Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt

von Konrad Hermann Weiß --

»Von Unwissenheit und Apathie, mangelnder Urteilsfähigkeit und Dummheit beherrscht« sah 1068 der muslimische Gelehrte Said ibn Ahmad die »weißen Barbaren« im Norden.

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Wor­an lag es, daß deren Nach­fah­ren einen bei­spiel­lo­sen welt­wei­ten Sie­ges­zug zustan­de brach­ten? Für den kana­di­schen Anthro­po­lo­gen und Har­vard-Pro­fes­sor Joseph Hen­rich liegt die Erklä­rung in der Psy­cho­lo­gie die­ser Men­schen, die er als »wes­tern, edu­ca­ted, indus­tria­li­zed, rich und demo­cra­tic« (grif­fig sein Akro­nym »weird«) zusam­men­faßt – in der deut­schen Über­set­zung son­der­bar oder eben selt­sam. Denn die Psy­cho­lo­gie des Wes­tens sei welt­weit zwar die Aus­nah­me, den­noch aber Basis fast aller psy­cho­lo­gi­scher Stu­di­en, deren uni­ver­sel­ler Gül­tig­keits­an­spruch daher ver­fehlt: »Selt­sam sind Sie!« wird dem Leser immer wie­der eingetrichtert.

Der erklärt unre­li­giö­se Hen­rich ana­ly­siert zunächst die Bedin­gun­gen für das Wachs­tum von Gesell­schaf­ten und erläu­tert dann in sei­ner Kern­the­se, was »die christ­li­chen ­Gesell­schaf­ten letzt­lich auf einen his­to­risch ein­ma­li­gen Weg brach­te«: das katho­li­sche »Ehe- und Familien­programm« (EFP). Aus dem Ver­bot der Viel­wei­be­rei sowie der Hei­rat zwi­schen immer ent­fern­te­ren Ver­wand­ten ent­stand die mono­ga­me Kern­fa­mi­lie, durch das dras­ti­sche Sin­ken des Tes­to­ste­ron­spie­gels ver­hei­ra­te­ter Väter bei die­sen eine »Posi­tiv­sum­men­wahr­neh­mung der Welt und eine grö­ße­re Bereit­schaft zur Koope­ra­ti­on mit Frem­den« – ein ers­tes Bei­spiel, wie durch das »EFP« die bis­her »ver­wandt­schafts­ba­sier­ten Insti­tu­tio­nen« (Clans samt Vet­tern­wirt­schaft) zer­stört wor­den sei­en, inklu­si­ve unbe­ab­sich­tig­ter Ver­än­de­rung der Psy­cho­lo­gie der Euro­pä­er; außer­dem durch Redu­zie­rung der Kon­for­mi­tät, Beför­de­rung von ana­ly­ti­schem Den­ken, Geduld und Selbst­be­herr­schung sowie von Mobi­li­tät, »unper­sön­li­chem Ver­trau­en« gegen­über Frem­den und »gut­ar­ti­gem Wettbewerb«.

Die ver­än­der­te Psy­cho­lo­gie wie­der­um lös­te eine Kas­ka­de posi­ti­ver Kon­se­quen­zen aus – vom enor­men Wachs­tum der Städ­te und des unper­sön­li­chen Han­dels bis zur Aus­bil­dung eines »kol­lek­ti­ven Gehirns« durch frei­wil­li­ge, kon­kur­rie­ren­de Zusam­men­schlüs­se wie Klös­ter, Zünf­te, Uni­ver­si­tä­ten und Gelehr­ten­ge­sell­schaf­ten. Die Fol­ge: Inno­va­ti­on und Wirt­schafts­wachs­tum, glo­ba­le Expan­si­on Euro­pas und Indus­tri­el­le Revolution.

Je höher die »EFP-Dosis«, so Hen­rich, des­to aus­ge­präg­ter die erfolg­rei­che selt­sa­me west­li­che Psy­cho­lo­gie – ver­ein­facht: der Sinn für das gro­ße Gan­ze. Ein klas­si­scher Indi­ka­tor dafür sei die Blut­spen­de­be­reit­schaft, die in Nord­ita­li­en teils zu über 100 Spen­den jähr­lich pro 1000 Ein­woh­nern füh­re. Im völ­lig abge­häng­ten tie­fen Süden Ita­li­ens hin­ge­gen – der erst viel spä­ter unter den Ein­fluß des »EFP« geriet, wo bis heu­te Vet­ter­ne­hen zehn­mal so häu­fig sind und mafiö­se Clan­strukturen domi­nie­ren – wird so gut wie kein Blut gespendet.

Wegen ihrer Immu­ni­tät muß­ten UN-Diplo­ma­ten in New York lan­ge kei­ne Park­stra­fen bezah­len. Wäh­rend auf gan­ze Dele­ga­tio­nen etli­cher klas­sisch selt­sa­mer Natio­nen kein ein­zi­ger Straf­zet­tel ent­fiel, häuf­ten Diplo­ma­ten aus »ver­wandt­schafts­ba­sier­ten« Staa­ten wie Ägyp­ten oder dem Tschad über 100 pro Kopf an.

Beim Labor­ex­pe­ri­ment »Öffent­li­che-Güter-Spiel« kön­nen die Pro­ban­den Spiel­ka­pi­tal in einen Topf für »Gemein­schafts­pro­jek­te« ein­zah­len, der dann vom Spiel­lei­ter auf­ge­stockt wird – und dafür zah­len, »aso­zia­len« Knau­sern anonym Spiel­geld weg­zu­neh­men. Unter selt­sa­men Pro­ban­den resul­tier­te eine »Erzie­hung« der Tritt­brett­fah­rer aus die­ser Maß­nah­me; im emi­nent ver­wandt­schafts­ba­sier­ten Nahen Osten hin­ge­gen ein »Desas­ter, weil sie – schon unter Labor­be­din­gun­gen – Rache­spi­ra­len auslöste.

Die Lek­ti­on ist ein­fach: Poli­ti­sche Maß­nah­men müs­sen zur kul­tu­rel­len Psy­cho­lo­gie der betref­fen­den Bevöl­ke­rung pas­sen«. In Zei­ten mus­li­mi­scher Mas­sen­ein­wan­de­rung in selt­sa­me Gesell­schaf­ten sei den ein­wan­de­rungs­freund­li­chen Unse­re-Demo­kra­tie-muß-jeden-Tag-aufs-neue-erkämpft-wer­den-Poli­ti­kern ins Stamm­buch geschrie­ben: »Wenn stark ver­wandt­schafts­ba­sier­te Insti­tu­tio­nen fort­be­stehen, gera­ten die demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen auf natio­na­ler Ebe­ne ins Wanken«.

Gegen Ende eini­ge Län­gen und etwas gezwun­ge­ne Kau­sal­zu­sam­men­hän­ge, ver­ein­zelt poli­tisch kor­rek­te Peti­tes­sen – viel mehr ist Joseph Hen­richs Monu­men­tal­werk nicht anzu­krei­den. Fak­ten­satt, akri­bisch, 900 Sei­ten lang, den­noch kurz­wei­lig und erstaun­lich »unwo­ke«: eine neue und fort­an unver­zicht­ba­re Ant­wort auf die alte Fra­ge: »War­um Europa?«

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Joseph Hen­rich: Die selt­sams­ten Men­schen der Welt. Wie der Wes­ten reich­lich son­der­bar und beson­ders reich wur­de, Ber­lin: Suhr­kamp 2022. 918 S., 34 €

 

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