Göttliche Demokratie? Zwei Neuerscheinungen.

von Felix Dirsch --

Otfried Höffe ist schon seit Jahrzehnten einer der führenden Philosophen in Deutschland. Der Tübinger Emeritus machte sich, neben anderen, auf den Gebieten der Aristoteles- und Kant-Forschung, aber auch der Moralphilosophie und der Philosophiegeschichte einen Namen.

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Der libe­ra­le Gelehr­te wid­met sich in einer neu­en Publi­ka­ti­on dem Ver­hält­nis von Demo­kra­tie und Reli­gi­on. Es ent­spricht der dif­fe­ren­ziert-aus­ge­wo­ge­nen Argu­men­ta­ti­ons­wei­se Höf­fes, daß er zwei Nar­ra­ti­ven, die eine Zeit­lang durch die Feuil­le­tons geis­ter­ten, nicht folgt: Die gro­ße Erzäh­lung von der Rück­kehr der Reli­gi­on, von der in den 2000er Jah­ren oft zu lesen war, teilt er nicht, eben­so­we­nig die Mei­nung, Reli­gi­on wer­de aus den west­li­chen Gesell­schaf­ten von selbst ver­schwin­den – eine ­moder­ni­sie­rungs­theo­re­ti­sche Lehr­mei­nung vor allem aus den 1960er und 1970er Jahren.

Bei­de Per­spek­ti­ven dür­fen als Moment­auf­nah­men gel­ten, sozio­lo­gisch wenig fun­diert. Zwar nimmt insti­tu­tio­na­li­siert prak­ti­zier­te Kirch­lich­keit ten­den­zi­ell schon seit gerau­mer Zeit ab, wäh­rend sich der Sek­tor reli­giö­ser Ange­bo­te plu­ra­li­siert wie mul­ti­kul­tu­ra­li­siert; der Kern­be­reich des Glau­bens indes­sen, den der Phi­lo­soph Her­mann Lüb­be mit dem Wort »Kon­tin­genz­be­wäl­ti­gungs­pra­xis« (wie sper­rig auch immer) umschreibt, ist nur mit Ein­schrän­kun­gen in pro­fa­ne Sys­tem­be­rei­che zu transformieren.

Anders als sein Kol­le­ge Haber­mas, der sich in sei­nem Spät­werk so inten­siv mit reli­giö­sen Phä­no­me­nen beschäf­tigt hat, daß er gele­gent­lich als »St. Jür­gen« ver­ulkt wur­de, sieht Höf­fe die Phi­lo­so­phie nicht gene­rell aus der Reli­gi­on her­vor­ge­hen. Er zeigt viel­mehr, daß bereits in der anti­ken Phi­lo­so­phie ein Groß­teil des Den­kens als säku­lar ein­ge­stuft wer­den muß. Die Ethik des Aris­to­te­les, um nur ein Bei­spiel anzu­füh­ren, gilt Ken­nern der Mate­rie (wie Gün­ther Pat­zig) nicht zufäl­lig als weit­hin meta­phy­sik­frei­es Reflexionsgebiet.

Höf­fe ver­bleibt im ver­bind­li­chen Radi­us der For­schung. Er durch­schrei­tet im ers­ten Teil wei­te geis­tes­ge­schicht­li­che Fel­der am roten Faden her­aus­ra­gen­der Den­ker: die grie­chi­sche wie römi­sche Anti­ke, eben­so den ara­bi­schen wie christ­lich-mit­tel­al­ter­li­chen Kul­tur­raum. Ein Schwer­punkt liegt im Bereich der früh­neu­zeit­li­chen Phi­lo­so­phie (Machia­vel­li, Hob­bes, Kant, Rous­se­au). Auch die zeit­ge­nös­si­schen Anwäl­te der Reli­gi­on – immer­hin ein chro­no­lo­gisch wei­ter Bogen von Kier­ke­gaard zu Joas – wer­den nicht übergangen.

Im zwei­ten Abschnitt beleuch­tet der Autor zen­tra­le The­men, in deren Mit­tel­punkt man übli­cher­wei­se Reli­gi­on und Reli­gio­nen ver­or­tet: Staat und Tran­szen­denz, Wert der Reli­gio­nen, Ver­zicht, sozia­le wie poli­ti­sche Prä­senz, Gefah­ren sei­tens der Reli­gi­on, Demo­kra­tie und Reli­gi­on. Die Urtei­le sind prä­gnant und nach­voll­zieh­bar. Am Ende der Erör­te­run­gen kon­sta­tiert Höf­fe: Grund­le­gen­de Dilem­ma­ta zwi­schen Demo­kra­tie und Reli­gi­on sind nicht fest­zu­stel­len. Nur weni­ge zeit­ge­nös­si­sche Beob­ach­ter wer­den die­sem Dik­tum wohl widersprechen.

Der Sozio­lo­ge Hart­mut Rosa, einer der renom­mier­tes­ten Ver­tre­ter sei­ner Zunft, nähert sich dem Phä­no­men Reli­gi­on nahe­lie­gen­der­wei­se auf ande­ren Pfa­den. Im Rah­men eines Vor­tra­ges beim Würz­bur­ger Diö­ze­san­emp­fang 2022 warf er eini­ge Schlag­lich­ter auf die heu­ti­ge (Steigerungs-)Gesellschaft: Der Wachs­tums­zwang ist eben­so uner­bitt­lich, wie er von allen poli­ti­schen Sei­ten (nicht zuletzt auf­grund von Umwelt­schä­den) kri­ti­siert wird. Aus kon­ser­va­ti­ver Per­spek­ti­ve erin­nert man sich in die­sem Kon­text gern an den frü­he­ren CDU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten und Mit­be­grün­der von Grü­nen und ÖDP, Her­bert Gruhl.

Ein all­ge­mei­ner Aus­stieg aus dem Hams­ter­rad erscheint selbst Kri­ti­kern wie Rosa unrea­lis­tisch, wäre die ein­schnei­den­de Fol­ge einer sol­chen Ent­schei­dung doch ein weit­rei­chen­der Kol­laps der staat­lich-gesell­schaft­li­chen Ord­nung. Man kann hin­zu­fü­gen: Ein Ende des Stei­ge­rungs­zwan­ges in Euro­pa wäre ledig­lich ein Kapi­tu­la­ti­ons­si­gnal in ande­re Regio­nen der Welt, deren Pro­spe­ri­tät sich künf­tig ver­stärkt fort­set­zen dürf­te. Was also tun in einer sol­chen ver­wor­re­nen Lage, die kei­nen ein­fa­chen Aus­gang kennt?

Aus dem Aggres­si­ons­mo­dus des Vor­teils­er­hei­schens her­aus­zu­tre­ten wirft die Fra­ge nach Räu­men auf, in denen ein Zusam­men­le­ben ohne aus­schließ­lich zweck­haf­te Logik mög­lich ist. Sol­che Reso­nanz­sehn­sucht ist weit über reli­giö­se Milieus hin­aus ver­brei­tet. Sie fin­det sogar in eso­te­ri­schen Krei­sen Wider­hall. Dem­nach ist das Uni­ver­sum nicht kalt, son­dern berei­tet einen Boden für Ant­wor­ten – gleich­wie der Christ aller Zei­ten in Gott einen Dia­log­part­ner gefun­den hat.

Eine adäqua­te Rela­ti­on von Welt­be­zie­hung und reli­giö­ser Pra­xis – das ist der Blick des Gesell­schafts­theo­re­ti­kers auf die Reli­gi­on. Über­ra­schend klar ist sei­ne Beja­hung der Fra­ge, ob die moder­ne Gesell­schaft Reli­gi­on benö­ti­ge. Die Begrün­dung des Autors ist so plau­si­bel, daß sich der Ver­fas­ser des Vor­wor­tes, der Lin­ken-Poli­ti­ker Gre­gor Gysi, ein expli­zit Ungläu­bi­ger, dem Urteil Rosas vor­be­halt­los anschließt.

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Otfried Höf­fe: Ist Gott demo­kra­tisch? Zum Ver­hält­nis von Demo­kra­tie und Reli­gi­on, Stutt­gart: S. Hir­zel 2022. 231 S., 24 €

 Hart­mut Rosa: Demo­kra­tie braucht Reli­gi­on. Mit einem Vor­wort von Gre­gor Gysi, Mün­chen: Kösel 2022. 74 S., 12 €

 

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