Das am ersten Maiwochenende in Berlin abgehaltene »Drift Festival« widmete sich der Psychogeographie – eine begriffliche Schöpfung der französischen Situationisten der 1950er und 1960er Jahre um Guy Debord, die einen Zugriff auf die menschlich geformte städtische Umwelt unter dem Gesichtspunkt der dieser eingeschriebenen Kontroll- und Formierungswirkungen sucht.
Debord ergänzte dieses Theoriebesteck um die Praxis der Dérive, des ziellosen, aber nichtsdestoweniger aufmerksamen Umherschweifens, um Alltagstrott und »falsches Bewußtsein« in der urbanen Umgebung wortwörtlich zu unterlaufen. Der Deutschlandfunk, stets auf der Suche nach pompösem Wortgeklingel, faßte den Akt in einem Feature über das Festival als »dissidentes Spazierengehen« und, besser, »Unter-Wandern der Städte« zusammen.
Wer hier PEGIDA-Luft wittert, ist allerdings zu bürgerlich unterwegs; gerade bei den Regierungssendern wird man eher selbst noch das Durchwandern unserer überfremdeten städtischen Dienstleistungskulissen für die wohlfühllinke Kulturgemeinschaft vereinnahmen wollen. Reichlich abgeschmackt eigentlich, bedenkt man, daß Debord ursprünglich von der futuristisch-surrealistischen Künstlerbewegung der Lettristen herkam. Deren herausragendster Aktivist, der aus einer Architektenfamilie stammende Historiker Michel Mourre, wurde in den 1950ern einer der beiden besten Freunde von Armin Mohler und griff später unter anderem regelmäßig für die damalige Zeitschrift der royalistisch-nationalistischen Action française, Aspects de la France, zur Feder.
Für die frankreichweiten und insbesondere in Paris aufbrandenden Unruhen des Jahrs 1968 standen die Lettristen nicht mehr parat (sie hatten sich über eine Störaktion gegen den Schauspieler Charlie Chaplin entzweit), doch hatte der antiautoritäre Debord seine Gefolgsleute längst in die Situationistische Internationale überführt und mit Die Gesellschaft des Spektakels 1967 eines der zentralen Werke der französischen Studentenbewegung veröffentlicht, das in einem eigenen »Raumordnung«-Kapitel mit der urbanen Gestaltung der frühen Fünften Republik zwecks Isolation und Zerstreuung des Individuums abrechnete.
Einer, der sich insbesondere von diesem Aspekt des Pariser Mai 1968 beeindruckt zeigen sollte, war der abgerüstete Algerienkämpfer, gelernte Maler und autodidaktische Architekt Paul Virilio – beeindruckt, doch nicht beeinflußt, denn anders als etwa dem ebenfalls durch 1968 hindurchgegangenen Jean Baudrillard (vgl. Sezession 92/2019) fehlte es ihm an einer klassischen akademischen Laufbahn abseits einiger phänomenologischer Vorlesungen bei Merleau-Ponty vor Antritt seines Militärdienstes (weshalb er sich auch niemals selbst als Philosoph sah).
Virilios maßgeblicher Einfluß war im Gegensatz zu den bekannten Poststrukturalisten mit ihrem vorrangigen Zugriff auf die Sprache nicht die Lehre Ferdinand de Saussures, sondern seine eigene Kindheit und Jugend, die er zwischen deutschen Bunkern des Atlantikwalls und alliierten Bombenkratern in und um die Stadt Nantes in der historischen Bretagne verbracht hatte. 1958, soeben aus dem Algerieneinsatz zurückgekehrt, begab er sich auf eine phänomenologische Expedition entlang der französischen Atlantikküste und studierte die vielfältigen deutschen Bunkeranlagen in ihren unterschiedlichen Bauweisen, Stadien des Verfalls und Einfügungen in das Raumbild des Nachkriegs.
1975 zeigte er seine Erkenntnisse, garniert mit Zitaten unter anderem von Hölderlin und Rilke (»Kunstwerke sind von unendlicher Einsamkeit«), im Rahmen der Ausstellung »Bunker archéologie« im Louvre; im selben Jahr ernannte man ihn zum Generaldirektor der einzigen privaten Architekturhochschule Frankreichs, der ÉSA in Paris, deren Studenten ihn 1968 im Rahmen eines revolutionären Plenums trotz fehlender akademischer Weihen zum Lehrbeauftragten gewählt hatten.
Statt wie Foucault oder Deleuze Machtdynamiken und Diskurse zu ergründen, erachtete Virilio die Kommunikation als letztlich bloßen Beifang der technologischen und räumlichen Entwicklung, die sich als Ausfluß militärischen Denkens und Planens manifestiere. Die Potenzierung der Geschwindigkeit – vom antiken Heerzug zum Blitzkrieg, vom reitenden Boten zur Echtzeitkommunikation, vom Katapult zur Interkontinentalrakete – komprimiere den Raum und deformiere den Menschen mitsamt seinen Lebensbedingungen.
Am 11. September 2011, anläßlich des zehnten Jahrestags der »9/11«-Ereignisse, führte das an die Situationistische Internationale angelehnte, anonyme dreiköpfige Filmkollektiv »Anti-Banality Union« seine erste eigene Produktion auf. 65 Minuten später hatte das Publikum eine Gedenkfeier der etwas anderen Art durchlebt (und zum Teil wohl durchlitten): Der Film mit dem nur mäßig pietätvollen Titel Unclear Holocaust reiht unkommentiert auf halb witzige, halb unangenehme Weise Szenen aus mehr als 50 millionenschwer produzierten Hollywood-Blockbustern hintereinander, die vom banalen Alltag schlagartig dazu übergehen, in geradezu lüsternem Bombast die Vernichtung von New York City zu zelebrieren.
So wird der selbstbewußte erste Angriff der U.S. Air Force auf das außerirdische Mutterschiff in Independence Day (1996) im Wechselschnitt mit dem Meteoritenschauer aus Armageddon – Das jüngste Gericht (1998) zum vom Pentagon aus orchestrierten Raketentrommelfeuer auf die eigene Metropole, an dessen Ende der Präsident sein aufgepeitschtes Volk zu den Waffen ruft, um einmal mehr für »freedom for all of us to consume mankind« zu kämpfen. Die Verwüstungen im Stadtinneren aus Godzilla (1998) übergeben den Spezialeffekte-Staffelstab an die klimawandelbedingte Monsterwelle aus The Day After Tomorrow (2004). Das ins World Trade Center einschlagende Flugzeug entpuppt sich als die »Air Force One« wie in Die Klapperschlange (1981); die Aufnahmen angesichts der Katastrophe mobilisierter Einsatzkräfte und verheerender Zerstörungen stammen anteilig aus World Trade Center (2006), Cloverfield (2008) und dem Filmtrick-Meilenstein King Kong und die weiße Frau (1933); auf das unvermeidliche Ende – der Filmtitel ist natürlich nur ein Buchstabendreher aus Nuclear Holocaust – folgt der gewohnt übertrieben bedeutungsschwer durch die Vierte Wand schauende Nicolas Cage aus Knowing – Die Zukunft endet jetzt (2009) mit der Aufforderung: »Ich gehe jetzt schlafen. Macht eure Hausaufgaben, und dann solltet ihr auch schlafen gehen. Kein Fernsehen mehr heute abend!«
Die Lektion ist klar, auch ohne all die Nebendarsteller, die mit »Das habe ich doch schon mal gesehen!« und »Sie zeigen immer das gleiche!« zitiert werden: Seit die Bilder laufen gelernt haben, sind sie auch zu Traumfängern des zivilisatorischen Todestriebs geworden, ganz speziell in den USA mit ihrer urtümlich eschatologischen Tradition. Die abgegrenzte Gruppe in Camp, Wagenburg, Dorf, Metropole steht dabei für die (rechtschaffene) Menschheit im Daseinskampf gegen archaisch-fremd-verderbliche Mächte. Das herausragend multikulturelle New York versinnbildlicht im kulturellen Unterbewußtsein wie keine andere Agglomeration die City upon a hill, das »neue Jerusalem«, das sich auf dem Weg zum Jüngsten Gericht und dem anschließenden ewigen Leben der Rechtschaffenen unablässig des Andrangs der Wildnis erwehren muß.
Elf Jahre später, 15 Minuten länger – Architekturfilmer Heinz Emigholz, ehemaliger Professor für Experimentelle Filmgestaltung an der Berliner Universität der Künste, der 2005 bereits D’Annunzios Höhle, die Villa Cargnacco in Gardone am Gardasee, in eigenwillige Bilder faßte, stellt auf der Viennale seine jüngste Dokumentation (ihm selbst zufolge ein »Propagandawerk«), Schlachthäuser der Moderne, vor.
Die Doppeldeutigkeit liegt hierin auf der Hand: Einerseits ist das Schlachthaus wirtschaftlich wie bautechnisch vielleicht die Ausgeburt der städtischen Moderne schlechthin – kein anderer als Napoleon verfügte 1810 ein Verbot des »wilden« Schlachtens auf Pariser Straßen und die Errichtung der ersten behördlich regulierten Schlachthäuser; anderseits spürt Emigholz Gebäuden nach, in denen die Moderne nach seinem Dafürhalten geschlachtet wurde und wird: Das sind die faschistisch-futuristisch beeinflußten Art-deco-Schlachthäuser des argentinischen Architekten Francisco Salamone mit ihren Messerklingentürmen ebenso wie das 1950 gesprengte und heute als »Humboldt Forum« kontrovers rekonstruierte Berliner Schloß, das eigentliche Ziel des Films, da der Regisseur Wilhelm II. den Kriegstod seiner Großväter anlastet.
Während man darüber mit Recht die Augen verdrehen mag, bleibt doch die Gewißheit: Architektur vermittelt Gewalt, offen ist jeweils nur die Frage nach Sender und Empfänger. Und: Gewalt (violence / violence) ist eben nicht gleich Gewalt (power / pouvoir). Nehmen wir einmal als gegeben an, daß letztere, also im deutschen Sprachgebrauch »Macht«, in die Höhe strebt, während Gewalt in Breite und Schwere niederzudrücken bestrebt ist – das korrespondiert auf metaphysischer Ebene mit Thesen über den Zusammenhang zwischen dem Aufkommen des Städtebaus mutmaßlich um 9000 v. Chr. und der Abwendung von diffusen Naturkräften, hin zu Poly- und schließlich Monotheismus; andererseits paßt es zur überkommenen Dichotomie von gottesfürchtigem ruralen und verweltlichtem urbanen Raum.
Dies angenommen, bieten vielleicht die im wahrsten Sinne des Wortes mächtigen Flaktürme in Wien, Hamburg und Berlin Beispiele für den Versuch einer Synthese aus beidem im Sinne einer nach oben gerichteten aggressiven Schutzkuppelfunktion, deren sinnbildliche Tradition heutzutage ausgerechnet ein israelisches Luftabwehrsystem unter dem Namen »Iron Dome« samt aller sakralen Metaphorik fortführt, bei gleichzeitiger Deckung für die im Inneren Zuflucht suchende Bevölkerung unter bis zu fünf Meter dickem Stahlbeton.
Ebenso bilden sie ein wortwörtliches Aufbäumen gegen die infame Paarung von »horizontaler Besatzung und vertikaler Befreiung« im Bombenterror, wie sie die jüdische Architekturkritikerin Marianne Brausch in ihren Dialektischen Lektionen 1996 Virilio im Gespräch unterzuschieben versuchte – ihre letzten Salven gaben all diese Kolosse im Bodenkampf gegen Sowjetpanzer ab. Virilio vergleicht die Sprengung kleinerer Bunkerstrukturen nach Kriegsende mit symbolischen »Hinrichtung[en] ohne Gerichtsverfahren« zur Befriedigung der befreiten Bevölkerungen. Wo sie indes noch existieren und in aller Regel leer stehen, ist umgekehrt das klassische politisch »besetzte« Haus trotzdem stets ein Wohnhaus, heißt: daß die zumindest ihrem Selbstverständnis nach strukturell Machtlosen ihre Position durch die Inbesitznahme einer gewaltförmig-wohnbatterieförmigen Struktur zu verbessern versuchen.
Wo heutzutage Vertikalität keinen Wert mehr hat oder zumindest nicht mehr haben soll (denn Bankenviertel bilden stets bemerkenswerte Ausnahmen), ist es sinnlos geworden, durch die Struktur hoher Gebäude soziale Hierarchien darstellen zu wollen, wie dies in Literatur (Balzacs Vater Goriot) und Film (David Cronenbergs Shivers) noch lange funktioniert hat. Die Tendenz geht vielmehr zur Breite und zur Schwere, wie das Berliner Stelenfeld mit seinen zig Tempelhofer Schwerbelastungskörpern an Masse, hingestreut in einem so ortlosen wie allgegenwärtigen »Neo-Monumentalismus« (Heinrich Klotz), sehr plastisch verdeutlicht: Es soll wortwörtlich niederdrücken und untenhalten und vermochte bemerkenswerterweise dies vor seiner Fertigstellung am besten zu erfüllen, ehe es wie alle anderen Bauwerke der Stadt ins Alltagsleben und damit ins Unbewußte integriert werden konnte. Es bleibt ein Riesenhaufen an Beton, dem gewaltförmigen Gestein unseres »Anthropozäns«, das kommende Archäologen als bestimmenden Stoff des menschlichen Äons erkennen werden.
Wortwörtlich so gesehen ist denn auch der Unterschied zwischen dem (zweiten) Dornacher »Goetheanum« der Anthroposophen und Bauhaus-Architektur wie beispielsweise dem »Wohnhochhaus Ideal« in der Berliner berüchtigten Gropiusstadt nur ein ästhetischer, und tatsächlich entnahm der heute links wie rechts verachtete Brutalismus-Begründer Le Corbusier einer Besichtigung der Baustelle des noch von Rudolf Steiner selbst entworfenen Tempels 1927 zentrale Anregungen für seine eigene Arbeit. Beispielsweise die 1960er-Wohnanlage »Torres Blancas« in Madrid sieht dann wiederum wie ein historischer Flakbunker aus – so schließt sich der brutalistische Kreis der Moderne.
Der ehemalige linke Visionär Guy Debord schrieb 1985, ein Jahrzehnt vor seinem Freitod: »Wer hat beschlossen, die Banlieues von Sarcelles und Minguettes zu bauen und Paris und Lyon zu zerstören? Man kann nicht behaupten, daß sich keine Einwanderer an diesem infamen Werk beteiligt hätten. Aber sie taten es ausschließlich als Befehlsempfänger; das ist das übliche Schicksal des Lohnarbeiters. […] In Spanien, Italien, Algerien, bei den Zigeunern werden Kinder immer noch geliebt. Nicht so im heutigen Frankreich. Weder Mietwohnungen noch Städte werden für Kinder gebaut […].
Auf der anderen Seite ist die Schwangerschaftsverhütung allgemein gebräuchlich und die Abtreibung straffrei.« Das war nicht brutalistische Intention: Die schnelle Verschmutzung und Verwahrlosung der Bauten haben sozialpolitische Ursachen, keine architektonischen, und auch der nach der Abkehr vom Beton zurückgekehrte bürgerliche Ästhetizismus im Städtebau trägt sozialpolitische Handschrift.
Paul Virilio warf sich mit seiner Geschwindigkeitslehre in die Gegenbewegung und zog nach Jahrzehnten in Paris schließlich in die aquitanische Küstenstadt La Rochelle – deren zyklopische U‑Boot-Bunkeranlage La Pallice hatte er bereits für die »Bunker archéologie« porträtiert. Wer ehrlich ist, muß zugeben, daß ein Bunker bisweilen häßlich, aber nie ganz bedrohlich wirkt, eher beruhigend – wenn man nicht am falschen Ende gähnender Öffnungen für Geschützrohre steht. Die epochale Gewalt unseres Zeitalters ist uns nicht nur in die Gene eingegangen, sondern wird, in (Kunst-)Stein gegossen, dereinst der fossile Rest all unserer Errungenschaften sein.