Zunächst lag es daran, daß der Gründer des jungen Kanon-Verlags (*2020) hervorragend vernetzt ist. Verleger Gunnar Cynybulk war in leitender Position sowohl bei Aufbau, dann bei Ullstein tätig, bevor er seinen eigenen Verlag gründete. Fast alle seiner (noch wenigen) Bücher wurden landauf, landab prominent besprochen. Von solcher Medienpräsenz können andere „unabhängige Verlage“, zumal nicht-linke, nur träumen! Auch Oh Boy wurde gefeiert.
Nun wurde die Auslieferung gestoppt, und das ist dann doch etwas mehr an Aufmerksamkeit, als für einen Verleger wünschenswert ist. Was ist da los?
Oh Boy versammelt achtzehn Autoren, die je kleine Aufsätze zum Thema „Männlichkeit*en [sic] heute“ lieferten. Klappentext, Auszug:
Ein Mann, der sich die eigene Übergriffigkeit eingesteht. Eine non-binäre Person, die ihr Genital nicht googeln kann. Ein Gefangener zwischen Krieger oder Loser. Diese Texte erzählen von männlichem Leistungsdruck, von Männerfreundschaften, Söhnen und ihren Vätern. Sie ergründen die Kapitalisierung von Männlichkeit, beschreiben Intimität und Verlust. Künden von dem gelernten dröhnenden Schweigen, das sich auflöst, sobald sich diese 18 Erkundungen zusammensetzen .
Ich habe vor etwa zehn Jahren mein schmales, mehrfach aufgelegtes Büchlein Gender ohne Ende – Was vom Manne übrigblieb verfaßt, und ehrlich gesagt, interessiert mich das Thema (Männlichkeit/Weiblichkeit) noch immer. Wie steht es denn heute um die Männer? Wie definieren sie sich selbst?
Kurz gesagt: Es ist apokalyptisch. Die Männer und ihre „Männlichkeit:en“ sind total auf den Hund gekommen.
In Oh Boy sind fast ausschließlich zarte Gemüter unterwegs. Das darf durchaus sein, einige Beiträge sind bei aller Männlichkeitsklage interessant und kunstvoll – etwa der kurze Text des schwerkranken Peter Wawerzinek, der des nordrheinwestfälischen Gabelstaplerfahrers und Schriftstellers Dincer Gücyeter (dessen als „Sippenältester“ verehrter Urgroßvater vier Frauen hatte, von denen eine an Blutungen nach erzwungenem Analverkehr starb) oder der nachdenkliche Text des in Kolumbien geborenen Philosophen Hernán D. Caro über den eigenen Vater.
Diese Autoren sind nun mitgefangen in einem ultrawoken Szenario. Etwa die Hälfte der Autoren ist schwul oder „queer“. Repräsentativ ist dies also schonmal nicht.
Die Leute, die sich hier äußern, bekunden „absichtlich leise zu sprechen“ (weil das den Vater „zur Weißglut treibt“) und daß „sie fast alle von Nazis abstammen. Ganz Deutschland hat Longnazi.“
Das behauptet Friedemann Karig, der angibt (manche Texte spielen mit Fiktionalität), als „Hure“ zu arbeiten. Er sagt das seinem Vater – allgemein geht es in diesem Buch oft um „Aufarbeitungen“.
Wo die hier vertretenen „Männlichkeit:en“ nicht weinerlich oder zickig auftreten, ergehen sie sich in grotesken Obszönitäten.
Ein Thomas Köck beschreibt ausgiebig, wie es sich anfühle, „beim Sex penetriert“ zu werden, er berichtet über „Orgasmen“ und „systemerhaltende quickies“;
der Bestsellerautor Daniel Schreiber läßt seinen Protagonisten Noah sich fragen, ob er wohl einfach schon mit zu vielen Männern geschlafen habe und läßt ihn in seinem Text Schluß machen mit seinem „weinenden, zitternden“ Freund, der doch so wunderschön aussah in seinem „blütenrein weißen Tüllkleid“;
ein anderer Autor beklagt sich, wie sehr er seine ganze Jugend unter „Heteropropaganda“ gelitten habe; Mitherausgeber Donat Blum erinnert sich daran, wie ihm die Jungs im Sportunterricht immer die Unterhose wegnahmen; ein Transmann berichtet Explizites aus schwulen Darkrooms.
Viele Texte klingeln mit anglophonen Interjektionen wie „that´s fucked up“, „OMG“, „no matter what“. Insofern – alles schön zeitgeistkonform.
Warum aber wurde die Auslieferung nun unterbunden? Weil einer der beiden Herausgeber, Valentin Moritz, sich nicht entblödet hat, sich in seinem eigenen Beitrag selbst reumütig per Innenschau als „Täter“ zu enttarnen. Täter, wie? Gegen das weibliche Selbstbestimmungsrecht!
Die Sachlage ist so komisch, daß man gern einmal die selten gebrauchte Metapher des „sich Totlachens“ verwenden will. Also: Eine Frau hat nun den Verkauf dieser butterweichen Männerpublikation ausgebremst, weil sie sich als Sex-Opfer von Moritz empfindet.
Bereits im Sommer 2022 hatte, wie nun bekannt wurde, das „Opfer“ dem „Täter“ signalisiert:
Ich möchte nicht, dass du den Übergriff, egal wie anonymisiert auch immer, benutzt. […] Wie auch schon während des Gesprächs formuliert – du kannst keinen Profit aus deiner Täterschaft machen und mich zusätzlich auch noch belasten.
Himmel. Täterschaft! Es muß etwas wirklich Krasses vorgefallen sein, oder? Schauen wir mal. Der Text von Valentin Moritz in Oh Boy beginnt (und, pardon, bleibt) etwas peinlich:
Vor einiger Zeit sagte ich zu der Frau, die ich damals liebte, dass ich mich selbst nicht für einen glücklichen Menschen halte. Autsch!
Es geht dann im Weiteren um männliche Reue, Selbstfindung, um Verlustängste, Selbstzweifel, Erektionsstörungen, also um Zeug, um das es bereits in Männergruppen anno 1970 ging.
Frauen gegenüber fällt es mir leichter, Schwächen und Fehler einzugestehen oder intime Peinlichkeiten auszusprechen. Warum berichte ich nur meiner Exfreundin davon, als ich zum Urologen gehe, weil ich mich auf einer Autofahrt unkontrolliert eingepisst habe!
Das ist … verstörend, es ist arg. Es wird aber noch ärger, nämlich angesichts der Schlagzeilen, aufgrund derer dieses Buch nun tatsächlich vom Markt genommen wurde. Ein Beispiel, welt.de:
Erst fasste er sie an. Dann schrieb er darüber. Beides gegen ihren Willen.
Was war passiert? Das: Herr Moritz hat einmal eine Frau belästigt. (Also: Da war nichts, was auch nur entfernt in Richtung Vergewaltigung gehen könnte.) Nur, O‑Ton Herr Moritz:
Ich bin Täter geworden. Ich habe ungefragt eine Grenze überschritten. Indem ich meinen eigenen Trennungsfrust nicht verarbeitet habe, wurde eine Frau, die nichts mit meinen Problemen zu tun hatte, zum Ziel meiner unterdrückten Wut: Ich berührte ihren Körper in einer Situation, in der ich hätte ahnen können, dass sie das nicht wollte, und als sie sich meinem Willen entzog, habe ich mich feige und wortlos davongemacht. Ich will kein Täter sein, aber ich bin mindestens einmal einer gewesen. Ich habe einen sexualisierten Übergriff begangen.
Daraufhin folgen lange Seiten schamhaftester Reue, peinvoller Introspektive. Ein Mensch kann sehr tief sinken!
Es ist verwirrend, die Worte zu schreiben. Ich habe das Gefühl, in einer Zwickmühle zu stecken, umgeben von einem riesigen Minenfeld. (…) Ich bin Teil des Problems. Teil des Patriarchats. Und damit Teil der Rape Culture.
Oh Boys, nun ist es also aus. Die „Jungs“ (das Durchschnittsalter der Beiträger liegt deutlich über 40) haben sich verquatscht.
Too much waren nicht die Blasexzesse des brustamputierten Transmanns, der kurz davor noch „eine junge hotte Frau mit prallen großen Brüsten“ war. Too much war auch nicht das hysterische Gedankengesplatter eines Kim de l’Horizon (vgl. zu diesem preisgekrönten Autoren Sezession 111), das ungefähr so klingt:
Nach diesem letzten Burnout also habe ich mich mit meinem Körper hingesetzt und habe ihm gesagt, meinem Körper, MEIN LIEBER KÖRPER DER ICH BIN (UND NICHT HABE) habe ich gesagt ICH SCHREIBE NICHT MEHR ÜBER DICH SONDERN NUR NOCH MIT DIR LIEBER K ICH VERSPRECHE ES und deshalb muß ich sagen, dass ich, seit ich um diesen Text tigere und eigentlich über meine [insert feelings] schreiben WOLLTE (…)
Too much war, daß ein Mann darüber schrieb, wie er einmal den Körper einer Frau (die völlig anonym bleibt und mit keinem Wort näher beschrieben wird) ungefragt berührt habe – die Frau fühlt sich nun dadurch retraumatisiert.
Weil der Autor, selbst traumatisiert durch seine eigene Übergriffigkeit, nach dieser seiner Schreibtherapie das Verletzungspotential seines Textes geahnt hatte, hatte er angeboten, seinen Beitrag vor Drucklegung zurückzuziehen.
Der Verlag entschied dagegen und bittet das Berührungsopfer nun kleinlaut um Entschuldigung. Wir sind weit gekommen.
Niekisch
"Gunnar Cynybulk: Die beiden bringen einen Stimmenteppich zu Gehör, nämlich aus Briefwechseln zwischen Verlagsmitarbeitern und Autoren. Und nach dem Festakt wollen wir feiern. Mit Berliner Verlagskollegen und denen, mit denen wir zusammenarbeiten und die unsere Bücher hinaus in die Welt tragen. Mit Buchhändlern, Übersetzern, Journalisten und natürlich Autoren. Es wird eine „Blumenbar“ auf unserer Terrasse geben und einen Aufbau-Drink auf Wodka-Basis. Für die Musik sorgt die Bolschewistische Kurkapelle."
https://buchmarkt.de/menschen/gunnar-cynybulk-und-reinhard-rohn-zu-70-jahre-aufbau-ein-verlag-mit-geschichte/<
Noch Fragen zu diesem Thema, das unsereinen bis auf die Erektionsfähigkeit und die übrige Normalbevölkerung ebenfals in dieser Teilfrage und ansonsten überhaupt nicht betrifft?