Woran lag es, daß deren Nachfahren einen beispiellosen weltweiten Siegeszug zustande brachten? Für den kanadischen Anthropologen und Harvard-Professor Joseph Henrich liegt die Erklärung in der Psychologie dieser Menschen, die er als »western, educated, industrialized, rich und democratic« (griffig sein Akronym »weird«) zusammenfaßt – in der deutschen Übersetzung sonderbar oder eben seltsam. Denn die Psychologie des Westens sei weltweit zwar die Ausnahme, dennoch aber Basis fast aller psychologischer Studien, deren universeller Gültigkeitsanspruch daher verfehlt: »Seltsam sind Sie!« wird dem Leser immer wieder eingetrichtert.
Der erklärt unreligiöse Henrich analysiert zunächst die Bedingungen für das Wachstum von Gesellschaften und erläutert dann in seiner Kernthese, was »die christlichen Gesellschaften letztlich auf einen historisch einmaligen Weg brachte«: das katholische »Ehe- und Familienprogramm« (EFP). Aus dem Verbot der Vielweiberei sowie der Heirat zwischen immer entfernteren Verwandten entstand die monogame Kernfamilie, durch das drastische Sinken des Testosteronspiegels verheirateter Väter bei diesen eine »Positivsummenwahrnehmung der Welt und eine größere Bereitschaft zur Kooperation mit Fremden« – ein erstes Beispiel, wie durch das »EFP« die bisher »verwandtschaftsbasierten Institutionen« (Clans samt Vetternwirtschaft) zerstört worden seien, inklusive unbeabsichtigter Veränderung der Psychologie der Europäer; außerdem durch Reduzierung der Konformität, Beförderung von analytischem Denken, Geduld und Selbstbeherrschung sowie von Mobilität, »unpersönlichem Vertrauen« gegenüber Fremden und »gutartigem Wettbewerb«.
Die veränderte Psychologie wiederum löste eine Kaskade positiver Konsequenzen aus – vom enormen Wachstum der Städte und des unpersönlichen Handels bis zur Ausbildung eines »kollektiven Gehirns« durch freiwillige, konkurrierende Zusammenschlüsse wie Klöster, Zünfte, Universitäten und Gelehrtengesellschaften. Die Folge: Innovation und Wirtschaftswachstum, globale Expansion Europas und Industrielle Revolution.
Je höher die »EFP-Dosis«, so Henrich, desto ausgeprägter die erfolgreiche seltsame westliche Psychologie – vereinfacht: der Sinn für das große Ganze. Ein klassischer Indikator dafür sei die Blutspendebereitschaft, die in Norditalien teils zu über 100 Spenden jährlich pro 1000 Einwohnern führe. Im völlig abgehängten tiefen Süden Italiens hingegen – der erst viel später unter den Einfluß des »EFP« geriet, wo bis heute Vetternehen zehnmal so häufig sind und mafiöse Clanstrukturen dominieren – wird so gut wie kein Blut gespendet.
Wegen ihrer Immunität mußten UN-Diplomaten in New York lange keine Parkstrafen bezahlen. Während auf ganze Delegationen etlicher klassisch seltsamer Nationen kein einziger Strafzettel entfiel, häuften Diplomaten aus »verwandtschaftsbasierten« Staaten wie Ägypten oder dem Tschad über 100 pro Kopf an.
Beim Laborexperiment »Öffentliche-Güter-Spiel« können die Probanden Spielkapital in einen Topf für »Gemeinschaftsprojekte« einzahlen, der dann vom Spielleiter aufgestockt wird – und dafür zahlen, »asozialen« Knausern anonym Spielgeld wegzunehmen. Unter seltsamen Probanden resultierte eine »Erziehung« der Trittbrettfahrer aus dieser Maßnahme; im eminent verwandtschaftsbasierten Nahen Osten hingegen ein »Desaster, weil sie – schon unter Laborbedingungen – Rachespiralen auslöste.
Die Lektion ist einfach: Politische Maßnahmen müssen zur kulturellen Psychologie der betreffenden Bevölkerung passen«. In Zeiten muslimischer Masseneinwanderung in seltsame Gesellschaften sei den einwanderungsfreundlichen Unsere-Demokratie-muß-jeden-Tag-aufs-neue-erkämpft-werden-Politikern ins Stammbuch geschrieben: »Wenn stark verwandtschaftsbasierte Institutionen fortbestehen, geraten die demokratischen Institutionen auf nationaler Ebene ins Wanken«.
Gegen Ende einige Längen und etwas gezwungene Kausalzusammenhänge, vereinzelt politisch korrekte Petitessen – viel mehr ist Joseph Henrichs Monumentalwerk nicht anzukreiden. Faktensatt, akribisch, 900 Seiten lang, dennoch kurzweilig und erstaunlich »unwoke«: eine neue und fortan unverzichtbare Antwort auf die alte Frage: »Warum Europa?«
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Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde, Berlin: Suhrkamp 2022. 918 S., 34 €
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