Auf die italienische Öffentlichkeit wirkte er überdies als Autor literarischer und politisch-zeitgeschichtlicher Bücher, wobei das 1938 erschienene Ein Jahr auf der Hochebene die bekannteste Publikation darstellt und 1970 verfilmt wurde. Was der Südtiroler Folio Verlag nun auflegt, ist indes die Nummer zwei im Werk Lussus: Der Marsch auf Rom und Umgebung erschien im italienischen Original 1932, in der deutschen Erstübersetzung 1971, nun also in einer schön gestalteten Neuauflage, wobei sowohl Übersetzung als auch Nachwort eins zu eins vom Europaverlag übernommen wurden.
Das Buch ist chronologisch aufgebaut, beißend im Spott und doch erstaunlich deskriptiv in der Sache. Denn Lussu, der als Mitbegründer der Sardischen Aktionspartei bereits 1919 politisch aktiv wurde, beschreibt nicht nur den konkreten »Marsch auf Rom« Benito Mussolinis um den 28. Oktober 1922, sondern auch die konkrete Lebensrealität der »Faschisten der ersten Stunde« und ihrer Nachfolger der »zweiten Stunde« (oft: Überläufer) auf Sardinien und in ganz Italien. Obschon aus Überzeugung Antifaschist, läßt Lussu seine Zeitgenossen »menschelnd« zu Wort kommen – auch Gegner. Ohnehin fallen Lussus Beobachtungen, ungeachtet aller Parteilichkeit, überwiegend fair aus, solange es sich beim Beobachtungsgegenstand nicht um sardische Faschisten handelt, deren insulares Tun und Denken als sich täglich wiederholende Farce persifliert werden.
Der übergeordnete Aufstieg des Faschismus – fern von Cagliari und Sassari – liegt für Lussu darin begründet, daß die Schwarzhemden ihre Stärke »nicht in parlamentarischen Finessen« suchten, »sondern in der Aktion, und dies in einer Zeit, in der alle anderen sich an Reden berauschten«. Er zitiert den »Duce« und nimmt ihn beim Wort: »Wir werden kein Parlamentsklub sein, sondern ein Aktions- und Exekutionskommando!« Die Faschisten, so stellt es Lussu dar, waren ihrem Wesen nach keine Politiker, sondern lebten ihren »sportlich-literarischen Charakter«. Die etablierten Parteien verstanden nicht damit umzugehen und taumelten von Fehleinschätzung zu Fehleinschätzung. Nur deshalb konnte Mussolinis Truppe erst die Macht erobern und dann Zustimmung organisieren.
Bei dieser Argumentationskette neigt Lussu zu unpassenden Übertreibungen, die vielleicht der Entstehungssituation des Werkes geschuldet sind, das im Pariser Exil geschrieben und gedruckt werden mußte. So wirkt manches zu schwarzweiß: »Die Fabrikanten und die Großgrundbesitzer hatten sich nahezu ausnahmslos dem Faschismus angeschlossen. Arbeiter, Pächter und Landarbeiter blieben ablehnend.« So hätte Mussolini keinen Staat bauen können.
Zeitlos scheint hingegen Lussus Analyse des opportunistischen Typus. Viele seiner Freunde kündigten zuerst den Kampf gegen Faschismus bis zum Tod an, um sich dann eilig einkaufen zu lassen. »Der Gewalt zu widerstehen«, resümiert der Autor, »war nicht einfach, es ist aber viel schwieriger, Lockungen und Schmeicheleien zu widerstehen.« Lussu widerstand allen Versuchen der Faschisten. Das Resultat war Verbannung auf die Insel Lipari und Internierung unter widrigsten Umständen; so mancher Mitinsasse überlebte sie nicht.
Erstaunlich ist Lussus Verweis darauf, daß striktes Politikverbot unter den Häftlingen bestand. Selbst bloße Gespräche waren strafbar. Zur selben Zeit saß andernorts mit dem marxistischen Philosophen Antonio Gramsci (1891 – 1937) ein sardischer Landsmann Emilio Lussus in faschistischer Haft; der konnte in den diversen Haftanstalten trotz aller Zensur sein epochales Werk – die später so genannten Gefängnishefte – niederschreiben. Über die Gründe für eine solche erhebliche Diskrepanz in der Behandlung politischer Gefangener erfährt man leider nichts im ansonsten lesenswerten Nachwort des Übersetzers Claus Gatterer.
– –
Emilio Lussu: Marsch auf Rom und Umgebung. Ein Bericht, Wien / Bozen: Folio Verlag 2022. 272 S., 25 €
Dieses Buch können Sie auf antaios.de bestellen.