehn Jah­re umfas­sen­de Lücke, die dazwi­schen liegt, ist der Tat­sa­che geschul­det, daß sich die deut­sche Aus­ga­be der Tage­bü­cher auf eine Aus­wahl beschränkt. Ange­sichts der 18 Bän­de umfas­sen­den Ori­gi­nal­aus­ga­be – ­Prischwin führ­te fast 50 Jah­re lang Tage­buch – eine nach­voll­zieh­ba­re Ent­schei­dung, ohne die die­ses äußerst wich­ti­ge Doku­ment der rus­si­schen Geschich­te ver­mut­lich unüber­setzt geblie­ben wäre.

Prischwin (1874 – 1953) ist hier­zu­lan­de nicht bekannt genug, um solch ein wirt­schaft­li­ches Risi­ko ein­zu­ge­hen. Er hat­te zwar in der DDR einen fes­ten Platz als sowje­ti­scher Autor, der vor allem für sei­ne Tier- und Natur­ge­schich­ten bekannt war, aller­dings offen­ba­ren die Tage­bü­cher einen bis­lang völ­lig unbe­kann­ten Prischwin.

Die­ser hat­te in der Revo­lu­ti­ons­zeit, als eini­ge sei­ner Freun­de erschos­sen wur­den, ver­stan­den, daß sei­ne offen­her­zi­gen Tage­bü­cher in den Hän­den der Geheim­po­li­zei ein Todes­ur­teil zur Fol­ge haben konn­ten. Daher ver­steck­te er die Hef­te sein Leben lang, sei­ne Ange­hö­ri­gen sorg­ten dafür, daß es auch nach sei­nem Tod so blieb. Publi­ziert wur­den sie erst nach dem Ende der Sowjet­uni­on; der ers­te Band der rus­si­schen Aus­ga­be erschien 1991, der letz­te 2018.

Ist der ers­te Band der deut­schen Über­set­zung von den Revo­lu­ti­ons­wir­ren, dem Elend, der Unsi­cher­heit und dem unste­ten Umher­ir­ren, dem pro­vi­so­ri­schen Ein­rich­ten auf Zeit geprägt, sind die Jah­re des zwei­ten Ban­des durch eine gewis­se Nor­ma­li­sie­rung der Ver­hält­nis­se gekenn­zeich­net, wobei sich »nor­mal« nur dar­auf bezieht, daß man nicht täg­lich Angst um sein Leben haben muß­te und wie­der eine dau­er­haf­te Blei­be bezie­hen konnte.

1926 orga­ni­siert Prischwin für sich und sei­ne Fami­lie ein klei­nes Holz­haus in Ser­gi­jew ­Pos­sad, einer klei­nen Stadt, fünf­zig Kilo­me­ter nord­öst­lich von Mos­kau, die vor der Revo­lu­ti­on ein Zen­trum der Ortho­do­xie war (und heu­te wie­der ist). Da sich Prischwin als Schrift­stel­ler eta­bliert hat, pen­delt er regel­mä­ßig nach Mos­kau, um dort Ter­mi­ne bei ver­schie­de­nen Publi­ka­ti­ons­or­ga­nen und Ver­ei­ni­gun­gen wahr­zu­neh­men. Kenn­zeich­nend für die­se Eta­blie­rung ist der regel­mä­ßi­ge Aus­tausch mit Maxim Gor­ki, der sich seit sei­ner Rück­kehr in die Sowjet­uni­on ganz in den Dienst Sta­lins gestellt hat. Prischwin läßt sich von ihm för­dern, u. a. schreibt Gor­ki ein Vor­wort für eine Werk­aus­ga­be Prischwins.

Im Gegen­satz zu die­ser öffent­li­chen Anpas­sung an die Ver­hält­nis­se hält Prischwin im Tage­buch nicht nur die durch die Kol­lek­ti­vie­rung der Land­wirt­schaft aus­ge­lös­te Hun­gers­not (von der er als pas­sio­nier­ter Jäger weni­ger als der Durch­schnitt betrof­fen ist), die stän­di­gen Strom­aus­fäl­le und den Man­gel an den ein­fachs­ten Gegen­stän­den (es gibt kei­nen Eimer zu kau­fen) fest, son­dern auch sei­ne Mei­nung zu Gorki.

Die­ser kommt im Tage­buch außer­or­dent­lich oft vor, und Prischwin macht ihm nicht nur sei­ne Nähe zur Macht zum Vor­wurf, son­dern auch sei­ne Bemü­hun­gen, die­se prag­ma­ti­sche Ent­schei­dung als eine mora­li­sche dar­zu­stel­len. Die von Prischwin aner­kann­te Grö­ße Gor­kis macht des­sen Anpas­sung nur noch schlim­mer. Prischwin kon­sta­tiert die »Macht des Kropp­zeugs«, die »Lebens­kal­ku­la­ti­on nur auf kur­ze Zeit«, die sich in Gor­ki ein Vor­bild neh­men kann, weil er sich unter Wert ver­kauft hat.

Am Anfang des Jah­res 1930 steht die Zer­stö­rung der Glo­cken des Drei­fal­tig­keits­klos­ters in Ser­gi­jew ­Pos­sad, die Prischwin nicht nur im Tage­buch fest­hält, son­dern auch foto­gra­fisch doku­men­tiert. Aus dem aus­ge­zeich­ne­ten Nach­wort der Über­set­ze­rin erfährt man, daß die­se Foto­gra­fien auf­grund ihrer Qua­li­tät (Prischwin war auch ein her­vor­ra­gen­der Foto­graf) bei der Rekon­struk­ti­on der Glo­cken nach dem Ende des Kom­mu­nis­mus als Vor­la­ge dienten.

Im Dezem­ber 1931 berich­tet ­Prischwin von der Spren­gung der Christ-Erlö­ser-Kathe­dra­le in Mos­kau, die nur einen Hau­fen Stei­ne und den Umriß des Gebäu­des umkrei­sen­de Vögel zurück­läßt, die noch immer hof­fen, »ihr ein­ge­ses­se­ner Ort zei­ge sich wie­der«. Prisch­win sieht, daß die alte Welt ver­schwin­det, ohne daß ihr jemand nach­trau­ert: »Jetzt ist die Ver­gan­gen­heit ein­fach ver­gan­gen, das neue Land ist bereits auf­ge­keimt und wächst.« Aller­dings »ändert sich die Welt nicht im Namen der Lie­be und der zu erfül­len­den Soh­nes­pflicht, son­dern durch den Ver­rat an dem, was man einst lieb­te«. Das Leben geht wei­ter, auch im Bol­sche­wis­mus, auch für Prischwin, der auf inter­es­san­te Buch­auf­trä­ge hofft.

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Michail Prischwin: Tage­bü­cher. Band II 19301932. Aus dem Rus­si­schen, her­aus­ge­ge­ben, kom­men­tiert und mit einem Nach­wort von Eve­li­ne Pas­set. Mit einem Essay von ­ Ulrich Schmid, Ber­lin: Gug­golz Ver­lag 2022. 507 S., 34 €

 

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Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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