In die internationalen Schlagzeilen der »Tagesschau« schafft es der südostasiatische Inselstaat dann, wenn ein Vulkan auf der Insel Java ausbricht, ein Tsunami für 130 000 Tote sorgt (2004) oder wenn für westliche Bürger irritierende Nachrichten zu vermelden sind: So ist seit Dezember 2022 Sex außerhalb der Ehe per Gesetz verboten und kann mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden. Aber ansonsten?
Allenfalls ist noch bekannt, daß Indonesien mit seinen fast 290 Millionen Menschen auf Platz vier des weltweiten Einwohnerrankings steht. Das Land ist dabei nicht nur der größte Inselstaat überhaupt, sondern beherbergt auch die meisten Muslime (230 Millionen). So weit: die gängigen Fakten.
David Van Reybrouck, den deutschen Lesern durch sein Plädoyer Für einen anderen Populismus (Göttingen 2017; vgl. Sezession 80) oder auch seine monumentale Kongo-Geschichte (Berlin 2012) bekannt, fügt diesen knappen hard facts nun einen Berg von historischen, ethnokulturellen, wirtschaftlichen und politischen Informationen zu, die einen je nach Kapitel erschlagen oder begeistern, manchmal auch beides.
Revolusi ist nicht nur eine umfassende Geschichte der ehemaligen Kolonie der Niederlande (Präsenz: 1605 bis 1950) mit Schwerpunkten auf dem Zweiten Weltkrieg und der japanischen Besetzung, dem Unabhängigkeitskampf und der blutigen Nationswerdung – es ist zugleich ein beeindruckender Streifzug durch die konfliktreiche Weltpolitik mit natürlichem Fokus auf dem asiatischen Erdteil.
Van Reybrouck ist ein ausgesprochen moderner Historiker, der das klassische Handwerk ebenso famos beherrscht. Er schreibt Geschichte anhand überlieferter Ereignisse, epochemachender Zäsuren und politischer sowie ökonomischer Prozesse, webt aber Zeitzeugenstimmen ein, und zwar überwiegend ohne größere störende Eigenbewertungen seinerseits. Oral History heißt hierbei für vorliegende Studie: Der Autor läßt, wohldosiert und für den Spannungsbogen bestens plaziert, Dutzende Stimmen zu Wort kommen, die alle Lager abdecken.
Er spricht mit ehemaligen niederländischen Kolonialsoldaten, die das Aufgeben Indonesiens durch die Regierung in Den Haag 1949 / 50 noch heute als Verrat begreifen, aber auch mit solchen, die aus dem königlichen Heer desertierten, weil sie nicht länger in Jakarta oder im Dschungel erbarmungslose Jagd auf Nationalisten, Islamisten und Kommunisten – die drei wichtigsten ideologischen Bewegungen Indonesiens – und ihre zivilen Unterstützer im einfachen Volk machen wollten.
Er läßt Indonesier zu Wort kommen, die kein Indonesisch beherrschen, weil sie einem widerständigen Minderheitsvolk angehören, aber auch solche, deren Familien im Unabhängigkeitskampf einen gewaltigen Blutzoll über mehrere Generationen hinweg bezahlen mußten.
Er tauscht sich des weiteren aus mit niederländischen Indonesiern, indonesischen Niederländern, ehemaligen japanischen Besatzungssoldaten und nicht zuletzt mit unmittelbaren Nachfahren jener Revolusi-Väter, die zwei internationale Konflikte – Weltkrieg und Kalten Krieg – so opferreich wie geduldig nutzten, um ihre eigene nationale Geschichte zu schreiben.
David Van Reybrouck spart auch die zahllosen Verbrechen aller Konfliktparteien nicht aus, wobei er insbesondere die unmittelbare Verstrickung der niederländischen Politik jener Zeiten herausarbeitet und genozidale Akte dem Leser en détail darstellt. Trotz einiger Volten: Im Werk als Ganzem überwiegt nicht die moralpolitische Anklage, sondern eine erzählerisch glänzende, politisch-historisch tiefschürfende Wissensvermittlung.
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David Van Reybrouck: Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt, Berlin: Suhrkamp 2022. 752 S., 34 €
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