Und mehr: Man begreift, daß diese Schöne Literatur nicht nur Beiwerk und Zeitvertreib war, sondern wesentlich, zutiefst inspirierend, Bilder stiftend wahrgenommen wurde – von einem messerscharfen Geist, dem man vieles zutraute, aber kaum einen feinstfühligen Sinn für Dichtung und ein empathisches Wiedererkennen der eigenen Lage in dem, was literarische Figuren vorlebten.
Mit der existentiellen Begeisterung für solche Lektüre-Fundstücke ist nicht die Illustrierung des eigenen Denkens durch Roman-Reminiszenzen gemeint. Schmitt las so, wie Botho Strauß es einmal ausdrückte: daß nämlich die Unschärfe das Genaue sei, indem der ausfransende Rand des in den Fokus genommenen Bildes jäh und durchdringend »das Ganze« erfasse. Das meint auch der Verfasser der vorliegenden Arbeit, Andreas Höfele, wenn er festhält, daß bei Schmitt die Literatur nicht aus der »Kampfzone des Politischen« ausscheide: »Vielmehr sieht Schmitt in ihr die Konfliktkonstellationen des Zeitgeschehens, die Umbrüche und Erschütterungen der gesellschaftlichen Welt oftmals seismographisch genauer registriert als in wissenschaftlichem Schrifttum.«
Beispiele, nicht nur von Schmitt: Ernst Jünger hat die grauenerregende Erzählung Edgar Allen Poes vom »Mahlstrom« immer wieder als Haltungslehre einer rettenden Distanz aufgerufen. Wer in den Mahlstrom geraten sei, müsse ebenso handeln wie der Erzähler. Der nämlich habe auf der rasenden Fahrt in den Strömungstrichter den Kopf nicht verloren, sondern entdeckt, daß man sich nur retten könne, indem man das vermeintlich sichere, im Strudel aber viel zu schwerfällige Schiff aufgebe und sich, mit leichtem Gepäck auf sich selbst gestellt, nach oben ziehen lasse. Wer an Bord blieb, ging unter. (Daß dieser Sprung aus dem Gehäuse den Mann fürs Leben zeichnete, gehört zur Erzählung unbedingt dazu.)
Ähnlich hart wird Schmitt von Bildern, Szenen, Figuren gepackt. Sie dienen der Selbstverortung. Benito Cereno ist eine davon. Herman Melvilles nach dieser Hauptfigur benannte Novelle schildert die Lage eines nach einer Meuterei mit dem Tode bedrohten Kapitäns, der nur solange am Leben gelassen wird, solange er das Schiff navigiert und vor Fremden den nach wie vor freien Mann spielt. Dem an Bord gerufenen amerikanischen Kapitän eines anderen Schiffes enthüllt sich in der Tat die Lage nicht. Im allerletzten Moment erst stürzt die Kulisse. Alles, was zuvor wie verschleiert, aber möglich wirkte, klärt sich schlagartig auf eine Weise, die nur eine Frage übrigläßt: Wie konnte man sich je so blenden lassen?
Melvilles Novelle aus dem Jahr 1856 erschien erst 1938 in deutscher Übersetzung. Schmitt entdeckte sie drei Jahre später und sandte den Band sofort an Jünger, mit den Worten, er sei von dem »ganz ungewollten, hintergründigen Symbolismus der Situation als solcher ganz überwältigt«, und sah sich selbst als einen von Massen entmachteten und zur Wahrung des Scheins gezwungenen Kapitän – sprach sich aber selbst die Fähigkeit zu, den »ungewollten« Symbolismus aus der Novelle Melvilles herauszulesen, also mehr in ihr aufzufinden, als der Autor in sie hineingeschrieben habe.
So war Schmitt. Man sollte sein Verhältnis zur Literatur als »hochgradig ichbezogen« begreifen, wie es der Verfasser der vorliegenden Arbeit empfiehlt. Schmitt suchte, wie Jünger, lesend nach sich selbst. Daß dieses Lesen auf sein eigenes Arbeiten zurückwirkte, ist letztlich ein Ausdruck großer Wertschätzung den Werken anderer gegenüber.
(Daß ein solches Lesen und ein offenherziges Kundtun der Behaustheit in der Literatur verwundbar machen, ist offensichtlich. Aber auch hierzu findet sich bei Höfele eine kluge Einordnung: »Vom Leviathan ausgespien, findet man in der Literatur ein Refugium.« So ist es, und wenn dieses Verhaltensbeispiel in unsere Tage übertragen werden darf, dann erschließt sich, warum unsere Zeitschrift und unser Verlag je länger, je mehr Belletristik vorzustellen und zu verlegen versuchen.)
Höfeles Untersuchung beginnt bei den frühen literarischen Versuchen Schmitts, seinem Hang zur Parodie, erkundet seine Begeisterung für das kaum lesbare Megagedicht »Nordlicht« von Theodor Däubler, wandert an der Auseinandersetzung mit Franz Blei und der Freundschaft mit Hugo Ball entlang und mündet in die katholische Lyrik des »schwäbischen Epimetheus« Konrad Weiß, den man (auch ein großer Nutzen dieses Buches) mit Schmitt wiederentdecken mag. Zuletzt dann: späte Kafka-Lektüre und die Adaption von Rollen eines Verfolgten, eines »Wilds«.
Höfele, der Vorsitzender der Shakespeare-Gesellschaft war, kommt natürlich auf Schmitt-Othello und Schmitt-Hamlet sehr ausführlich zu sprechen. Daß im Gang seiner Untersuchungen so hermetische Denkfiguren wie die vom Feind als der »eigenen Frage als Gestalt« und »Deutschland ist Hamlet« klärend erörtert werden, ist mehr als Beifang: Man wird gründlich daran erinnert, woher Schmitt das hatte, woher es kam und wie ernst er es nahm. Daher rührt denn auch Schmitts weiterer superlativer Ruf: Er sei nicht nur der gefährlichste und der meistbearbeitete, der monströseste und der klügste, sondern auch der am meisten literarische politische Denker des 20. Jahrhunderts.
– –
Andreas Höfele: Carl Schmitt und die Literatur, Berlin: Duncker & Humblot 2022. 523 S., 49,90 €
Dieses Buch können Sie auf antaios.de bestellen.