Vilfredo Pareto (1848 – 1923) hat den Rang eines Klassikers sowohl in der Nationalökonomie als auch in der Soziologie inne. Wie es bei Klassikern oft der Fall ist, wird auch Pareto häufig erwähnt, aber selten gelesen.
In den Lehrbüchern zur Geschichte der Soziologie wird er pflichtschuldig abgehandelt, aber die deutsche Übersetzung seines Hauptwerks Trattato di sociologia generale, die sich ohnehin nur auf die wichtigsten Kapitel beschränkte, ist seit Jahrzehnten vergriffen. Nur eine Sammlung ausgewählter Aufsätze ist aktuell in Deutschland erhältlich. Die verdienstvollen Bemühungen Gottfried Eisermanns in den 1960er Jahren, Pareto auch hierzulande bekannter zu machen, verliefen im Sande.
Pareto ist bis heute durch einen seiner vielen Beiträge zur Nutzentheorie populär – die sogenannte 80 : 20-Regel (Paretoprinzip). Beispiel: Beim Aufräumen eines zugemüllten Zimmers hat man mit 20 Prozent des Gesamtaufwandes bereits zu 80 Prozent Ordnung geschaffen; um die restlichen Dinge sinnvoll zu verstauen, wird ein immer größerer Aufwand erforderlich.
Die Grundannahmen der Nutzentheorie haben auch die späteren soziologischen Arbeiten Paretos geprägt. Um das Handeln von Menschen zu analysieren, darf man nicht von einem abstrakt konstruierten Homo oeconomicus ausgehen, der sich auf dem Markt nur am Verhältnis von Angebot und Nachfrage orientiert, sondern muß die tatsächlich stattfindenden Handlungen beobachten und deren Motivationen zu verstehen versuchen. Der Begriff des Nutzens leitet selbst schon von der Ökonomie zur Soziologie über; er ist keine rationale Größe, da der »Nutzen« vom Kontext abhängig ist.
Blickt man auf Paretos geistiges Porträt, so treten Licht- und Schattenseiten in scharfem Kontrast hervor. Er war zwanzig Jahre lang Ingenieur und daher in besonderem Maße vom positivistischen Geist seiner Epoche geprägt. Die Naturwissenschaften waren sein Vorbild, weshalb er auch immer daran festhielt, deren Erkenntnismodell auf die Sozialwissenschaften zu übertragen.
Als Positivist glaubte er, man könne eine objektive Wahrheit entdecken, wenn man nur die Vorurteile der herrschenden Lehre und die eigene Voreingenommenheit abstreife. Aber genau dieser Glaube führte ihn über den Positivismus hinaus, da er ihn dazu veranlaßte, die Wahrheitssuche bis zur äußersten Konsequenz voranzutreiben. Er fand nämlich heraus, daß menschliches Handeln weitaus weniger von der Vernunft bestimmt sei, als die Wissenschaft behaupte.
Jeder Zeile seines Werkes merkt man das Erstaunen und manchmal auch die Empörung darüber an, daß es auf der Welt nicht so vernünftig zugeht, wie es eigentlich sein sollte. Diese Einsicht hatte zwei Folgen: Sie verhalf ihm einerseits zu einer illusionslosen, wertfreien Weltsicht, die es ihm ermöglichte, die den sozialen Phänomenen zugrundeliegenden Motivationen interpretativ freizulegen. Diese Deutungskunst macht Paretos Stärke aus.
Andererseits versuchte er dem mannigfaltigen Chaos nichtrationaler Handlungen eine rational analysierbare Ordnung in Form eines Systems abzugewinnen. Mit diesem Ansatz fiel er aber hinter den Positivismus zurück und zwar in eine barocke Taxonomie mit konfusen Klassifikationen und abstrusen Deduktionen.
Pareto gelangte nicht dank, sondern trotz seiner Theorie zu seinen bahnbrechenden Einsichten in die Funktionsweise sozialer Prozesse. Paretos soziologisches System ist gewissermaßen die Derivation seiner intuitiv gewonnenen Erkenntnisse. Die Schwäche von Paretos Systemkonstruktion zeigt sich bereits in einem ihrer zentralen Bestandteile: der Definition der Residuen. Dieser wurde selbst von den wohlwollendsten Interpreten mangelnde Konsistenz vorgeworfen. Residuen sind idealtypische Motivationskomplexe, von Pareto oft einfach nur Instinkte genannt. Soziales Handeln deutet Pareto, indem er es auf die ihm zugrundeliegenden Residuen zurückführt. Allgemeine Bekanntheit erlangten nur die beiden ersten Residuen aus einer Gruppe von insgesamt sechs.
Relativ präzise ist der Inhalt des »Instinkts der Kombinationen«: Dieser umfaßt eine progressive Einstellung, die Suche nach Neuem, Wagemut, den Gebrauch von List und Überredung im Umgang mit Menschen und von Phantasie in schöpferischer Arbeit. Diese mentale Disposition verkörpert sich in den Idealtypen des Spekulanten im Ökonomischen und des Fuchses im Politischen. Dieses Residuum tritt in hochzivilisierten Epochen in den Vordergrund. Ist dieser Typus zur Führung gelangt, herrscht er durch Konsens.
Die zweite Kategorie trägt den Titel: »Persistenz der Aggregate«. Sie wird verkörpert durch die Typen des Rentners und des Löwen. Der Rentner lebt von seinen Ersparnissen, Pfründen, Privilegien oder sonstigen festen Bezügen und ist darum Veränderungen abgeneigt; er ist passiv und ängstlich. Der Löwe zieht sein Selbstbewußtsein aus seiner Stärke und Aggressivität; er herrscht durch Gewalt.
Die mentalen Dispositionen beider Typen schließen einander allerdings aus: Man kann nicht gleichzeitig passiv und aggressiv sein, mit Gewalt die Macht ergreifen und sich vor Veränderungen fürchten.
Trotz dieses Mangels an definitorischer Präzision tritt hier allerdings auch Paretos Genialität zutage, da er mit der Unterscheidung dieser beiden Typen diejenige von Daniel Goodhart zwischen den »Somewheres« und den »Anywheres« beinahe wörtlich vorweggenommen hat: »In der ersten Kategorie befinden sich die ›Verwurzelten‹, in der zweiten die ›Entwurzelten‹.«
Bleibende Bedeutung erlangte Pareto durch seine Elitentheorie, deren Eigenheit vor allem in der Analyse der Elitenzirkulation besteht. Die Idee der Elitenzirkulation ergibt sich zwingend aus Paretos theoretischen Grundannahmen:
1. Überwiegend bestimmen Instinkte das Handeln;
2. Jede abgrenzbare Großgruppe, also auch die herrschende Klasse, setzt sich aus Menschen gleichartiger Instinktkonstitution zusammen;
3. Da die Instinktkonstitution und damit auch der Menschentypus der herrschenden Klasse sich nicht verändern können, kann die herrschende Klasse sich nur verändern, wenn der bislang dominierende Menschentypus durch einen anderen ersetzt wird.
Am Anfang jedes neuen Zyklus steht die Gewalt. Eine Gruppe aggressiver Menschen (Residuum der »Persistenz der Aggregate«) hat durch Eroberung oder Revolution die Macht ergriffen. Herrschaft kann aber nicht dauerhaft durch Anwendung nackter Gewalt aufrechterhalten werden. Sie muß sich legitimieren, auf der Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen aufbauen. Zugleich beginnt durch inneren Frieden und Rechtssicherheit die Wirtschaft zu florieren.
Diese beiden Entwicklungen, Konsensherstellung und Wirtschaftswachstum, begünstigen den Aufstieg eines Menschentypus, der sich nicht durch Aggressivität, sondern durch Intelligenz (Residuum des »Instinkts der Kombinationen«) auszeichnet. Diskurs- und Güterproduktionen gewinnen an Bedeutung und damit auch der diese Tätigkeiten ausübende Menschentypus. Dieser steigt also in die Oberschicht auf, ist aber noch von der eigentlichen, der politischen Herrschaft ausgeschlossen. Es existieren somit in der Oberschicht zwei verschiedene Fraktionen: eine dominante (die Etablierten, die durch das Schwert herrschen) und eine dominierte (die Aufsteiger, deren Macht auf ihrer Geisteskraft oder ihrem Reichtum beruht).
Jetzt entscheidet es sich, ob die weitere Entwicklung friedlich oder gewaltsam verläuft. Friedlich vollzieht sie sich, wenn einzelne, besonders unfähige Angehörige der dominanten Fraktion ausscheiden und in den freigewordenen Platz durch Kooptation Angehörige der dominierten Fraktion einrücken. Zur Revolution kommt es, wenn die dominante Fraktion sich komplett abschließt, und vor allem dann, wenn sie der Lage mit Zuckerbrot und Peitsche Herr zu werden versucht.
In dieser Phase macht sich die dominierte Fraktion zum Sprachrohr der beherrschten, unteren Schichten. Sie benutzt die Aggressivität, den Zorn und die zahlenmäßige Stärke der unteren Klassen als Instrument, um selbst zur Herrschaft zu gelangen. Hat sie dieses Ziel erreicht, so wird das Bündnis aufgekündigt und der Mohr, der seine Schuldigkeit getan hat, mit einigen Geschenken und Phrasen besänftigt. Niemals gelangen die unteren Schichten als solche an die Macht, sondern immer nur derjenige kleine Teil, deren Elite, der bereits in die Oberschicht aufgestiegen ist.
Der eigentliche Klassenkampf ereignet sich stets nur in der Auseinandersetzung zwischen der dominanten und der dominierten Fraktion innerhalb der herrschenden Klasse.
Pareto wurde in seinem letzten Lebensjahr von Mussolini hofiert, was ihn dem Verdacht aussetzte, mit dem Faschismus zu sympathisieren. Aber: Pareto ist weder rechts noch links, sondern ein zynisch gewordener, unbestechlicher Analytiker der Gesellschaft.
Er scheint links zu sein, weil er schonungslos die Machenschaften der herrschenden Klassen und deren Ausbeutung des Volkes aufdeckt.
Er scheint rechts zu sein, weil er die Schwäche der hyperzivilisierten Dekadenten verachtet, die vor jedem Gewaltgebrauch zurückschrecken, und weil er die humanistische Heuchelei verspottet.
Niekisch
Besten Dank für diesen Beitrag. Es lohnt, sich mit den Leuten zwischen "rechts" und "links" zu beschäftigen. Wenn Vilfredo Pareto der " Karl Marx der Bourgeoisie" war, so war Ernst Niekisch der " Vilfredo Pareto der deutschen Politik".
"...er mit der Unterscheidung dieser beiden Typen diejenige von Daniel Goodhart zwischen den »Somewheres« und den »Anywheres« beinahe wörtlich vorweggenommen hat"
"Er fand nämlich heraus, daß menschliches Handeln weitaus weniger von der Vernunft bestimmt sei, als die Wissenschaft behaupte."
Damit nahm er die modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse u.a. des Psychiaters und computationalen Neurowissenschaftlers Philipp Sterzer ( Die Illusion der Vernunft, Ullstein 2022 ) vorweg, wonach wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten, weil sie aus eigengefilterter "Realität" entstehen.
Mongardini, Carlo, Herausgeber, Vilfredo Pareto, Ausgewählte Schriften, Ullstein Tb 1975, 487 S., kann ich nur empfehlen. Es weitet den Blick.