Gerade weil er wenig publizierte – als Monographie nur seine Dissertation Abendländische Eschatologie –, schuf er den Raum für mannigfache Deutungen seiner Ansichten. Diese trug er nicht nur in akademischen Lehrveranstaltungen, sondern auch in vielen Diskussionen und Debattierzirkeln vor. Immerhin gibt es aus dem Schüler- und Freundeskreis einige, die sein Andenken bis heute hochhalten, etwa das Professorenehepaar Assmann. Aleida Assmann machte sich besonders um die postume Edition der Vorlesungen Taubes’ über die politische Theologie des Apostels Paulus verdient.
Jenseits vieler Anekdoten über Leben und Werk wußte man über den »Professor der Apokalypse« im Grunde genommen wenig. Diesem Mangel hat nun der amerikanische Historiker Jerry Z. Muller Abhilfe geschaffen. Seine gründliche Studie dürfte schnell zum Standardwerk avancieren.
Muller beschreibt detailliert den Werdegang Taubes’. Sein Vater Zwi war als Oberrabbiner zuerst in Wien, später in Zürich tätig. In der Schweiz überlebte die Familie die Zeit des Nationalsozialismus. Im Elternhaus lernte der Heranwachsende das Gedankengut der Ultraorthodoxen ebenso kennen wie die liberale Geisteswelt und die Vorstellungen der zumeist glaubenslosen jüdischen Sozialisten. Taubes’ Verhältnis zum Judentum ist, wie seine Persönlichkeit insgesamt, vielschichtig und schwierig auf den Punkt zu bringen. Nach der Promotion lehrte Taubes am Jewish Theological Seminary in New York. Danach pendelte der Ruhelose zeitweise zwischen Israel, den USA und Frankreich. In den 1960er Jahren erhielt er schließlich eine unbefristete Professorenstelle (für Judaistik und Religionssoziologie) an der Freien Universität Berlin.
Zu den faszinierenden Aspekten seines Lebens zählen die zahllosen Verbindungen, die er zu unterschiedlichen sozialen wie politischen Milieus knüpfte: Zu rechten Denkern wie Armin Mohler, Ernst Nolte und Carl Schmitt, zu dessen 95. Geburtstag Taubes eine dreibändige Festschrift herausgab, unterhielt er ebenso enge Kontakte wie zu Mitgliedern der Frankfurter Schule und zu vielfältigen jüdischen Zirkeln. Die Verbindungen dauerten teilweise über Jahrzehnte an.
Taubes’ Ansatz bewegte sich im breiten Feld zwischen Judentum und Christentum. Seine immer wieder neuen Anläufe, über Eschatologie, Apokalypse und Gnosis nachzudenken, erwiesen sich auch deshalb als fruchtbar, weil sich vor diesem Hintergrund ein Bogen zur Moderne schlagen ließ. Nicht zuletzt die totalitären Ideologien schließen eine wirkmächtige utopisch-eschatologische Dimension ein, sei es das »Tausendjährige Reich« der nationalsozialistischen Propaganda, sei es das Marxsche »Reich der Freiheit«. Der aktuelle Ableger solcher Untergangserzählungen ist die vermeintliche Endzeit der herbeihalluzinierten Klimakatastrophe. In den 1950er und 1960er Jahren schlug sich die geisteswissenschaftliche Crème de la Crème mit derartigen Themen zwischen Religion und Philosophie herum. Exemplarisch sind die Namen Karl Löwith, Erik Voegelin, Hans Blumenberg und Hans Jonas zu nennen, mit deren Werk sich Taubes intensiv beschäftigte.
Der Mensch Taubes wird in Mullers Betrachtungen nicht ausgelassen. Auffallend für viele Zeitgenossen waren seine öffentlich bekannten amourösen Abenteuer und Intrigen. Seine erste Frau Susan beging Suizid. Auch seine zweite Ehe mit der zeitweiligen Vizepräsidentin der Freien Universität, Margherita von Brentano, kann man kaum als glücklich bezeichnen. Beziehungsprobleme besonders im familiären Umfeld waren seiner Gesundheit wohl nicht förderlich.
Muller und die kongeniale Übersetzerin Ursula Kömen haben ein Taubes-Bild gezeichnet, das den Meister als Anreger und Förderer zahlreicher Diskurse sowie als Netzwerker par excellence herausstellt. Nebenbei wird eine gesamte Wissenschaftsepoche porträtiert. Mehr kann man von einer Biographie nicht erwarten.
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Jerry Z. Muller: Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes, Berlin: Jüdischer Verlag 2022. 927 S., 58 €
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