Die Lebensreformbewegung konnte sich in den letzten Jahrzehnten einer geradezu enthusiastischen Rezeption erfreuen.
Große Ausstellungen, opulente Bildbände, ein eigenes Handbuch und zahlreiche Detailuntersuchungen haben dafür gesorgt, daß die Erneuerungsbewegungen der vorletzten Jahrhundertwende als Vorbild einer alternativen Lebensweise wiederentdeckt wurden. Das Spektrum dieser Bewegung ist beeindruckend: Es reicht von der Jugendbewegung über die Volksbildung bis zum Vegetarismus, umfaßt aber auch so problematische Dinge wie Okkultismus und Eugenik.
Was damals als lebensfeindlich empfunden wurde, waren das Konventionelle überhaupt, die überlebten Formen der Gründerzeit und die Entfremdung des Menschen im Industriezeitalter. Die Lebensreformbewegung kann also mit vielem aufwarten, an das sich mühelos anschließen ließe, wenn dem nicht die Tatsache entgegenstünde, daß 1933 etliche Strömungen nicht in die Opposition gingen, sondern weiterhin an der Umsetzung ihrer Ideen arbeiteten.
Einer der Protagonisten, an dem sich dieser Zusammenhang ganz besonders gut zeigen läßt, ist der Architekt, Maler und Lebensreformer Paul Schultze-Naumburg (1869 – 1949). Er steht stellvertretend für den problematischen Zusammenhang zwischen Lebensreformbewegung und Nationalsozialismus und die Konsequenzen, die das für die Rezeption eines Werkes haben kann. Es beginnt damit, daß es zu Schultze-Naumburg nur wenig brauchbare Literatur gibt.
Die letzte wissenschaftliche Arbeit, die sich nicht ausschließlich mit seinen NS-Verstrickungen beschäftigt, sondern sein Gesamtwerk würdigt, stammt aus dem Jahr 1989. Es handelt sich dabei um die Dissertationsschrift von Norbert Borrmann, der bis zu seinem viel zu frühen Tod zu den regelmäßigen Autoren der Sezession gehörte. Das Buch bietet eine umfassende Darstellung des Werks von Schultze-Naumburg und ist daher Ausgangspunkt jeder Beschäftigung mit ihm.
Paul Schultze-Naumburg wurde in Almrich, einem heute zu Naumburg gehörenden Dorf, geboren, als letztes von sechs Kindern des Porträtmalers Gustav Schultze. Sein Vater stammte aus Naumburg, hatte bei Johann Gottfried Schadow in Berlin studiert und verkehrte mit zahlreichen Geistesgrößen seiner Zeit. So gab es Kontakt zu Friedrich Nietzsche und Paul Heyse, die noch vor ihrem Durchbruch standen. Der Doppelname geht, wenn man der Überlieferung glauben möchte, auf Schadow zurück, der mit dem Hinweis auf Naumburg die Schultzes in seinem Freundeskreis unterscheiden wollte.
Paul Schultze-Naumburg zeigte schon früh seine künstlerische Begabung und wurde daher zum Studium der Malerei nach Karlsruhe geschickt. Nach Abschluß seines Studiums ging er zunächst nach München und Berlin, die künstlerischen Hauptstädte der damaligen Zeit, bevor er kurz nach der Jahrhundertwende wieder in seine Heimat zog, nach Saaleck, damals noch Thüringen.
Aus seiner Malerei läßt sich der weitere Weg, den Schultze-Naumburg nehmen sollte, erahnen. Schon damals beschäftigten ihn zwei Hauptprobleme: »Die Darstellung der harmonischen Verteilung der Baumassen zu einem Ganzen, und zum zweiten ihre Eingliederung in den vorhandenen landschaftlichen Raum.« Er erinnerte sich später, daß er schon als Jugendlicher immer wieder seine Umgebung nach »glücklichen Häusern« abgesucht habe. Er folgte einer damals noch unbestimmten Sehnsucht nach Harmonie, die er erst später in Worte fassen konnte.
Zu den weiteren Anlagen, die sich schon früh zeigten, gehörten einerseits sein starkes Interesse an Architektur, das durch seinen Bruder, der als Architekt arbeitete, gefördert wurde, und andererseits eine pädagogische Leidenschaft, die sich in zwei frühen Büchern über das Studium und die Praxis der Malerei niederschlug (1896 / 98) und zur Gründung einer privaten Malschule führte.
Seine Zugehörigkeit zur Lebensreformbewegung zeigte sich zum erstenmal in seinem aufsehenerregenden Buch Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung (1901). Auch wenn das Buch heute nur noch Historikern bekannt ist, hat es maßgeblich zum Wandel der Kleidermode am Anfang des 20. Jahrhunderts beigetragen. Grundlage seiner Schrift waren nicht nur die Erfahrungen der Aktmalerei, sondern auch der Besuch von Anatomievorlesungen in Berlin, die ihm das Mißverhältnis von weiblichem Körper und der damals gängigen Frauenkleidung vor Augen führten. Zentraler Punkt war die Ablehnung des Korsetts, die in dieser Totalität damals nur von wenigen Künstlern geteilt wurde.
Hinzu kam, daß Schultze-Naumburg in seinen Vorträgen oft polemisch argumentierte, was seine Gegner mit entsprechend scharfen Gegenangriffen beantworteten. Aber sein Feldzug war erfolgreich, das Korsett verschwand. Erstaunlich ist, wie aufgeschlossen die angeblich so starre wilhelminische Gesellschaft solchen Neuerungen gegenüberstand: Bereits 1902 erhielt Schultze-Naumburg die Gelegenheit, im Hohenzollern-Kunstgewerbemuseum eine Ausstellung unter dem Titel »Neue Frauentracht« zu konzipieren.
Bevor Schultze-Naumburg zu seinem eigentlichen Lebensthema, der Architektur, kam, widmete er sich bis ins kleinste Detail der Innenausstattung von Häusern und Wohnungen. Bereits als Maler hatte er sich Gedanken über die dekorative Wirkung von Gemälden im Raum gemacht und ordnete diese Wirkung bald dem Anspruch des Kunstwerks auf autonome Geltung unter. Die daraus resultierende Schrift, Häusliche Kunstpflege (1899), ist wegen ihrer Detailfreude (sein kritischer Blick macht selbst vor dem Besteck nicht halt) noch heute gut zu lesen. Man sieht hier bereits, daß Schultze-Naumburg nicht daran dachte, den Menschen losgelöst von seinen kulturellen Hervorbringungen zu betrachten, sondern, ganz im Gegenteil, von diesen Hervorbringungen auf sein Wesen schließen wollte. Schultze-Naumburg blieb auch hier nicht bei der Theorie, sondern produzierte später in seinen Saalecker Werkstätten Möbel, die sich an diesen Grundsätzen orientierten.
All das ist nicht zuletzt Ausdruck eines kulturkritischen Anspruchs, der eine der wesentlichen Grundlagen der Lebensreformbewegung war. Hier paßt der Begriff »Entfremdung«, da Schultze-Naumburg und seine Mitstreiter davon ausgingen, daß der Mensch Heimat brauche, um er selbst zu sein. Dem Schutz und der Bewahrung der Heimat in all ihren Facetten dient seine wichtigste Veröffentlichung, die Kulturarbeiten. Es handelt sich dabei um eine neunbändige Buchreihe, deren grundlegenden ersten sechs Bände vor dem Ersten Weltkrieg, zwischen 1901 und 1910, erschienen.
Die Bände sieben bis neun – sie behandeln »die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen« – erschienen 1916 /17 unter den erschwerten Bedingungen des Ersten Weltkrieges. In den 1920er Jahren nahm Schultze-Naumburg eine Neuausgabe der Kulturarbeiten in Angriff, die Rudiment blieb. Dieses Ende ist sicherlich auch dem sich völlig gewandelten Zeitgeist geschuldet, der den Lebensreformer der Vorkriegszeit angesichts von Bauhaus und ähnlichen Strömungen des »neuen Bauens« auf einmal als einen Reaktionär dastehen ließ. Dennoch läßt sich der Einfluß der Kulturarbeiten auf die Erneuerung der Architektur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kaum überschätzen.
Leitend war bei Schultze-Naumburg die kulturkritische Einsicht, daß die gestalterische Qualität der menschlichen Hervorbringungen im Zuge der Industrialisierung gesunken war. Das war eine Erkenntnis, die auch in anderen Teilen Europas formuliert wurde und die sich nicht nur auf die Umweltzerstörung bezog, sondern vor allem auf die Gestaltung der menschlichen Umwelt. Dabei war zu beobachten, daß nicht nur die Einbettung der Gebäude in die landschaftlichen Gegebenheiten vernachlässigt wurde, bis hin zur Zerstörung historisch gewachsener Landschaften, sondern daß auch die Bauten selbst durch übermäßige Dekoration in ein Mißverhältnis zu ihrem eigentlichen Zweck gebracht wurden. Um diese beiden Dinge ging es Schultze-Naumburg. Da ihm klar war, daß die alleinige Behauptung dieses Mißstands nichts bringen würde, konzipierte er die Kulturarbeiten als Bilderbücher, die den Betrachter durch ihre Bildauswahl zur richtigen Einsicht lenken sollten. Dabei verwendete er als erster in Deutschland die Methode der Gegenüberstellung von (gutem) Beispiel und (schlechtem) Gegenbeispiel.
Schultze-Naumburg stützte sich dabei nicht auf Zeichnungen, sondern auf Fotografien, die er größtenteils selbst anfertigte. Dadurch konnte man ihm nicht den Vorwurf einer Idealisierung machen. Der einzige Kunstgriff lag in der Auswahl der Beispiele und dem launigen Ton der Texte. Schaut man sich die Bände mit diesem Wissen an, wird schnell deutlich, welche Idee Schultze-Naumburg bei seiner Sehschule leitete. Es ging ihm um eine schlichte Architektur, die den Zweck des Baus widerspiegeln und sich in die Landschaft bzw. die bereits existierende Umwelt harmonisch einpassen sollte.
Wogegen er sich richtete, wird ebenfalls schnell deutlich: Es ist die Gründerzeitarchitektur, die durch überbordende Ornamentik und einen Eklektizismus der Stile als lebensfremd und artifiziell gekennzeichnet wird. Auch wenn uns heute diese Bauten, verglichen mit den gegenwärtigen Hervorbringungen, wie das Zeugnis einer heilen Zeit vorkommen, wird schnell klar, daß Schultze-Naumburg einen anderen Maßstab anlegte.
Er orientiert sich bei seinen Beispielen ebenfalls an der Vergangenheit, die gegenüber der Gegenwart stets als nachahmungswürdig und beispielhaft präsentiert wird. Allerdings lokalisiert er die »große Wende« zum Schlechteren »ungefähr nach dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts« und macht sie symbolisch am Todesjahr Goethes fest. Ab diesem Zeitpunkt sieht er, bedingt durch die industrielle Revolution, ein Abreißen der Tradition und damit eine Entfremdung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt.
Schultze-Naumburg stand damit nicht allein, sondern wurde mit seinen Kulturarbeiten zum Anreger einer ganzen Strömung, die nach einem 1908 erschienenen Buch als »Um 1800«-Bauströmung bezeichnet wird. Als Vorbilder für diese Strömung galten so unterschiedliche Städte wie Weimar und Potsdam, in denen man die beiden Seiten dieser Zeit, die bürgerliche und die machtstaatliche, verwirklicht sah.
Mit dieser Konzeption, die er für alle wesentlichen Haustypen durchführte, hatte Schultze-Naumburg auch die Grundlage für sein eigenes architektonisches Schaffen gelegt. Sein erstes Projekt war das eigene Anwesen in Saaleck, das er ab 1901 erbaute und im Laufe der Jahre zu einer Gesamtanlage erweiterte. Auch wenn er diesen Erstling später als mißlungen beurteilte, wird an ihm doch deutlich, worauf der Schwerpunkt seiner Arbeiten liegen sollte: Es ist das Herrenhaus, in den Abstufungen von der städtischen Villa bis zum Schloß, das sich mit Nebengebäuden und Gartenanlage zu einem harmonischen Gesamtkunstwerk fügt. Bei dieser Vorliebe spielte nicht nur die Heroisierung der Vergangenheit eine Rolle. Hinzu trat ein antiurbaner Affekt, der die Großstadt als den Höhepunkt der Entfremdung des Menschen betrachtete. Schultze-Naumburg hat, seiner pädagogischen Ader folgend, im 1904 gegründeten Bund Heimatschutz in diesem Sinne zahllose Vorträge gehalten.
Am bekanntesten von seinen Bauten dürfte bis heute das für den preußischen Kronprinzen zwischen 1912 und 1917 errichtete Schloß Cecilienhof in Potsdam sein. Es zeigt, welcher Wertschätzung sich Schultze-Naumburg damals erfreute und daß seine Auffassung von Architektur, die er als Außenseiterposition begründet hatte, mittlerweile zum Mainstream geworden war. Eine genaue Auflistung aller Bauten Schultze-Naumburgs existiert nicht. Borrmann schreibt unter Hinweis auf die fehlenden Quellen: »Selbst wenn man von den Nebengebäuden seiner größeren Anlagen absieht, dürfte man auf eine stattliche Anzahl von etwa dreihundert Bauten gelangen, die sich eben hinsichtlich der Bauaufgabe, aber auch der Qualität sehr ähneln.« Borrmann listet im Anhang seiner Arbeit etwas mehr als einhundert Bauten auf. Bei Wikipedia findet sich der Hinweis, daß Schultze-Naumburg »nachweislich« an mindestens 85 Wohnhäusern, 34 gewerblichen Projekten, 40 Schlössern und Gutsanlagen sowie an sechs Grabmalen und vier Parkanlagen beteiligt war.
Wenn man bedenkt, daß sich Schultze-Naumburg schon zu Lebzeiten Sorgen darüber machte, daß seine Bauten nicht angemessen gewürdigt würden, und er Abriß und Verschandelung fürchtete, fällt die Bilanz heute eher positiv aus. Selbst wenn man nur stichpunktartig recherchiert, finden sich erstaunlich viele Gebäude, die erhalten sind, wenngleich sie natürlich in den letzten einhundert Jahren manche Veränderung erfahren haben. Einige wurden abgerissen, mußten Neubauten weichen, andere fielen dem Bombenkrieg zum Opfer.
Dennoch ist offensichtlich, daß Schultze-Naumburgs Bauten in der Regel als zeitlos gültige Gestaltung empfunden wurden und zu keiner Zeit als deplaziert oder überholt. Im Gegenteil: Es spricht viel dafür, daß sein Schaffen nicht ganz ohne Einfluß auf eine Schule des Bauens ist, die seit dem späten 20. Jahrhundert als neorationalistische und neoklassizistische Architektur wiederum die durch Moderne und Postmoderne eingetretene Entfremdung zwischen Menschen und Wohnung aufheben will.
Diese Anknüpfung hat eine entscheidende Hürde zu überwinden: das Engagement für den Nationalsozialismus, das bei Schultze-Naumburg in den 1920er Jahren einsetzte und 1930 zum Eintritt in die NSDAP führte. Er war in der Zeit vor 1933 keine Randfigur, sondern galt als Vordenker einer Kunstbetrachtung auf rassischer Grundlage (Kunst und Rasse, 1928) und wirkte vor allem als aktives Mitglied des Kampfundes für deutsche Kultur, einer NS-Vorfeldorganisation. Allerdings bilden Bücher und Aufsätze zu diesen Themen nur einen Bruchteil seines umfangreichen schriftstellerischen Schaffens.
Sein Einfluß während der NS-Zeit war gering. Als Architekt erhielt er keinen der großen Staatsaufträge, sondern mußte sich mit kleineren Arbeiten in der Provinz begnügen. Mit Hitler, der ihn in den 1920er Jahren in Saaleck besucht hatte, kam es zum Bruch, als diesem die Umgestaltung der Nürnberger Oper durch Schultze-Naumburg mißfiel. Er erhielt zwar noch einige öffentliche Anerkennungen, wie die Ehrenbürgerschaft in Weimar und Jena, wurde aber 1940 gegen seinen Wunsch aus dem Hochschuldienst – er war Direktor der Hochschule für Baukunst, bildende Künste und Handwerk in Weimar – entlassen.
Die Parteinahme Schultze-Naumburgs ist nur vor dem Hintergrund der weltanschaulichen Auseinandersetzungen der 1920er Jahre zu verstehen, als vor allem das Bauhaus einen völligen Bruch mit jeder baulichen Tradition propagierte und damit das Lebenswerk Schultze-Naumburgs in Frage stellte. Dementsprechend unversöhnlich führte Schultze-Naumburg seinen Kampf gegen das Bauhaus. Bekannt ist die Debatte um das »deutsche Dach«, das nach Meinung von Schultze-Naumburg kein flaches, sondern ein geneigtes sein sollte. Daß er dabei nicht nur ideologische, sondern vor allem ästhetische und praktische Gründe anführte, wird heute gern vergessen. Dasselbe gilt für die Anknüpfung an die traditionelle Bauweise, die zwar im NS-Staat gepflegt wurde, aber auch in anderen Teilen der Welt als eine dem Menschen gemäße Architektur empfunden wird.
Paul Schultze-Naumburgs Wohnhaus in Weimar wurde 1945 enteignet. Er starb am 19. Mai 1949 verarmt in Jena. Seine Urne ist in dem von ihm selbst entworfenen Grabmal für Ernst von Wildenbruch auf dem (heute historischen) Friedhof in Weimar beigesetzt, wo eine in den Boden eingelassene Tafel an ihn erinnert.