Im Jahr 1923 schien die Macht noch einmal auf der Straße zu liegen. Inflation, Ruhrbesetzung und passiver Widerstand brachten die Reichsregierung in machtpolitische Bedrängnis, so daß außerparlamentarische Akteure den Coup wagten.
In München war dies ein wenig bekannter lokalpolitischer Exzentriker namens Adolf Hitler und in den preußischen wie bayerischen Rheinlanden (Pfalz) war es eine Reihe von Gruppierungen, die sich die Herauslösung dieser Gebiete aus dem Staatsverband auf die Fahnen geschrieben hatten. Eine bislang unbekannte Strömung trat im Westen des Reiches punktuell ans Tageslicht und verschwand im Schwung der Ereignisse so schnell, wie sie gekommen war: der Separatismus.
In der deutschen Geschichte nimmt sich der Separatismus wie ein Fremdkörper aus. Deutsche Staatsverbände waren weder zentralistisch, noch waren sie im modernen Sinne Vielvölkerstaaten mit irredentistischen Regionen, mit der einzigen, besonderen Ausnahme Elsaß-Lothringens. Die sogenannte kleindeutsche Lösung unter Ausschluß Österreich-Ungarns, die Bismarck für das spätere preußisch-deutsche Kaiserreich verfolgte, entsprang auch diesen Befürchtungen.
Die Situation von Basken, Korsen, Krajina-Serben, Kurden oder aktuell der russischsprachigen Bevölkerung der Krim und des Donbass sucht man in unserer Geschichte vergebens. Die Sprache, die Ethnie, die Kultur, die Besiedlungsstruktur sowie die lange föderale Tradition bis hinauf zu ihren germanischen Quellen waren hierzulande zu einheitsstiftend ausgeprägt, zu tief im allgemeinen Volksbewußtsein verankert, als daß es zu größeren territorialen Infragestellungen kommen konnte, trotz Minderheiten wie Sorben oder Dänen.
Im Fall der seit 1815 (administrativ seit 1822) preußischen Rheinprovinz mochte anfänglich die römisch-katholische Konfession der Mehrheitsbevölkerung gegenüber dem protestantischen Preußen mitsamt der offenen Wunde aus dem Kulturkampf eine Rolle gespielt haben. Vielleicht trug noch die Erinnerung an das römische Erbe in jenen Gebieten sowie an das einst stolze Kurfürstentum Köln das ihrige zu den Abspaltungswünschen bei. Die Niederlage des Reiches mitsamt seinen Dynastien im Weltkrieg wurde von manchen hier als besondere Niederlage Preußens gewertet, welche nun die einmalige Gelegenheit zur Trennung bot.
Was die eigentliche Triebkraft für separatistische Putschversuche entlang dem Rhein anbelangt, so ist diese jedoch kaum klar anzugeben. Zu diffus waren die ideologischen und strategischen Vorstellungen der beteiligten Personen und Gruppen, zu undurchsichtig war auch das Hintergrund-Spiel der französisch-belgischen Besatzungsmacht. Der rheinische Separatismus ist allenfalls in einem sehr kurzen Zeitfenster in der Pfalz als eine einheitliche Bewegung aufgetreten.
Selbst die Zuschreibung »Bewegung« geht fehl, handelte sich doch viel eher um lose Zirkel von »Sonderbündlern«, so die abschätzige Bezeichnung von seiten der betreffenden Bevölkerung. Eine Massenbasis hatten sie zu keinem Zeitpunkt. Die lokalen Besetzungen von Amtsgebäuden, die beinahe regelmäßig im (stellenweise blutigen) Fiasko endeten, sowie die hektischen Proklamationen rheinischer Republiken tragen schon fast eine karnevaleske Note, so als hätten »kölsche Polit-Jecken« eine staatspolitische Weiberfastnacht aufführen wollen.
Da es aber durchaus zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, im Siebengebirge gar zu einer Art »Schlacht«, ist der Separatismus als zwar randständige, aber ernstzunehmende Angelegenheit von Reichsseite aus behandelt worden. Noch 1949 sah sich Konrad Adenauer im Parlamentarischen Rat durch wüste Angriffe aus den Reihen der KPD mit seinen quasiseparatistischen Überlegungen aus der Frühzeit der Weimarer Republik konfrontiert. Immer wieder wurde dem ersten Kanzler der Bundesrepublik, in dessen betont rheinischer Mentalität Asien bekanntlich an der Elbe begann, die Glaubwürdigkeit in Sachen Wiedervereinigungsgebot angezweifelt.
Die ersten Impulse für eine Loslösung des Rheinlands von Gesamtdeutschland gingen von römisch-katholischen Geistlichen aus, die im Zuge der revolutionären Ereignisse in Norddeutschland, Berlin und sogar München eine radikalisierte Neuauflage des Kulturkampfs befürchteten. Besonders die antikirchlichen Positionen des preußischen Kultusministers Adolph Hoffmann waren vielen Pfarrern wie Zentrumspolitkern ein Dorn im Auge.
Die erste Versammlung, in welcher separatistische Vorschläge offen diskutiert wurden, fand am 4. Dezember 1918 in Köln statt. Die ersten Wortführer kamen aus dem rheinischen Klerus. Vor allem Pfarrer Bertram Kastert machte sich für eine rheinische Republik stark und wollte diese umgehend ausrufen. Da die verfassungsrechtlichen Bedenken der anwesenden Zentrumspolitiker überwogen, kam es dazu nicht. Pfarrer Kastert wurde später von seinem Ordinariat strafversetzt und spielte in den weiteren separatistischen Aktivitäten keine Rolle mehr, so wie auch das konfessionelle Moment mehr und mehr von anderen Befürchtungen bzw. Antrieben abgelöst wurde.
Der Kölner Separatismus war damit keineswegs vom Tisch. In der Folgezeit schälten sich hier zwei Stränge aus dieser Strömung heraus, die sich erbittert bekämpfen sollten. Zum einen ein gemäßigter Zweig, der die rheinische Loslösung einzig auf verfassungsgemäßen Wegen im Sinne einer weitgehenden Autonomie und zudem nur als ultima ratio für den Fall einer spartakistischen Machtübernahme in Berlin angehen wollte.
Diese Richtung wurde vom damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer vertreten, der der revolutionär bedrängten Reichsregierung in Gestalt des Rates der Volksbeauftragten 1918 sogar vorgeschlagen hatte, den Reichstag nach Koblenz oder Limburg an der Lahn verlegen zu lassen, was in Berlin sogleich abgelehnt wurde. Er war überdies der Meinung, daß im Ernstfall nur eine Loslösung des Rheinlands dessen Annektierung durch Frankreich verhindern oder zumindest erschweren würde. Nach eigenen Angaben ging es ihm dabei stets um die Bewahrung des Deutschtums am Rhein. Ein von ihm 1919 fraktionsübergreifend eingesetzter Ausschuß der Stadtverordnetenversammlung sollte die Frage einer autonomen westdeutschen Republik behandeln, doch kam es nie zu konkreten Ergebnissen.
Die Reichsregierung wiederum behandelte jegliche Sezessionsabsichten als Hochverrat und warnte dringend vor jeder Beteiligung. Ihre eigenen Bestrebungen, eine Neugliederung Preußens vorzunehmen und diese in der Weimarer Verfassung festzuschreiben, machte das noch mächtige Preußen zunichte. Die rheinischen Abgeordneten verblieben treu zum Reich, und eine autonome rheinisch-westfälische Republik innerhalb des Staates stand fortan nicht mehr auf der Agenda der Mandatsträger.
Am 1. Dezember 1918 war das linksrheinische Gebiet von alliierten Truppen besetzt worden, politisch vertreten wurden sie von der eigens eingesetzten Interalliierten Rheinlandkommission (IRKO), welche allerdings unter ihrem französischen Präsidenten Paul Tirard diplomatisch wie unverhohlen französische Interessen am Rhein geltend machte. Links des Rheins und 50 Kilometer rechts davon lag das nunmehr entmilitarisierte Gebiet.
Vor allem das Verhalten der französischen Truppen und ihrer Befehlshaber in den Jahren 1918/19 war Wasser auf die Mühlen der separatistischen Gruppen. Der Oberkommandierende der französischen 8. Armee, General Augustin Gérard, gab beispielsweise seinen Truppen am 28. November in einem Tagesbefehl zu verstehen, daß die Franzosen gegenüber den deutschen Barbaren als eine »befreiende Rasse« aufzutreten hätten. In der aufgebrachten Bevölkerung der Pfalz, wohin er einmarschierte, wurden sogleich historische Erinnerungen an grausame französische Heerführer aus den Erbfolgekriegen des 17. Jahrhunderts wach.
Neben dieser Brachialrhetorik und dem daraus folgenden Verhalten der Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung ließen sich mit der Zeit aber auch Sirenengesänge vernehmen, in denen ebendieser General Gérard Erleichterungen bei den Reparationen in Aussicht stellte, falls sich die linksrheinischen Gebiete vom Reich lossagten. Ähnliche Äußerungen (eigentlich Gerüchte) aus dem Umkreis des Stabes von Generalissimus Ferdinand Foch über die Errichtung einer französischen Zollgrenze und die ökonomische Einverleibung des Rheinlands oder über den angestrebten Aufbau einer »Rheinischen Friedensrepublik«, die für den Bruch mit allem Preußischen mit Milderung der Friedensbedingungen belohnt würde, machten die Runde und sorgten für Nervosität bei den politischen Verantwortungsträgern.
Bei manchen indes wurden Erinnerungen an die links des Rheins einrückenden französischen Revolutionsheere des Jahres 1794 wachgerufen, die ins eigens errichtete »Département Rhin et Moselle« die Errungenschaften der Revolution von 1789 mitgebracht hatten.
In diesem Sinne agitierte eine politische Lokalgröße aus Bonn, der Jurist Hans Adam Dorten, der einer der schärfsten Widersacher Konrad Adenauers in der Separatismus-Frage jener ersten Jahre werden sollte. Der ehemalige Weltkriegsoffizier gehörte dem zweiten, dem radikalen, außerparlamentarischen Zweig an und plädierte für einen sofortigen rheinischen Sonderweg an der Seite des siegreichen Frankreichs, mit dessen General Charles Mangin, dem Stadtkommandanten von Mainz, einem offenen Sympathisanten der rheinischen Umtriebe, ihn eine enge Freundschaft verband.
Dorten hatte ein ungeduldiges, umstürzlerisches Temperament und verließ sich naiv auf die vermutete französische Rückendeckung seiner Vorhaben. In der Folge sollte sich jedoch immer wieder zeigen, wie wenig frei die Siegermacht Frankreich in ihren außenpolitischen Handlungen auf Dauer tatsächlich war. Vor allem britischer Druck wurde in Paris schmerzlich gespürt. Premier Lloyd George lehnte jede Form eines unabhängigen Rheinlands ab.
Davon nicht beeindruckt oder in Kenntnis gesetzt, schmiedete Dorten gewagte Umsturzpläne und ließ sich 1919 mit seiner politischen Splittergruppe zu einem Putsch in Wiesbaden hinreißen, der von den herbeigeeilten Einwohnern vereitelt wurde. Da nicht einmal deutsche Polizeikräfte vor Ort gestattet waren, reichte der geballte Volkszorn aus, um die Pläne im Keim zu ersticken. Weitere isolierte und unbewaffnete Unternehmungen dieser Art erfolgten in Koblenz, Speyer und im Hunsrück, die allesamt scheiterten, da die französischen Truppen einsahen, wie wenig Rückhalt die Separatisten in der Bevölkerung genossen, und die diesen bei Abbruch der Aktionen allenfalls sicheres Geleit zu geben bereit waren. Dortens väterlicher Freund, General Mangin, wurde im selben Jahr pensioniert und kehrte nach Frankreich zurück.
Das »Super-Krisenjahr« 1923 in seinen Erschütterungen schien für manche auch eine Chance für die eigenen Vorhaben bereitzuhalten. Dies galt etwa für die Separatisten am Rhein, die sich nach ihrer Schlappe in den Wirren der ersten Nachkriegszeit neu zu formieren begannen. Der umtriebige Dr. Dorten, der angeblich eine Million Unterschriften für eine rheinische Republik gesammelt hatte, erhielt unliebsame Konkurrenz durch andere Persönlichkeiten, welche die separatistische Sache geschickter in die Hand nahmen, ihr aber auch eine neue ideologische Wendung gaben.
Der ehemalige Kölner Sozialdemokrat und USPD-Parteigänger Josef Smeets hatte in der französisch besetzten Zone die Rheinisch-Republikanische Volkspartei gegründet und zugleich ab 1920 begonnen, aus Versprengten der bolschewistischen Roten Ruhrarmee bewaffnete Verbände aufzustellen. Man munkelte, er unterhalte gute Beziehungen zum belgischen Militär und beziehe aus Brüssel diskrete finanzielle Unterstützung, während Frankreich Vorbehalte gegen bewaffnete Gruppierungen anmeldete und Sorge um den entmilitarisierten Status der betreffenden Gebiete hatte.
Mit der Bildung solcher Separatisten-Armeen, später vollmundig »Rheinlandschutz« genannt, verfügte diese Strömung zwar über einige Schlagkraft, machte sich aber zugleich abhängig von linksradikalen Kräften, welche die Fußtruppen dieser Formationen stellten. Es sollte sich jedoch bald zeigen, daß in ihnen alles andere als eine straff disziplinierte Truppe von kommunistischen Parteisoldaten auftrat, da Smeets viele Erwerbslose, Gestrandete, Kriminelle und Flüchtlinge aus Oberschlesien rekrutierte, die keinerlei innere Beziehung zum Rheinland hatten und sich entsprechend benahmen. Bei seinen Anwerbungen gelang es Smeets nicht, auch nur einen Offizier für seine Truppe zu gewinnen.
Überdeutlich wurde unter Smeets eine politische Verschiebung nach links spürbar, da auch altbekannte Kommunisten wie Max Levien, Held der Münchner Räterepublik, und Organe wie die französische kommunistische Zeitung L’Humanité den rheinischen Separatismus zu unterstützen begannen. Die Kommunisten versuchten hier eine gärende Sache, die sie als erfolgversprechend einstuften, für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, ähnlich wie es Karl Radek mit dem Kampf des Freikorpsführers Albert Leo Schlageter unternehmen sollte.
Bevor diese Verbände im Krisenjahr 1923 zum Einsatz kamen, wurde das parteipolitische Hinterland des Separatismus neu sortiert. Hans Adam Dorten hatte erkannt, daß er ins Abseits zu geraten drohte, und schloß sich mit Smeets in der gemeinsamen Partei »Rheinische Volksvereinigung« zusammen. Dieses Bündnis war der strategischen Not geschuldet, da Dorten von Hause aus antisozialistisch und bürgerlich eingestellt war, jedoch mit ansehen mußte, wie Smeets’ Parteigänger unter den Industriearbeitern für einen rheinischen Arbeiterstaat warben und an die Herstellung einer Massenbasis herangingen.
Der Streit um die Reparationsforderungen, die Katastrophe der Geldentwertung, vor allem der französisch-belgische Einmarsch ins Ruhrgebiet im Januar 1923 und der darauffolgende passive Widerstand bewirkten eine Eskalation der Lage, in der die Separatisten noch einmal offensiv für eine rheinische Eigenständigkeit eintreten wollten.
Der Ruhrkampf belastete die Menschen im Rheinland über die Maßen. Eingeklemmt zwischen den Strafandrohungen aus Berlin, von wo Verbote jeglicher Zusammenarbeit mit den Besatzungstruppen sowie der IRKO ausgingen, und den drakonischen Maßnahmen der französischen Militärjustiz gegenüber jedem zivilen Ungehorsam, schienen sie bereit für einen unabhängigen rheinischen Staat zu sein, zumindest in den Kalkulationen der Putschisten. Daß diese sich gewaltig täuschten, wurde bald offenkundig.
Als weiterer Antreiber dieser Szene betätigte sich in dieser Zeit der Journalist und gebürtige Würzburger Josef Friedrich Matthes, der sich trotz staatsmännischer Allüren als Harlekin entpuppen sollte. Er erdreistete sich, in Paris Verhandlungen über ein autonomes Rheinland führen zu wollen, wurde aber nicht vorgelassen; einzig der pensionierte General Mangin äußerte Sympathie. Sogar Überlegungen zu einer eigenen rheinischen Währung hatte Matthes bereits angestellt, jedoch vergebens. Außenminister Aristide Briand sprach sich gegen ein unabhängiges Rheinland aus. Berlin und Paris waren zudem gezwungen, ihre Konfrontation beizulegen, da die Mitverbündeten Frankreich klar zu verstehen gaben, daß Deutschland sich nicht an den Versailler Vertrag gebunden fühlen müsse, solange die völkerrechtswidrige Besetzung an der Ruhr anhalte. Reichskanzler Stresemann wiederum mußte den passiven Widerstand aufgrund der desolaten Situation der Reichsfinanzen abbrechen.
Die Zivilbevölkerung erduldete fast zwei Jahre lang die französischen Repressionen und die Widerstandsaktionen der Freikorps und prägte für die Haltung Berlins den resigniert-spöttischen Begriff vom »Berliner Separatismus«.
Ihr Haß galt aber in erster Linie den Separatisten auf eigenem Boden, die im Fahrwasser der Ruhrbesetzung mitschwammen und denen sogar eine Mitschuld am Einmarsch gegeben wurde. Eingesickerte Freikorpsangehörige verübten folgerichtig auch gegen sie Anschläge, so auf Josef Smeets, der sich daraufhin aus der Politik zurückzog.
Derweil fuhr Matthes mit den von Smeets aufgestellten Verbänden auf Lkws durch rheinische Städte und Ortschaften wie Düsseldorf, Aachen, Trier etc., erklärte diese für eingenommen, rief freie Republiken aus, ließ stellenweise die grün-weiß-rote Fahne hissen und machte sich wieder davon. Diese Art der propagandistischen Guerilla verfehlte ihr Ziel völlig, weil es, wie schon 1918/19, zu heftiger Gegenwehr seitens der Bevölkerung und der amtlichen Stellen kam. Erst als die Separatisten ihre Waffen einsetzten (zum Teil hatten sie französische Waffenscheine erhalten), griff das französische Militär ein und führte sie ab.
Matthes’ einziger Erfolg gelang ihm in Koblenz, wo er sich im Oktober 1923 zum »Generalbevollmächtigten der Exekutive der vorläufigen Regierung der Rheinischen Republik« aufschwang. Als er aber daranging, die Verwaltung mit Gefolgsleuten zu besetzen, widersetzten sich die diensthabenden Beamten, da sie über ihre Regierungspräsidien telegraphisch die Order des Reichsministers des Innern erhalten hatten, die Eindringlinge umgehend aus den Amtszimmern zu entfernen. Nicht ohne peinliche Zeremonie erklärte Matthes schließlich gegenüber dem Präsidenten der IRKO formell seinen Rücktritt.
Die separatistische Soldateska hatte unterdessen im Umland der Städte durch Plünderungen und Gewalttaten aller Art für Aufsehen unter der Bevölkerung gesorgt. Als Reaktion darauf war man vielerorts dazu übergegangen, Heimwehren zu bilden, die auf verschlungenen Pfaden sogar von der Reichsregierung Instruktionen sowie Ausrüstung erhielten.
Auf den Höhen des Siebengebirges bei Aegidienberg stellten sich am 15. und 16. November 1923 rund 3000 Heimwehrangehörige etwa 500 bis 600 Rheinlandschutzleuten entgegen und errangen einen fulminanten Sieg, auch dank dem alkoholisierten Zustand vieler Separatisten, die 14 Mann verloren. Die Gegenseite hatte zwei Menschenleben zu beklagen. Noch heute erinnert ein Gedenkstein an der Aegidienberger Straße an diese »Schlacht« (»Gott verhalf zum Sieg«).
Weiter südlich, in der Pfalz, feierte eine letzte schillernde Gestalt der separatistischen Szene einen kurzlebigen Erfolg. Hier führte ein charismatischer Landwirt mit Namen Franz Joseph Heinz, auch Heinz-Orbis genannt, die separatistischen Geschäfte. Der gewandte Volksredner machte sich als regionaler Bauernführer einen nicht unumstrittenen Namen, der Gerüchten zufolge bis an die Ohren Hitlers gedrungen sein soll. Unermüdlich geißelte er die reaktionäre, imperialistische und militaristische Politik Münchens und Berlins, die er für alle Übel in Deutschland verantwortlich machte.
In Speyer gelang es ihm tatsächlich, eine Zeitlang die Regierungsgewalt zu übernehmen und ein Programm vorzulegen, das unter anderem eine Preisfestsetzung vorsah und eine Einschränkung der Pressefreiheit beinhaltete. Diverse Sondergerichte und Kommissionen sollten seine Vorstellungen von einer autonomen Pfalz überwachen und umsetzen. Seine Ermordung am 9. Januar 1924 in einem Lokal in Speyer durch eine Kommandoaktion, bei der sich einer der Vordenker der Konservativen Revolution, Edgar Julius Jung, hervortat, verhinderte einen pfälzischen Sonderweg. Die letzten Anhänger Heinz-Orbis wurden durch einen Akt von Lynchjustiz in Pirmasens 1924 gewaltsam vertrieben und einige von ihnen ermordet.
Separatismus ist in Deutschland als politische Erscheinung ausschließlich in einer Ausnahmesituation aufgekommen bzw. überhaupt denkbar gewesen. Vergleichbares wie am Ende des Ersten Weltkrieges gab es nur noch ein einziges Mal im Fall der legendenumwobenen »Freien Republik Schwarzenberg« im Erzgebirge, wo 1945 insbesondere örtliche Kommunisten einen einmaligen historischen Augenblick ausnutzten, um die Amtsgeschäfte im Ort an sich zu reißen.
Separatismus ist ansonsten in Tradition und Struktur deutscher Staatlichkeit bis in die Bundesrepublik hinein nicht vorstellbar. Das Grundgesetz legt insofern davon beredtes Zeugnis ab, als daß es diese Frage nicht eigens behandelt und nur in Artikel 29 eine geregelte wie einvernehmliche Neugliederung der Bundesländer zuläßt.
Was aber, wenn sich eines Tages eine ähnliche Ausnahmesituation ergeben sollte wie nach den beiden Weltkriegen? Welche Selbstorganisation würde sich als Möglichkeit bieten, wenn die verfassungsmäßige Ordnung nicht mehr bestünde oder in weiten Teilen des Landes nicht mehr vorherrschte? Gehört Separatismus nicht in die Reihe der gewaltfreien Widerstandsmaßnahmen, die zu ergreifen dem Staatsvolk zusteht?
Ähnlich wie mit der Freiheit verhält es sich mit der Frage des Separatismus – nicht nur wovon, sondern auch wohin muß gefragt werden. Es gilt, die Zweischneidigkeit dieses Phänomens zu betrachten. Es war nicht nur rheinischer Humor, als man an Rhein und Ruhr in den Jahren um 1923 vom »Berliner Separatismus« sprach.