»Wer ist eigentlich Norbert Bolz?« Diese Frage stellten sich 1982 die Leser des Bochumer Philosophen Bernard Willms, der seinen legendären Essay »Antaios – oder die Lage der Philosophie ist die Lage der Nation« in einem von Bolz herausgegebenen Sammelband mit dem hintergründigen Titel Wer hat Angst vor der Philosophie? erscheinen ließ. (1)
In diesem Aufsatz, einer Art Essenz seines im selben Jahr in der Edition Maschke erschienenen Hauptwerkes Die Deutsche Nation, rechnete Willms – unter Berufung auf »eine deutsche Gegenaufklärung, die von Herder bis Gehlen reicht« – mit »der Timidität der beamteten Philosophie« und den »Musterschüler[n] der ›Reeducation‹« ab und wagte den Versuch einer Neubestimmung der deutschen Philosophie.
In seiner Einleitung zu dem Sammelband entlarvte Bolz den »Universalitätsanspruch der Sozialwissenschaften [als] Mythos« und bescheinigte Willms, sein Beitrag stelle den »Bruch eines mächtigen Tabus in der Bundesrepublik« dar. Bolz’ eigener Aufsatz, »Das innere Ausland der Philosophie«, fiel durch eine profunde Hegelexegese auf, die er mit laufenden Bezugnahmen auf die Schriften Carl Schmitts zu kombinieren wußte, was damals noch von vielen als Sakrileg aufgefaßt wurde.
Außerdem bestachen bei Bolz – für einen 29jährigen wissenschaftlichen Mitarbeiter an der »Freien« Universität Berlin, der noch etwas werden wollte – erstaunliche Respektlosigkeiten gegenüber Jürgen Habermas, den eine philosophisch bedürfnislose Hamburger Wochenzeitung später allen Ernstes zum »Hegel der Bundesrepublik« küren sollte. (2)
Bolz, am 17. April 1953 in Ludwigshafen / Rhein als Sohn eines Chemikanten geboren, war nach dem Studium von Philosophie, Germanistik, Anglistik und Religionswissenschaft in Mannheim, Heidelberg und Berlin 1976 mit einer Arbeit über Adorno promoviert worden. Diese stand noch ganz im Banne der Frankfurter Schule. In der Habilitationsphase geriet er unter den Einfluß von Jacob Taubes, der in den 1970er Jahren in Berlin den kühnen Versuch unternahm, »styles of radical will dem justen Milieu gegenüberzustellen«. (3)
Die dem Andenken des 1987 verstorbenen Taubes gewidmete Habilitationsschrift Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen ließ deutlich die Prägung von Bolz durch den jüdischen Religionsphilosophen erkennen. In der Vorbemerkung zu der Arbeit bekannte Bolz freimütig, Taubes habe »ihm Mut gemacht, dem Denken der ›konservativen Revolutionäre‹ ins Angesicht zu schauen«. (4)
Von Taubes lernte Bolz, daß man die wesentlichen Fragen in der Philosophie nur beantworten kann, wenn man – dem »Höllenzauber der Moderne« entronnen – dem theologischen Kern dieser Fragen auf die Spur kommt. Bei einem solchen Unterfangen sind – neben demjenigen Schmitts – die Werke Walter Benjamins und Max Webers unverzichtbar.
Diese drei Denker bestimmen ganz wesentlich die Grundmelodie der Bücher von Norbert Bolz, wobei er außerdem – quasi als philosophische Kontermutter – über eine souveräne Kenntnis des Werkes von Friedrich Nietzsche verfügt. Die religionsphilosophischen Geheimadressen des 20. Jahrhunderts – von Hans Blumenberg über Alexandre Kojève bis zu Leo Strauß – gehören ebenso zu Bolz’ ständig verfügbaren Bordmitteln wie eine beeindruckende Detailkenntnis der US-amerikanischen Soziologie, deren aktuelle Erkenntnisse er immer wieder in seine Schriften einzuflechten versteht. Ausgestattet mit diesem Rüstzeug, durchpflügt Bolz in vielschichtigen Analysen das brüchige Terrain der Gegenwart.
Als einen der wichtigsten Hauptgegner markiert er den Egalitarismus, für Bolz eine »Anleitung zum Unglücklichsein«. (5) In der Sehnsucht nach Gleichheit stecke »die größte Gefahr der modernen Demokratie, nämlich die Verlockung, einer Ungleichheit in Freiheit die Gleichheit in der Knechtschaft vorzuziehen«. Seit langem zu beobachten sei eine »entartete Gleichheitssucht, wo die Schwachen versuchen, die Starken auf ihr Niveau herunterzuziehen«. Bolz wendet sich gegen die »Glückszwangsangebote des Sozialstaates«, unter dessen Namen am Ende der »paternalistische Obrigkeitsstaat« hervorluge: »Vater Staat will nämlich nicht, daß seine Kinder erwachsen werden«.
Der Wohlfahrtsstaat prämiere den Mangel und erzeuge seltsame Lebenseinstellungen à la »Ich bin benachteiligt, also bin ich«. Die in den 1960er Jahren ausgerechnet von Ernst Forsthoff salonfähig gemachte Staatsaufgabe einer »totalen Daseinsfürsorge [nehme] den Selbständigen das Geld und den Betreuten die Würde«. Der »Kult des Sozialen opfer[e] das Glück und die Freiheit des Einzelnen« (6) und fördere vor allem den Sozialneid, »die markanteste Altbaufassade der Sozialdemokratie«. (7)
Bolz wendet sich mit Verve gegen ein solches Lebensmodell, bei dem die Eigenverantwortung des Individuums ebenso unter die Räder komme wie seine Würde. Gerade die heute bei allen möglichen und unmöglichen Anlässen zitierte Würde des Menschen bestehe nicht in irgendwelchen entgrenzten Versorgungsansprüchen, sondern in der »Entschlossenheit, sich mit ganzem Herzen einer Sache zu verschreiben«. (8)
Dabei habe die große Gleichheitsmaschine zwischenzeitlich auch auf anderen Lebensbereichen deutliche Spuren hinterlassen: Seit der »Egalitarismus des Begehrens« im Vordringen begriffen sei, »herrschen in der Öffentlichkeit die Freiheiten, die würdelos sind«. Das 21. Jahrhundert habe als »Zeitalter der emotionalen Inkontinenz begonnen«, (9) in dem insonderheit die Deutschen mit »Angstlust« und »Unheilsstolz«1 (10) auffielen.
In der Mediendemokratie würden – so Bolz weiter – »politische Probleme nicht durchdacht, sondern gefühlt«, (11) was auf der personellen Ebene zu grotesken Ergebnissen geführt habe: »Politiker sind die Leute, die antworten müssen, auch wenn es keine Antworten gibt, und die antworten wollen, auch wenn es gar keine Fragen gibt«. Bolz geißelt »jene sterile Aufgeregtheit […], die heute den Grundton der politischen Talkshows bestimmt«. (12) In einer solchen Atmosphäre herrsche nicht die Meinungsfreiheit, sondern die politische Korrektheit, eine »Ersatzreligion für Akademiker«. (13)
Diese entspringe der »Rhetorik eines besetzten Landes« (14) und habe zu dem »sozialen Ostrazismus unserer Tage« (15) geführt, indem niemand mehr den Mund aufmache: »Daß man die Freiheit hat zu sagen, was man denkt, besagt nicht viel, wenn man nicht mehr zu denken wagt, was man nicht sagen darf«. (16) Darauf baut auch jene Definition der öffentlichen Meinung auf, die Bolz als Medienwissenschaftler berühmt gemacht hat: Diese sei »nicht das, was die Leute meinen, sondern das, was die Leute meinen, ›was die Leute meinen‹«. (17)
Als Fehlgriff muß Bolz’ Versuch von 2002 gewertet werden, mit seinem Konsumistischen Manifest den westlichen Lebensstil gegen die islamistischen Herausforderungen nach 9/11 zu verteidigen. Seine dortigen Plädoyers »für die Händler und gegen die Helden«, (18) »für Konsumbürgerlichkeit«, für »Marktfriede« und für Geld als den »funktionale[n] Ersatz für die unmöglich gewordenen Ideen des Humanismus« stehen nicht nur im Widerspruch zu aller geschichtlichen Erfahrung spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts, sondern gerade auch im Gegensatz zu Bolz’ früheren Veröffentlichungen. Wenn der Konsumismus wirklich »das Immunsystem der Weltgesellschaft gegen den Virus der fanatischen Religionen« wäre, dann fragt man sich, warum viele der arabischen Attentäter gerade aus Elternhäusern stammen, die zuvor ihr orientalisches Erbe verraten und sich der westernization geöffnet haben.
Tatsächlich gibt es eine solche geistige Verbindung zwischen Konsum und Freiheit nicht, was im übrigen niemand besser weiß als Norbert Bolz: »Die Wahlfreiheit des Konsumenten [erscheint] als das Recht der Unfreien, denn die Wahl des Konsumenten hat keinen echten Entscheidungscharakter.« (19) In den ausgereiftesten Kapiteln seiner Habilitation, »Prostitution der Warenseele« und »Die Masse als Matrix«, hat er »das hurenhafte Geld« (20) und den von diesem nervus rerum abhängigen, hohlen Konsum als die wahren Ursachen für die Entseelung des Menschen in der Moderne gebrandmarkt. Es gebe einen »wesentliche[n] Zusammenhang zwischen Warenfetischismus, Massendasein und Totalitarismus. Die Verschmelzung atomisierter Privatinteressen um die tote Warenmitte ist das historische Urphänomen der Massenformation«.
Besonderen Mut bewies Bolz 2006 mit seinem Buch Die Helden der Familie, in dem er den Selbstextremisten und dem von ihnen zu verantwortenden Klima der Kinderfeindlichkeit in dieser Republik mehr oder weniger ungeschützt den Fehdehandschuh hinwarf. Mit seiner Ehrenrettung für das Familienleben als dem »Genießen einer erläuterungsunbedürftigen Existenz«, (21) mit seinem Rekurs auf die Familie als die »Umkleidekabine des sozialen Rollenspiels und traditionelle[n] Ort des Well-being« (22) hat er sich bei den emanzipatorischen Machthabern beiderlei Geschlechts nicht nur Freunde gemacht.
Bolz erinnert daran, daß es die Kinder sind, die »den Preis für die Emanzipation der Frau zahlen«. (23) Indem sich immer mehr Frauen für die Produktion und gegen die Reproduktion entscheiden würden, entstehe die »Tragödie der modernen Familie«, in der »frau sich zu Tode gesiegt« habe, in der der Mann – im Zuge der »Entmachoisierung« als »Re-education Teil II« – »in ein sorgendes Haustier« verwandelt worden sei (24) und in der am Ende die komplette »Verstaatlichung der Kinder« drohe. (25) In einem solchen familienfeindlichen Umfeld seien heutige Eltern »die modernen Helden«. Sie und niemand anderes übernähmen die »soziale Fellpflege« und erzögen ihre Kinder im Geiste alter Weisheit: »Was uns glücklich macht, bindet uns«. In dem »Kalten Krieg […] zwischen Eltern und Kinderlosen« habe jeder Staat, der Zukunft haben wolle, Stellung zu beziehen: »Nicht die Reichen, sondern die Kinderlosen müssen stärker besteuert werden«.
Solche Tonlagen werden in »ein[em] Zeitalter des radikalen, begründungsunbedürftigen, zu nichts verpflichtenden Individualismus« von nicht wenigen als aus der Zeit gefallen empfunden. Und so kann es kaum verwundern, daß Bolz unter deutschen Intellektuellen, bei denen es »spätestens seit den Nürnberger Prozessen […] eine Klugheitsregel [ist], sich in die Anklägerposition zu bringen«, (26) in die Defensive geraten ist. Für jemanden, der schon lange dem »Narrenparadies des wissenschaftlichen Objektivismus« (27) den Rücken zugewandt hat, um seiner »Verantwortung für die unhintergehbaren Grundüberzeugungen, die unser Denken rahmen«, gerecht zu werden, ist das eine fast zwangsläufige Entwicklung.
War Bolz – nicht zuletzt aufgrund der Verwendung sinnfreier Rückversicherungsformeln wie z. B. der Mär von dem »wunderbaren Erfolgssystem Bundesrepublik« (28) – früher ein häufig in Talkshows zu sehender Gast, entfernte er sich mit den Jahren mehr und mehr vom vorgegebenen Meinungskorridor. Den Rubikon überschritt Bolz am 5. September 2010, als er im Zuge der Sarrazin-Debatte bei Anne Will den Lügenvorhang des offiziösen Herrschaftssprech lüpfte und – vor den entsetzten Blicken der Talkdame – darauf hinwies, daß wir weit entfernt von Meinungsfreiheit leben würden.
Meinungsfreiheit setze Respekt vor dem Andersdenkenden voraus, und diesen Respekt könne er nirgendwo erkennen. Politiker lebten in einer Parallelwelt, und die Bürger seien nicht mehr bereit, sich von »besonders arroganten neuen Jakobinern […] den Mund verbieten zu lassen«. (29) Seither sind die Einladungen zu Talkshows in den Mainstreammedien seltener geworden. Das ficht Bolz aber nicht an. Seine geschliffenen Vorträge erzielen im Internet hohe Abrufzahlen, und – neben seinen regelmäßigen Buchveröffentlichungen – erreicht er auf den alternativen Kanälen eine wachsende Zahl von Lesern und Hörern.
In seinem – neben der Habilitationsschrift – philosophisch besten Buch, Die Welt als Chaos und als Simulation, hat Bolz seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, wir seien »der Wahrheit [dort] am nächsten […], wo das Chaos am dichtesten, die Welt am verwirrtesten, das Bewußtsein am verdinglichsten und die Träume am verrücktesten sind«. (30) Wenn das richtig ist, herrschen heute für Wahrheitssucher wie Bolz nachgerade ideale Bedingungen.
Als sattelfester Luhmannianer ist er »auf intelligente Weise konservativ« (31) geworden und als passionierter Waldgänger im Geiste Ernst Jüngers weiß er, daß »der Ort der Freiheit dort [liegt], wo uns der Leviathan nicht findet: im Chaos«. (32) Es bleibt zu hoffen, daß Bolz von dort aus weiter seine luziden soziologischen Querschnitte durch eine Republik vornimmt, die eine solche Überdosis an Wahrheit bitter nötig hat. Ad multos annos!
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(1) – Bernard Willms: »Antaios – oder die Lage der Philosophie ist die Lage der Nation«, in: Norbert W. Bolz (Hrsg.): Wer hat Angst vor der Philosophie? Eine Einführung in Philosophie, Paderborn et al. 1982, S. 32 – 66; Folgezitate: ebd., S. 56, 59 und 59; Folgezitate und Quellennachweis: Bolz: Wer hat Angst, S. 7, 9 und 95 – 135.
(2) – Die Zeit Nr. 42/2001 vom 11. Oktober 2001.
(3) – Jacob Taubes an Hans-Dietrich Sander, Brief vom 15. Oktober 1979, zit. nach: Herbert Kopp-Oberstebrink, Thorsten Palzhoff, Martin Treml (Hrsg.): Jacob Taubes – Carl Schmitt. Briefwechsel, München 2012, S. 294.
(4) – Norbert Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989, S. 11; Folgezitat S. 115.
(5) – Norbert Bolz: Diskurs über die Ungleichheit. Ein Anti-Rousseau, München 2009, S. 20; Folgezitate S. 9, 21, 89, 98, 16, 119 und 18.
(6) – Norbert Bolz: Das richtige Leben, München 2014, S. 102.
(7) – Norbert Bolz: Blindflug mit Zuschauer, München 2005, S. 54.
(8) – Bolz: Das richtige Leben, 13; Folgezitat S. 136.
(9) – Achgut.com vom 1. September 2021.
(10) – Norbert Bolz: Die Avantgarde der Angst, Berlin 2020, S. 60.
(11) – Bolz: Blindflug, S. 74; Folgezitat S. 79.
(12) – Bolz: Das richtige Leben, S. 110.
(13) – Norbert Bolz: Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen, München 2008, S. 60.
(14) – Bolz: Diskurs über die Ungleichheit, S. 33.
(15) – Bolz: Das richtige Leben, S. 92.
(16) – Norbert Bolz: Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht, Paderborn 2010, S. 88.
(17) – Bolz: Blindflug, S. 79.
(18) – Norbert Bolz: Das konsumistische Manifest, München 2002, S. 15; Folgezitate S. 15, 16, 86 und 16.
(19) – Bolz: Die ungeliebte Freiheit, S. 107.
(20) – Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt, 118; Folgezitat S. 124.
(21) – Norbert Bolz: Die Helden der Familie, Paderborn/München 2006, S. 19.
(22) – Bolz: Blindflug, S. 121.
(23) – Bolz: Helden der Familie, S. 47; Folgezitate S. 36, 49.
(24) – Bolz: Diskurs über die Ungleichheit, S. 57.
(25) – Bolz: Helden der Familie, S. 39; Folgezitate S. 54, 58, 19, 7, 71 und 7.
(26) – Bolz: Wissen der Religion, S. 68.
(27) – Bolz: Das richtige Leben, S. 121; Folgezitat ebd.
(28) – »Anne Will« vom 1. November 2009.
(29) – »Anne Will« vom 5. September 2010.
(30) – Norbert Bolz: Die Welt als Chaos und als Simulation, München 1992, S. 40.
(31) – Norbert Bolz: Ratten im Labyrinth. Niklas Luhmann und die Grenzen der Aufklärung, München 2012, S. 40.
(32) – Bolz: Die ungeliebte Freiheit, S. 57.