Frank-Lothar Kroll: Identität und Differenz

von Felix Dirsch --

Die Organisation des eigenen Kontinents in politischer, sozialer, wirtschaftlicher und sonstiger Hinsicht ist eine zentrale Aufgabe der europäischen Staaten seit 1945.

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In den letz­ten Jahr­zehn­ten ist die­ses Pro­jekt vor allem durch einen tech­no­kra­tisch-öko­no­mis­ti­schen Grund­zug geprägt, mit­hin durch einen unüber­seh­ba­ren Hang zum Zen­tra­lis­mus. Die uni­fi­zie­ren­den Ten­den­zen dürf­ten sich in nähe­rer Zukunft ver­stär­ken, wenn die Zahl der EU-Mit­glieds­staa­ten (Bal­kan-Län­der, Ukrai­ne) wei­ter ansteigt. Immer mehr Sach­be­rei­che wer­den dann wohl nach dem Prin­zip der Ein­stim­mig­keit gere­gelt wer­den. Es bleibt abzu­war­ten, ob die zuneh­mend zen­tri­fu­ga­len Kräf­te zen­tri­pe­ta­le Gegen­ge­wich­te hervorbringen.

Ange­sichts der aktu­el­len Ent­wick­lun­gen, die durch den Krieg im Osten Euro­pas eine maß­geb­li­che Wen­de erfah­ren haben, ist es reiz­voll, die Grund­sät­ze von Iden­ti­tät und Dif­fe­renz aus geschicht­li­cher War­te zu erör­tern. Im Hin­ter­grund ist die Fra­ge stets prä­sent: Wel­ches Pro­pri­um besitzt Euro­pa und auf wel­che Wei­se kann die­ses in poli­tisch-insti­tu­tio­nel­le Pro­zes­se imple­men­tiert werden?

Der His­to­ri­ker Frank-Lothar Kroll unter­sucht in sei­nem weit aus­grei­fen­den Essay Räu­me, Gren­zen, Ideen, Grund­kräf­te, Span­nungs­fel­der, kul­tu­rel­le Prä­gun­gen, Iden­ti­tä­ten, Alteri­tä­ten und Dif­fe­ren­zen, ohne die Euro­pas Geschich­te nicht vor­stell­bar ist.

Die Prin­zi­pi­en von Iden­ti­tät und Dif­fe­renz sind in der euro­päi­schen Geschich­te zu allen Zei­ten, wenn­gleich in unter­schied­li­cher Wei­se, prä­sent. Kul­tu­rel­le Strö­mun­gen wie das Chris­ten­tum sorg­ten über Jahr­hun­der­te, unge­ach­tet aller inne­ren Viel­ge­stal­tig­keit, für grund­sätz­li­che Über­ein­stim­mun­gen. Längst ist das Gefühl, einem west­lich-abend­län­di­schen Kul­tur­raum zuge­hö­rig zu sein, das in den Jah­ren nach dem Zwei­ten Welt­krieg im frei­en Euro­pa ver­brei­tet war, einer Vor­stel­lung gewi­chen, Teil des trans­at­lan­ti­schen Wer­te­wes­tens zu sein.

Wei­ter war man sich seit der Anti­ke stets der Unter­schie­de zu ande­ren Kul­tur­räu­men bewußt. Die Abgren­zung eines (ver­schie­den nuan­cier­ten) euro­päi­schen Frei­heits­ge­fühls etwa zur »asia­ti­schen Des­po­tie« zeig­te sich im ver­brei­te­ten Anti­bol­sche­wis­mus der 1950er Jah­re eben­so wie in der gegen­wär­ti­gen Front gegen ­Putins Ruß­land. Kroll beschwört die­se mehr­mals in pole­mi­scher Wei­se. In der Unfä­hig­keit, die Hin­ter­grün­de des aktu­el­len Krie­ges aus­rei­chend zu reflek­tie­ren, liegt eine Schwä­che des in der Regel kennt­nis­reich argu­men­tie­ren­den Autors.

Die Diver­gen­zen Euro­pas grün­den vor allem in ver­schie­de­nen his­to­ri­schen Erfah­run­gen. Ver­ein­facht ste­chen drei grö­ße­re Räu­me her­vor: der Wes­ten Euro­pas mit sei­ner nach 1789 auf­fal­len­den Nähe zu den Ver­ei­nig­ten Staa­ten; die Mit­te, ins­be­son­de­re Deutsch­land, mit sei­nem zeit­wei­sen Schau­kel­ver­hal­ten zwi­schen Ost und West; der Osten des Kon­ti­nents. Letz­te­rer war lan­ge Zeit stark geprägt vom ortho­do­xen Chris­ten­tum; im Kal­ten Krieg wur­de er jedoch von kom­mu­nis­ti­schen Ein­flüs­sen nach­hal­tig dominiert.

Die Ost-West-Spal­tung ist ein Signum auch der unmit­tel­ba­ren Gegen­wart. Im Unter­schied zu den Jahr­zehn­ten vor 1989/90 ist das dem Wes­ten ver­bun­de­ne Euro­pa nach Osten gerückt. Sol­che Ver­än­de­run­gen blei­ben auf die inne­re Ver­fas­sung der EU, ja sogar auf die euro­päi­sche Sicher­heits­ar­chi­tek­tur ins­ge­samt nicht ohne Auswirkungen.

Nach der Ana­ly­se grund­le­gen­der his­to­ri­scher Ent­wick­lun­gen kommt der Autor zu dif­fe­ren­zier­ten Schluß­fol­ge­run­gen im Hin­blick auf Leh­ren, die dar­aus heu­te zu zie­hen sind: EU und NATO betrach­tet er – erst recht nach dem rus­si­schen Ein­marsch 2022 – für unver­zicht­bar, auch bezüg­lich der öko­no­mi­schen Effek­te. Der Wei­ter­ent­wick­lung der EU zu einem Groß­staat, der die gewach­se­nen natio­na­len Iden­ti­tä­ten igno­riert, erteilt er indes­sen eine Absa­ge. Die wich­ti­gen Über­le­gun­gen Krolls kön­nen nicht dar­über hin­weg­täu­schen, daß eine inte­gra­le Geschich­te Euro­pas ent­lang den Ideen Frei­heit, Nati­on und Ein­heit nicht ohne Schwie­rig­kei­ten zu schrei­ben ist.

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Frank-Lothar Kroll: Iden­ti­tät und Dif­fe­renz. Das Pro­blem einer inte­gra­len euro­päi­schen Geschich­te, Ber­lin: BeBra Ver­lag 2023. 272 S., 26 €

 

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