Aufgrund der Westbindung der Bundesrepublik Deutschland wurde auch der deutsche Konservatismus US-amerikanisch geprägt, obwohl ein solcher eigentlich die Wahrung eigener Interessen und Traditionen zur Aufgabe hätte. Vor allem Christdemokraten und Liberalkonservative haben die Denkmuster neokonservativer US-Republikaner und oftmals auch deren US-Patriotismus verinnerlicht. Dabei übersehen sie, daß der Neokonservatismus längst nicht die einzige Spielart des US-Konservatismus darstellt und seine Vormachtstellung überdies gefährdet ist. Denn auch in Übersee treten vermehrt Bruchlinien auf, die man in der Nachkriegszeit des gemeinsamen kommunistischen Gegners wegen zugekleistert hatte.
Maßgeblich beeinflußt durch das Magazin National Review des sich selbst als konservativ und libertär bezeichnenden Journalisten William Frank Buckley Jr., fanden in den 1950er Jahren ökonomischer Libertarismus, Antikommunismus bzw. Interventionismus und traditioneller Konservatismus unter dem Dach der Republikaner zusammen. Die philosophische Grundlage für diesen sogenannten fusionism lieferte Buckleys Mitarbeiter Frank Straus Meyer, der sich während des Krieges vom Kommunisten zum Libertären gewandelt hatte: In seinem Buch In Defense of Freedom (1962) erkennt er zwar die Notwendigkeit eines tugendhaften, sittlichen Lebens an, will dessen Gestaltung aber dem einzelnen überlassen, da sich der Staat nur um die Verteidigung der Freiheit durch Polizei, Militär und Justiz zu kümmern habe.
Er schuf eine »Synthese aus traditionellem und libertärem Denken«, wie es Ronald Reagan in einer seiner ersten Reden als US-Präsident 1981 ausdrückte, in der er Meyer lobend hervorhob. Das verdeutlicht, daß sich Meyers fusionism innerhalb der Republikaner durchgesetzt hatte und diese bis heute prägt. Dabei gerieten vor allem die traditionellen Konservativen unter die Räder, wohingegen Interventionisten und Libertäre die Oberhand gewannen, nicht zuletzt durch Unterstützung des mächtigen militärisch-industriellen Komplexes.
Die Kritik am fusionism ließ daher nicht lange auf sich warten: Noch zu Lebzeiten Meyers betonte etwa der Theoretiker Russell Kirk die geringen Schnittmengen zwischen konservativem und libertärem Denken. Später versuchten die sogenannten Paläokonservativen wie zum Beispiel der Philosoph Paul Gottfried und der mehrfache Präsidentschaftskandidat Pat Buchanan die neokonservative Dominanz zu brechen. Letzterer verließ 1999 die Republikaner und gründete drei Jahre später mit zwei Journalisten das Magazin The American Conservative als Gegenstimme zur neokonservativen Unterstützung der bevorstehenden Irak-Invasion.
Auf diese jahrzehntelange publizistische und politische Vorarbeit folgte mit der Präsidentschaftskandidatur von Donald J. Trump ein erster Durchbruch. Auch wenn den markigen Reden im Wahlkampf die entsprechenden Handlungen als Präsident fehlten, so popularisierte Trump doch die Kritik am republikanischen Mainstream und erweiterte den Resonanzraum jener Strömungen, die nun unter Bezeichnungen wie common good conservatism, Nationalkonservatismus, Sozialkonservatismus oder Postliberalismus an Zustimmung gewinnen.
Deren gemeinsamer Nenner ist die Aufkündigung des fusionism: Von dessen drei oben genannten Bestandteilen lehne man die »Ideologie der freien Marktwirtschaft« und die »liberale interventionistische Außenpolitik« ab, wie es der Politikwissenschaftler Patrick J. Deneen auf dem kommunitaristischen Blog »Front Porch Republic« ausdrückt. Statt dessen solle der Fokus auf eine »stärker national ausgerichtete politische Ökonomie, die sich am Gemeinwohl der Bürger, Familien und Gemeinden orientiert«, sowie auf eine »Außenpolitik, in der Amerika weniger imperial und mehr defensiv ist«, gelegt werden. Die Vertreter des common good conservatism sehen sich daher auch als Anwälte der mehrheitlich weißen Unter- und Mittelschichten der flyover states zwischen den urbanen, progressiven Küsten. Im Zuge der Deindustrialisierung vor allem der nordöstlichen Bundesstaaten stiegen dort Arbeitslosigkeit, Alkohol- und Drogenmißbrauch sowie die Zahl zerrütteter Familien an.
Deren Elend veranschaulichte der inzwischen zum Senator von Ohio gewählte James David Vance in seiner Familiengeschichte Hillbilly-Elegie (2017). Auch wenn Vance selbst damals ein ausgesprochener Gegner Trumps war, wurde sein Buch häufig zur Erklärung für die hohe Zustimmung herangezogen, die Trump von der weißen Arbeiterschaft erhielt. Daraus leiten mehrere Publizisten und Wissenschaftler, darunter auch Deneen, in einem programmatischen Aufsatz im theologischen Magazin First Things das große Potential einer politischen Bewegung ab, die sich der Bedürfnisse der Arbeiter annehme und diese nicht als »austauschbare Wirtschaftseinheiten« ansehe. Die Autoren konstatieren, daß es »keine Rückkehr zu dem konservativen Konsens aus der Zeit vor Trump« und zu einem »aufgewärmten Reaganismus« geben könne. Dieser Konsens habe »vor der Pornographisierung des Alltags, vor der Kultur des Todes, vor dem Kult des Wettbewerbs« und vor dem Multikulturalismus kapituliert. Sie dagegen wollen sich einem »tyrannischen Liberalismus« und dem »utopischen Ideal einer grenzenlosen Welt« widersetzen.
Die daraus folgende Bandbreite politischer Ziele faßt die Publizistin Stephanie Slade in einem kritischen Kommentar für das libertäre Magazin Reason zusammen: »In wirtschaftlicher Hinsicht lehnt der Postliberalismus die Doktrin der ›entfesselten‹ freien Märkte ab, zugunsten von Zöllen, einer ›Industriepolitik‹, die amerikanische Hersteller angesichts der Konkurrenz aus Übersee unterstützen soll, Lohnsubventionen und ähnlichem. In sozialen Fragen befürwortet er alles von Sittengesetzen über eine Rücknahme von Ehescheidungen ohne Schuldfrage bis hin zu stärkeren Einschränkungen der Redefreiheit aus Gründen der öffentlichen Moral sowie (vor allem unter einer regen Gruppe radikaler Katholiken) die Einführung eines konfessionellen Staates und vielleicht sogar eines christlichen Monarchen.«
Sowohl die eigenen Aussagen als auch die Fremdzuschreibungen deuten darauf hin, daß es nicht nur um eine Kurskorrektur der Republikaner geht, sondern um einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel, was auch die Debatte über die Interpretation der US-amerikanischen Verfassung belegt. Da diese den Geist der Aufklärung atmet und vor allem von den Philosophien John Lockes und Montesquieus geprägt ist, stehen postliberale US-Konservative vor einem Legitimationsproblem. Im Gegensatz zu den meisten Neokonservativen folgen sie nicht der originalistischen Rechtsschule, die die Verfassung nach den ursprünglichen, also aufklärerischen Vorstellungen ihrer Autoren auslegt. Postliberale fordern statt dessen eine am Gemeinwohl ausgerichtete Lesart, wobei sie dafür jedoch unterschiedliche Bezugspunkte wählen: Der Philosoph Yoram Hazony und der Rechtswissenschaftler Josh Hammer ziehen Edmund Burke heran, der Verfassungsrechtler Adrian Vermeule ist von Carl Schmitt geprägt. Deneen, der Philosoph Ryan Anderson und andere berufen sich auf das Naturrecht im Sinne von Aristoteles und Thomas von Aquin. Letztere nähern sich damit dem katholischen Integralismus an, obwohl dieser nicht direkt als Position in der Debatte zu finden ist, da er keine andere Verfassungsinterpretation beinhaltet, sondern die Trennung von Kirche und Staat aufheben möchte.
Die heutigen Integralisten, etwa der Dominikaner Thomas Crean und der Theologe Alan Fimister, kündigen damit einen weiteren Konsens auf: die Akzeptanz des liberalen, pluralistischen Staatsverständnisses in den USA durch die Katholiken, maßgeblich erwirkt im frühen 20. Jahrhundert durch den liberalen Jesuiten John Courtney Murray, obwohl dies Papst Leo XIII. zuvor unter dem Begriff »Amerikanismus« verurteilt hatte.
Die (rechts-)philosophischen Unterschiede ziehen auch verschiedene politische Strategien nach sich: Hazony und das Umfeld der von ihm geleiteten Edmund Burke Foundation plädieren für einen angelsächsisch geprägten Nationalismus und suchen über ihre jährliche National Conservatism Conference Anschluß an europäische Vorbilder, allen voran an Viktor Orbán, der auf der Konferenz 2020 in Rom gesprochen hat. Deneen hingegen schlägt in seinem Buch Warum der Liberalismus gescheitert ist (2019) vor, postliberale Politik nicht auf einer umfassenden Theorie aufzubauen, sondern durch Praxis, Erfahrung und von unten nach oben entstehen zu lassen, konkret durch den Aufbau lokaler, intentionaler Gemeinschaften. In einer Replik auf Deneen im American Affairs Journal spricht sich Vermeule wiederum dafür aus, »die Institutionen der alten Ordnung, die der Liberalismus selbst geschaffen hat, zu übernehmen« und sie auf das Gemeinwohl auszurichten.
Welcher von diesen verschiedenen Ansätzen sich letztlich durchsetzen wird, hängt auch davon ab, ob sich im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfes 2024 eine weitere Tür für einen postliberalen, am Gemeinwohl orientierten Konservatismus öffnen wird. Es wäre nicht nur für die Vereinigten Staaten positiv.