In Österreich scheint die Stimmung nicht ganz so aufgeheizt zu sein wie hierzulande. Viele werden die Videos kennen, in denen Markus Reisner das Kriegsgeschehen in der Ukraine nüchtern kommentiert. Das Besondere: Reisner ist nicht nur promovierter Historiker, sondern auch aktiver Oberst im österreichischen Bundesheer.
Nun liegt es nahe, daß ein Militär militärische Ereignisse nüchtern analysiert, weil eine Beurteilung der Lage sonst unmöglich wäre. Das Besondere: Reisner äußert sich im Interview mit dem Cicero (August 2023) auch zu den Möglichkeiten des Handelns, die der Westen hat, und verschweigt dabei nicht, für wie kontraproduktiv er die Kriegsrhetorik des Westens hält:
Das kennen wir auch aus der Vergangenheit, wo der Gegner entmenschlicht worden ist: Mit denen können wir nicht reden, denn wir sind die Guten. Erst im Verlauf des Konflikts hat man dann gesehen: So wird das nicht funktionieren, man muss also aufeinander zugehen. Und alle Kriege, trotz der Tatsache von Kapitulationen, haben in letzter Konsequenz am Verhandlungstisch geendet. […] Wir erleben eine Lagerbildung in Europa. Wie gehen wir damit um? In manchen Lagern ist es zu einer absoluten Verschärfung in der Rhetorik gekommen, wo das Reden miteinander ausgeschlossen wird. Und die Kriegsparteien leben das seit einem Jahr. Die Russen nennen die Ukrainer „Faschisten“ und „Schweine“, die Ukrainer die Russen „Orks“. Es ist eine komplett verfahrene Situation.
Ähnliches gilt für die Sanktionen, von denen sich mittlerweile herumgesprochen hat, daß sie nur wenig Einfluß auf die russische Kriegsfähigkeit haben, dafür aber insbesondere Deutschland umso mehr schaden:
Es sind genug [Staaten, die die westlichen Sanktionen nicht unterstützen] da, dass die Russen ihre Wirtschaft auf lange Sicht noch am Leben halten können. Und wenn nicht der berühmte Schwarze Schwan auftaucht, wird das so bleiben.
Mit letzterem ist ein Ereignis gemeint, das die Situation völlig ändert. Reisner bezieht sich hier auf den Ersten Weltkrieg und die bolschewistische Revolution in Rußland. Auf westlicher Seite sieht Reisner daher nur einen Akteur, der eine Strategie hat:
Die Amerikaner handeln als eine Hegemonialmacht, die zunehmend unter Druck kommt. Das Vorgehen der Russen soll keine Schule machen, wo jemand gegen jede Regel handelt, gegen das Völkerrecht und UN-Sicherheitsrat, weil er glaubt, das stehe ihm zu. Jetzt kann man argumentieren, die Amerikaner handelten nicht anders. Was geschah im Kosovo, in Libyen, im Irak und in Afghanistan? Klar. Aber man darf eines nicht vergessen: Die Amerikaner sehen sich als die letzte Supermacht, die nach dem Kalten Krieg übrig geblieben ist. Für sie gibt es nur amerikanische Interessen in dieser Welt. Das mag uns gefallen oder nicht. Tatsache ist aber auch: Die Europäer haben zugelassen, dass es nur amerikanische Interessen in Europa gibt.
Und schließlich weist Reisner noch darauf hin, daß ein Waffenstillstand für beide Seiten viele Vorteile hätte. Keiner müsse zugeben, verloren zu haben. Und der Krieg, der auf beiden Seiten täglich Menschenleben kostet und jederzeit weiter eskalieren kann, wäre zumindest für den Moment beendet. Den Grund, warum niemand im Westen die Initiative ergreift, sieht Reisner in der fehlenden Kriegserfahrung der jetzigen Politikergeneration:
Würde die Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkriegs noch leben, wäre der eine oder andere wegen dieser Erfahrung in ernsthafte Verhandlung gegangen. […] Die hätten vielleicht gesagt, wenn ein Politiker nach Brüssel fährt: Du weißt, was ich erlebt habe. Das möchte man nie mehr haben. Es ist egal, wie du zurückkommst, aber wir brauchen einen Kompromiss.
Auch in Deutschland gibt es genügend Stimmen, die sich ähnlich äußern. Allerdings müssen sie hierzulande damit leben, als Verräter und Russenknecht beschimpft zu werden. Diese Bürde nehmen nur wenige Leute auf sich, die noch etwas zu verlieren haben. Sie sind daher entweder pensioniert (wie die Verfasser des jüngsten Vorschlags eines Verhandlungsfriedens), unabhängig oder politisch für AfD oder Linkspartei tätig. Die Mainstreamparteien und Behörden stehen geschlossen hinter der amerikanischen Agenda.
Es gibt aber auch immer wieder Politikwissenschaftler, die sich nicht damit abfinden können, daß ihr Fach zum Erfüllungsgehilfen transatlantischer Hypermoral degradiert wird. Johannes Varwick wäre hier zu nennen, aber auch die Herausgeber des Sammelbandes Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht (Westendverlag 2023).
Der Politikwissenschaftler Stefan Luft, einer der Herausgeber, ist einigen Leser evtl. noch als jemand in Erinnerung, der bereits in den 2000er Jahren Bücher zu Migrationskrise und Ausländerfrage veröffentlicht hat. Er ist neurechter Positionen unverdächtig, und vermutlich ist es ihm deshalb gelungen, Klaus von Dohnanyi für ein Interview zu gewinnen, das einige Positionen, die in Dohnanyis Buch Nationale Interessen enthalten sind, zu erläutern und zu aktualisieren.
Im Zentrum des Buches steht die Forderung nach einer neuen Entspannungspolitik. Diese wird demzufolge nicht als Ursache des russischen Angriffs gesehen, sondern als ein Teil der Lösung des Konflikts. Das erschließt sich aus den Beiträgen, die sich den Hintergründen des gegenwärtigen Krieges widmen.
Das meiste dürfte dem aufgeklärten Zeitgenossen bekannt und daher wenig überraschend sein, daß es viel um den amerikanischen Anteil an dem Konflikt geht. Für rechte Leser sind manche Formulierungen sicher etwas gewöhnungsbedürftig, z.B. wenn die „Neue Rechte“ für den Einfluß des militärisch-industriellen Komplexes auf die amerikanische Politik verantwortlich gemacht wird. Die Wortwahl erklärt sich daraus, daß das Buch in einem dezidiert linken Verlag erschienen ist.
Als Folgen des Ukrainekrieges sieht der französische Geowissenschaftler David Teurtrie vier Einsichten:
- Die Einstimmigkeit des Westens ist eine Folge der Krisen, denen er ausgesetzt ist, also folgt sie aus einer Schwäche des Westens.
- Der Westen ist isoliert, der Rest der Welt bemüht sich um Neutralität.
- Europa ist durch die Hörigkeit gegenüber den USA politisch geschwächt.
- Die Spaltungen in Europa werden offensichtlich.
Es gäbe also allen Grund, nach einer Lösung des Konflikts zu suchen. Stattdessen werde er mit Waffenlieferungen und Sanktionen weiter angeheizt. Die Wirksamkeit von letzten untersucht der französische Wirtschaftswissenschaftler Jacques Sapir in seinem Beitrag detailliert und kommt zu dem Schluß, daß diese ihr Ziel nicht erreichen und das Potential haben, zu einem zeitlich verzögerten Bumerang-Effekt zu führen, der die EU am meisten treffen wird.
Interessant ist schließlich ein Beitrag des Herausgebers Luft, der sich der Transformation der Grünen von der Pazifisten- zur Bellizistenpartei widmet. Dieser Wandel betrifft nicht nur die grünen Politiker, sondern auch deren Wähler, die zu 72 Prozent der Erhöhung des Wehretats zustimmen, ein Wert, der nur von FDP- und CDU-Wählern übertroffen wird.
Die Ursachen für den Bellizismus sieht Luft in der Wertefixiertheit der Grünen. Deren wertegeleitete Politik sei absolutistisch, universalistisch und interventionistisch, mit anderen Worten totalitär. Ein dualistisches Weltbild und moralische Doppelstandarts seien dabei kein Hindernis, im Gegenteil: „Wertepolitik ist nicht ohne Widersprüche zu haben.“
Daher sein Plädoyer für eine interessengeleitete Entspannungspolitik, die nicht gescheitert sei, weil sie nicht versucht wurde:
Gescheitert sind die Ausgrenzung und Konfrontationspolitik der USA und der NATO seit den frühen 2000er-Jahren gegenüber Russland. Dies auseinanderzuhalten ist eine wichtige Voraussetzung für Friedenspolitik auf dem eurasischen Kontinent. Aufrüstung und Isolation führen noch tiefer in die Sackgasse und verfestigen die Konfrontation. Wenn der Gegner zum Feind wird, sein „Ruin“ (Baerbock) bezweckt wird, werden Hass und Aggression die internationalen Beziehungen dauerhaft prägen. Weitere militärisch aus- getragene Konflikte sind die Folge.
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Sandra Kostner / Stefan Luft: Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, Westendverlag 2023, 348 Seiten, 24 Euro – hier bestellen.
ede
Volle Zustimmung.
Mehr habe ich nicht zu sagen.