In den letzten Jahrzehnten ist dieses Projekt vor allem durch einen technokratisch-ökonomistischen Grundzug geprägt, mithin durch einen unübersehbaren Hang zum Zentralismus. Die unifizierenden Tendenzen dürften sich in näherer Zukunft verstärken, wenn die Zahl der EU-Mitgliedsstaaten (Balkan-Länder, Ukraine) weiter ansteigt. Immer mehr Sachbereiche werden dann wohl nach dem Prinzip der Einstimmigkeit geregelt werden. Es bleibt abzuwarten, ob die zunehmend zentrifugalen Kräfte zentripetale Gegengewichte hervorbringen.
Angesichts der aktuellen Entwicklungen, die durch den Krieg im Osten Europas eine maßgebliche Wende erfahren haben, ist es reizvoll, die Grundsätze von Identität und Differenz aus geschichtlicher Warte zu erörtern. Im Hintergrund ist die Frage stets präsent: Welches Proprium besitzt Europa und auf welche Weise kann dieses in politisch-institutionelle Prozesse implementiert werden?
Der Historiker Frank-Lothar Kroll untersucht in seinem weit ausgreifenden Essay Räume, Grenzen, Ideen, Grundkräfte, Spannungsfelder, kulturelle Prägungen, Identitäten, Alteritäten und Differenzen, ohne die Europas Geschichte nicht vorstellbar ist.
Die Prinzipien von Identität und Differenz sind in der europäischen Geschichte zu allen Zeiten, wenngleich in unterschiedlicher Weise, präsent. Kulturelle Strömungen wie das Christentum sorgten über Jahrhunderte, ungeachtet aller inneren Vielgestaltigkeit, für grundsätzliche Übereinstimmungen. Längst ist das Gefühl, einem westlich-abendländischen Kulturraum zugehörig zu sein, das in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg im freien Europa verbreitet war, einer Vorstellung gewichen, Teil des transatlantischen Wertewestens zu sein.
Weiter war man sich seit der Antike stets der Unterschiede zu anderen Kulturräumen bewußt. Die Abgrenzung eines (verschieden nuancierten) europäischen Freiheitsgefühls etwa zur »asiatischen Despotie« zeigte sich im verbreiteten Antibolschewismus der 1950er Jahre ebenso wie in der gegenwärtigen Front gegen Putins Rußland. Kroll beschwört diese mehrmals in polemischer Weise. In der Unfähigkeit, die Hintergründe des aktuellen Krieges ausreichend zu reflektieren, liegt eine Schwäche des in der Regel kenntnisreich argumentierenden Autors.
Die Divergenzen Europas gründen vor allem in verschiedenen historischen Erfahrungen. Vereinfacht stechen drei größere Räume hervor: der Westen Europas mit seiner nach 1789 auffallenden Nähe zu den Vereinigten Staaten; die Mitte, insbesondere Deutschland, mit seinem zeitweisen Schaukelverhalten zwischen Ost und West; der Osten des Kontinents. Letzterer war lange Zeit stark geprägt vom orthodoxen Christentum; im Kalten Krieg wurde er jedoch von kommunistischen Einflüssen nachhaltig dominiert.
Die Ost-West-Spaltung ist ein Signum auch der unmittelbaren Gegenwart. Im Unterschied zu den Jahrzehnten vor 1989/90 ist das dem Westen verbundene Europa nach Osten gerückt. Solche Veränderungen bleiben auf die innere Verfassung der EU, ja sogar auf die europäische Sicherheitsarchitektur insgesamt nicht ohne Auswirkungen.
Nach der Analyse grundlegender historischer Entwicklungen kommt der Autor zu differenzierten Schlußfolgerungen im Hinblick auf Lehren, die daraus heute zu ziehen sind: EU und NATO betrachtet er – erst recht nach dem russischen Einmarsch 2022 – für unverzichtbar, auch bezüglich der ökonomischen Effekte. Der Weiterentwicklung der EU zu einem Großstaat, der die gewachsenen nationalen Identitäten ignoriert, erteilt er indessen eine Absage. Die wichtigen Überlegungen Krolls können nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine integrale Geschichte Europas entlang den Ideen Freiheit, Nation und Einheit nicht ohne Schwierigkeiten zu schreiben ist.
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Frank-Lothar Kroll: Identität und Differenz. Das Problem einer integralen europäischen Geschichte, Berlin: BeBra Verlag 2023. 272 S., 26 €
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