Der liberale Gelehrte widmet sich in einer neuen Publikation dem Verhältnis von Demokratie und Religion. Es entspricht der differenziert-ausgewogenen Argumentationsweise Höffes, daß er zwei Narrativen, die eine Zeitlang durch die Feuilletons geisterten, nicht folgt: Die große Erzählung von der Rückkehr der Religion, von der in den 2000er Jahren oft zu lesen war, teilt er nicht, ebensowenig die Meinung, Religion werde aus den westlichen Gesellschaften von selbst verschwinden – eine modernisierungstheoretische Lehrmeinung vor allem aus den 1960er und 1970er Jahren.
Beide Perspektiven dürfen als Momentaufnahmen gelten, soziologisch wenig fundiert. Zwar nimmt institutionalisiert praktizierte Kirchlichkeit tendenziell schon seit geraumer Zeit ab, während sich der Sektor religiöser Angebote pluralisiert wie multikulturalisiert; der Kernbereich des Glaubens indessen, den der Philosoph Hermann Lübbe mit dem Wort »Kontingenzbewältigungspraxis« (wie sperrig auch immer) umschreibt, ist nur mit Einschränkungen in profane Systembereiche zu transformieren.
Anders als sein Kollege Habermas, der sich in seinem Spätwerk so intensiv mit religiösen Phänomenen beschäftigt hat, daß er gelegentlich als »St. Jürgen« verulkt wurde, sieht Höffe die Philosophie nicht generell aus der Religion hervorgehen. Er zeigt vielmehr, daß bereits in der antiken Philosophie ein Großteil des Denkens als säkular eingestuft werden muß. Die Ethik des Aristoteles, um nur ein Beispiel anzuführen, gilt Kennern der Materie (wie Günther Patzig) nicht zufällig als weithin metaphysikfreies Reflexionsgebiet.
Höffe verbleibt im verbindlichen Radius der Forschung. Er durchschreitet im ersten Teil weite geistesgeschichtliche Felder am roten Faden herausragender Denker: die griechische wie römische Antike, ebenso den arabischen wie christlich-mittelalterlichen Kulturraum. Ein Schwerpunkt liegt im Bereich der frühneuzeitlichen Philosophie (Machiavelli, Hobbes, Kant, Rousseau). Auch die zeitgenössischen Anwälte der Religion – immerhin ein chronologisch weiter Bogen von Kierkegaard zu Joas – werden nicht übergangen.
Im zweiten Abschnitt beleuchtet der Autor zentrale Themen, in deren Mittelpunkt man üblicherweise Religion und Religionen verortet: Staat und Transzendenz, Wert der Religionen, Verzicht, soziale wie politische Präsenz, Gefahren seitens der Religion, Demokratie und Religion. Die Urteile sind prägnant und nachvollziehbar. Am Ende der Erörterungen konstatiert Höffe: Grundlegende Dilemmata zwischen Demokratie und Religion sind nicht festzustellen. Nur wenige zeitgenössische Beobachter werden diesem Diktum wohl widersprechen.
Der Soziologe Hartmut Rosa, einer der renommiertesten Vertreter seiner Zunft, nähert sich dem Phänomen Religion naheliegenderweise auf anderen Pfaden. Im Rahmen eines Vortrages beim Würzburger Diözesanempfang 2022 warf er einige Schlaglichter auf die heutige (Steigerungs-)Gesellschaft: Der Wachstumszwang ist ebenso unerbittlich, wie er von allen politischen Seiten (nicht zuletzt aufgrund von Umweltschäden) kritisiert wird. Aus konservativer Perspektive erinnert man sich in diesem Kontext gern an den früheren CDU-Bundestagsabgeordneten und Mitbegründer von Grünen und ÖDP, Herbert Gruhl.
Ein allgemeiner Ausstieg aus dem Hamsterrad erscheint selbst Kritikern wie Rosa unrealistisch, wäre die einschneidende Folge einer solchen Entscheidung doch ein weitreichender Kollaps der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung. Man kann hinzufügen: Ein Ende des Steigerungszwanges in Europa wäre lediglich ein Kapitulationssignal in andere Regionen der Welt, deren Prosperität sich künftig verstärkt fortsetzen dürfte. Was also tun in einer solchen verworrenen Lage, die keinen einfachen Ausgang kennt?
Aus dem Aggressionsmodus des Vorteilserheischens herauszutreten wirft die Frage nach Räumen auf, in denen ein Zusammenleben ohne ausschließlich zweckhafte Logik möglich ist. Solche Resonanzsehnsucht ist weit über religiöse Milieus hinaus verbreitet. Sie findet sogar in esoterischen Kreisen Widerhall. Demnach ist das Universum nicht kalt, sondern bereitet einen Boden für Antworten – gleichwie der Christ aller Zeiten in Gott einen Dialogpartner gefunden hat.
Eine adäquate Relation von Weltbeziehung und religiöser Praxis – das ist der Blick des Gesellschaftstheoretikers auf die Religion. Überraschend klar ist seine Bejahung der Frage, ob die moderne Gesellschaft Religion benötige. Die Begründung des Autors ist so plausibel, daß sich der Verfasser des Vorwortes, der Linken-Politiker Gregor Gysi, ein explizit Ungläubiger, dem Urteil Rosas vorbehaltlos anschließt.
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Otfried Höffe: Ist Gott demokratisch? Zum Verhältnis von Demokratie und Religion, Stuttgart: S. Hirzel 2022. 231 S., 24 €
Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion. Mit einem Vorwort von Gregor Gysi, München: Kösel 2022. 74 S., 12 €
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