»Das ist der hinterhältigste Gebrauch von Holz seit dem Bau des Trojanischen Pferdes.« Mit diesen Worten kommentierte im Januar 1923 ein britischer Diplomat den französischen Entschluß zum Einmarsch in das deutsche Ruhrgebiet wegen angeblich fehlender Lieferungen von hölzernen Telegraphenstangen.
Als ob der deutsche Zusammenbruch von 1918 / 19 den Siegern nicht genug gewesen wäre, bereiteten sie die nächste Katastrophe vor. Der folgende Ruhrkampf warf dann tatsächlich die großen Streitthemen der europäischen Politik nahezu allesamt noch einmal auf und die innerdeutschen noch dazu.
Um mit der europäischen Politik zu beginnen: Die sozusagen gute Nachricht für die deutsche Seite bestand in den grundsätzlichen Streitigkeiten der ehemaligen Kriegsgegner, die jetzt offenkundig wurden. Deren Koalition war für den Moment zerbrochen. Es ging den verschiedenen Staaten um ganz eigene Ziele jenseits der Konstellation des Weltkrieges. In Großbritannien etwa sahen die Verantwortlichen zumindest für den Moment mit Deutschland keine besonderen Probleme mehr. Dessen Flotte war versenkt, die Kolonien eingezogen, die machtpolitische Rivalität beider Länder erst einmal eine Sache von gestern.
In Londoner Regierungskreisen empörte man sich über ganz andere Dinge. Während des Auftakts der Ruhrkrise tagte in Lausanne eine internationale Konferenz zum Thema Naher Osten und Türkei, die das Regierungshandeln mehr beschäftigte als der europäische Kontinent. Neben solchen intensiv betriebenen Versuchen, den Nahen Osten gewinnbringend zu strukturieren, gehörte für London das neue Verhältnis zu den Vereinigten Staaten zu den Problemen: Amerika war als Hauptsieger und Finanzplatz Nummer eins aus dem Weltkrieg hervorgegangen. Das britische Kabinett warf in dieser Phase – heute kaum zu glauben – sogar die Frage nach möglichen kriegerischen Verwicklungen mit den USA auf.
Die US-Regierung ihrerseits warf den europäischen Verbündeten schon bald nach Kriegsende unter anderem ihre schlechte Zahlungsmoral vor. Die gegebenen Kriegskredite wurden kaum bedient. Mochte auch Einigkeit darüber bestehen, die Deutschen und ihre neue Republik letztlich die Zeche zahlen zu lassen, so standen doch Frankreich und Großbritannien in Washington direkt in der Kreide, was sie offenkundig nicht abtragen wollten. Und dann kam noch ein Gutachten des mit der Untersuchung der Kriegsursachen von 1914 befaßten Senators Robert Owen dazu, in dem genau diese Staaten und das in revolutionären Wirren versunkene Rußland als die eigentlichen Verantwortlichen für den damals ausgebrochenen Konflikt ermittelt wurden. Washington hatte also nicht nur Staaten finanziert, die nachher ihre Schulden nicht zahlen wollten, sondern obendrein die während des Krieges beschworene Verteidigungsnot selbst verursacht hatten. Jedoch hielt sich die öffentliche Resonanz über diese Erkenntnis in Grenzen. Es konnten eben auch damals schon alle Beteiligten politisch besser leben, wenn die Deutschen die Schuldigen blieben.
Allerdings blieb mit Frankreich eine wichtige Macht übrig, die den Sieg von 1918 und den direkten Konflikt mit Deutschland als die weiterhin vorrangige Perspektive ansah. In Paris saßen die Verantwortlichen für den Kriegskurs von 1914 immer noch in Regierungsämtern, allen voran Raymond Poincaré als Staatspräsident bis 1920 und nun als Ministerpräsident während der Ruhrkrise. Elsaß-Lothringen hatte der französische Staat 1919 zurückgewonnen, aber dies schien nicht genug zu sein. Der französischen Regierung ging es um Substantielles in Form von neuen Grenzen, um Abspaltung der Saar, der Pfalz, des ganzen Rheinlands und wenn möglich eben auch des Ruhrgebiets.
Zugleich ermutigte die Regierung ihre östlichen Verbündeten in Prag und Warschau, ebenfalls mit Einmärschen auf deutsches Gebiet zu drohen. Unter solchen Vorzeichen blieben alle französischen Einzelforderungen nach Telegraphenstangen eben Vorwände und alle deutschen Angebote finanzieller Art nur Teil eines Spiels, das lediglich vordergründig um Vertragserfüllung und Zahlungsmodalitäten gespielt wurde. »Es gibt kein Äquivalent in Geld für die Besatzung«, erklärte Oscar Wassermann, Direktor der Deutschen Bank, Ende 1922 in einer der letzten Konferenzen vor der Ruhrgebietsbesetzung.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, wenn in Deutschland angesichts der Situation die gesamte innenpolitische Struktur erneut in Frage stand. Die Nation wurde angegriffen und wehrte sich auf allen Ebenen mit den Mitteln, die noch vorhanden waren. Dazu gehörte zunächst einmal der amtliche Protest auf allen internationalen Plätzen, verbunden mit dem Nachweis, daß die französische Aktion nach den bisher in der Nachkriegszeit getroffenen Regelungen illegal war. Dies ließ sich leicht nachweisen, weniger leicht indes ließen sich wirkliche Interessenten für diese Wahrheit finden.
Immerhin griffen nach einigen Wochen des Zögerns prominente Briten zur Feder und klagten die französische Aktion öffentlich an. Dazu gehörte mit David Lloyd George auch der frühere britische Kriegspremier. Es sei ganz und gar nicht hinnehmbar, wenn Frankreich auf unbegrenzte Zeit und ohne bestimmte Bedingungen zu nennen, das Ruhrgebiet als Pfand behalten wolle. Weder die britische noch die deutsche Regierung wüßten verbindlich, was Frankreich eigentlich wolle. Dies sei nie formuliert worden.
Appelle der deutschen Sozialdemokratie an die vermeintlichen Klassenverbündeten der französischen Arbeiterschaft ergingen ebenfalls, blieben aber ohne besondere Resonanz. Den von den Gewerkschaften eingangs vorgelegten Plan für einen radikalen Generalstreik hatte dagegen die deutsche Regierung verworfen. Eine direkte militärische Abwehr des französischen Vormarschs wurde von Reichswehrchef Seeckt zwar wohl erwogen, aber als zu risikoreich verworfen. Immerhin wurde aktiviert, was sich als »Schwarze Reichswehr« den Abrüstungsbestimmungen der Siegermächte bis dahin entzogen hatte und in einem überparteilichen Konsens auf verdeckte Art finanziert worden war.
Auf Druck des Auslands hatte man die unmittelbar nach dem Krieg jenseits der Streitkräfte gebildeten Freikorps inzwischen weitgehend aufgelöst, aber die Einsatzbereitschaft der früheren Mitglieder war weiterhin vorhanden. Mit Zustimmung des Reichspräsidenten Ebert, des preußischen Ministerpräsidenten Braun und des Innenministers Severing wurden im Frühjahr 1923 sogenannte Zeitfreiwilligenverbände aufgestellt. Zugleich verkündete die deutsche Regierung, für die Zeit der französischen Ruhrgebietsbesetzung keine der üblichen Kontrollfahrten alliierter Offiziere im Land mehr zuzulassen, die seit 1919 die deutschen Rüstungsaktivitäten überwachten.
Reichswehrchef Seeckt verbot andererseits romantische Pläne einer bewaffneten Volkserhebung und auch weitergehende Pläne einer Art »Sizilianischen Vesper« im besetzten Ruhrgebiet. Der Industrielle Fritz Thyssen und der frühere General Freiherr Oskar von Watter hatten diesen Gedanken ins Spiel gebracht, um die Franzosen vor Ort nach mittelalterlichem Vorbild in einem allgemeinen Gemetzel untergehen zu lassen, auch die Zivilisten. Dennoch griffen manche Freikorpsmitglieder immer wieder zur Waffe und besonders zum Sprengsatz, um die französische Besatzung zu erschüttern und Kohletransporte mit der Eisenbahn ganz direkt zu sabotieren. Dies führte wie stets zu Gegenterror der Besatzungsmacht. Verhaftungen und Todesurteile der Widerständler folgten. Aber nur eines der ausgesprochenen Todesurteile wurde vollstreckt, und zwar an Albert Leo Schlageter am 26. Mai 1923.
Insgesamt begrenzte Seeckt die militärischen Vorbereitungen auf die Verteidigung des bisher noch unbesetzten Staatsgebietes gegen weitere Übergriffe aus Ost und West, dachte aber in Richtung Osten durchaus über offensive Handlungen nach. Mindestens in Prag hatte die Regierung verstanden, welches Risiko sie bei einer Beteiligung an den französischen Unternehmungen für den eigenen, eben erst geschaffenen Kunststaat »Tschechoslowakei« eingehen würde. Sollte die Ruhrkrise doch noch in einen allgemeinen Krieg münden, stand alles auf dem Spiel.
Im Vorjahr hatte alliierter Druck gerade erst die deutsch-sowjetische Allianz von Rapallo zustande gebracht. Auch jetzt ließ die sowjetische Machtzentrale lebhaftes Interesse an den Vorgängen in Mitteleuropa erkennen, spielte ihr übliches doppeltes Spiel, revolutionäre Aktivitäten zu fördern und sich zugleich auf staatlicher Ebene seriös zu geben. Natürlich wäre ein Zusammenbruch der Nachkriegsordnung nebst kriegerischen Verwicklungen für Moskau aber hoch willkommen gewesen.
Ungeachtet aller solcher Aktivitäten, rief die Berliner Regierung offiziell den Boykott der Zusammenarbeit mit den französischen Besatzern aus. Es galt anfangs als unmöglich, daß Frankreich und das ebenfalls am Einmarsch beteiligte Belgien die Verwaltung des Ruhrgebiets mit eigenem Personal organisieren könnten. Passiver Widerstand sollte sie so unattraktiv wie irgendwie möglich werden lassen und die Besatzer idealerweise zum Rückzug bewegen. Dieser Schritt blieb letztlich nach außen weitgehend erfolglos. Er war sozusagen eine Frühform solcher Sanktionen, die Deutschland selbst wesentlich stärker trafen als den Gegner.
Mochte die Verwaltung des Ruhrgebiets schwierig sein und der Lieferboykott die französische Wirtschaft belasten, so bedeutete er für Deutschland das wirtschaftliche Aus. Dies wurde schnell absehbar und förderte eher die französische Bereitschaft zu bleiben, als zu gehen. Gegen Ende des Jahres trat dann die Hyperinflation der Reichsmark ein, die den deutschen Staat nach innen entschuldete, seinen Bürgern aber das gesamte ersparte Vermögen nahm. Auch das erschütterte noch einmal das Vertrauen in die Republik, die den Ruhrkampf am Ende nicht gewinnen konnte.
Erst nach der Anerkennung einer astronomischen Schuldensumme räumten die Besatzer nach zwei Jahren schließlich das Ruhrgebiet. Das Trojanische Pferd zur Unterwanderung der deutschen Leistungsfähigkeit war danach nicht mehr aus Holz, sondern bestand in dem 1924 unterzeichneten Dawes-Plan. Künftig hing die deutsche Liquidität an amerikanischen Krediten, deren Rückruf fünf Jahre später dann 1929 die finale Krise der Republik einläutete.