Mobilmachung der Starre – Macht und Gewalt im Bau

PDF der Druckfassung aus Sezession 114/ Juni 2023

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Das am ers­ten Mai­wo­chen­en­de in Ber­lin abge­hal­te­ne »Drift Fes­ti­val« wid­me­te sich der Psy­cho­geo­gra­phie – eine begriff­li­che Schöp­fung der fran­zö­si­schen Situa­tio­nis­ten der 1950er und 1960er Jah­re um Guy Debord, die einen Zugriff auf die mensch­lich geform­te städ­ti­sche Umwelt unter dem Gesichts­punkt der die­ser ein­ge­schrie­be­nen Kon­troll- und For­mie­rungs­wir­kun­gen sucht.

Debord ergänz­te die­ses Theo­rie­be­steck um die Pra­xis der ­Déri­ve, des ziel­lo­sen, aber nichts­des­to­we­ni­ger auf­merk­sa­men Umher­schwei­fens, um All­tags­trott und »fal­sches Bewußt­sein« in der urba­nen Umge­bung wort­wört­lich zu unter­lau­fen. Der Deutsch­land­funk, stets auf der Suche nach pom­pö­sem Wort­ge­klin­gel, faß­te den Akt in einem Fea­ture über das Fes­ti­val als »dis­si­den­tes Spa­zie­ren­ge­hen« und, bes­ser, »Unter-Wan­dern der Städ­te« zusammen.

Wer hier PEGI­DA-Luft wit­tert, ist aller­dings zu bür­ger­lich unter­wegs; gera­de bei den Regie­rungs­sen­dern wird man eher selbst noch das Durch­wan­dern unse­rer über­frem­de­ten städ­ti­schen Dienst­leis­tungs­ku­lis­sen für die wohl­fühl­lin­ke Kul­tur­ge­mein­schaft ver­ein­nah­men wol­len. Reich­lich abge­schmackt eigent­lich, bedenkt man, daß Debord ursprüng­lich von der futu­ris­tisch-sur­rea­lis­ti­schen Künst­ler­be­we­gung der Lett­ris­ten her­kam. Deren her­aus­ra­gends­ter Akti­vist, der aus einer Archi­tek­ten­fa­mi­lie stam­men­de His­to­ri­ker Michel Mour­re, wur­de in den 1950ern einer der bei­den bes­ten Freun­de von Armin Moh­ler und griff spä­ter unter ande­rem regel­mä­ßig für die dama­li­ge Zeit­schrift der roya­lis­tisch-natio­na­lis­ti­schen Action fran­çai­se, Aspects de la France, zur Feder.

Für die frank­reich­wei­ten und ins­be­son­de­re in Paris auf­bran­den­den Unru­hen des Jahrs 1968 stan­den die Lett­ris­ten nicht mehr parat (sie hat­ten sich über eine Stör­ak­ti­on gegen den Schau­spie­ler Char­lie Chap­lin ent­zweit), doch hat­te der anti­au­to­ri­tä­re Debord sei­ne Gefolgs­leu­te längst in die Situa­tio­nis­ti­sche Inter­na­tio­na­le über­führt und mit Die Gesell­schaft des Spek­ta­kels 1967 eines der zen­tra­len Wer­ke der fran­zö­si­schen Stu­den­ten­be­we­gung ver­öf­fent­licht, das in einem eige­nen »Raumordnung«-Kapitel mit der urba­nen Gestal­tung der frü­hen Fünf­ten Repu­blik zwecks Iso­la­ti­on und Zer­streu­ung des Indi­vi­du­ums abrechnete.

Einer, der sich ins­be­son­de­re von die­sem Aspekt des Pari­ser Mai 1968 beein­druckt zei­gen soll­te, war der abge­rüs­te­te Alge­ri­en­kämp­fer, gelern­te Maler und auto­di­dak­ti­sche Archi­tekt Paul Viri­lio – beein­druckt, doch nicht beein­flußt, denn anders als etwa dem eben­falls durch 1968 hin­durch­ge­gan­ge­nen Jean Bau­dril­lard (vgl. Sezes­si­on 92/2019) fehl­te es ihm an einer klas­si­schen aka­de­mi­schen Lauf­bahn abseits eini­ger phä­no­me­no­lo­gi­scher Vor­le­sun­gen bei Mer­leau-Pon­ty vor Antritt sei­nes Mili­tär­diens­tes (wes­halb er sich auch nie­mals selbst als Phi­lo­soph sah).

Viri­li­os maß­geb­li­cher Ein­fluß war im Gegen­satz zu den bekann­ten Post­struk­tu­ra­lis­ten mit ihrem vor­ran­gi­gen Zugriff auf die Spra­che nicht die Leh­re Fer­di­nand de ­Sauss­u­res, son­dern sei­ne eige­ne Kind­heit und Jugend, die er zwi­schen deut­schen Bun­kern des Atlan­tik­walls und alli­ier­ten Bom­ben­kra­tern in und um die Stadt Nan­tes in der his­to­ri­schen Bre­ta­gne ver­bracht hat­te. 1958, soeben aus dem Alge­ri­en­ein­satz zurück­ge­kehrt, begab er sich auf eine phä­no­me­no­lo­gi­sche Expe­di­ti­on ent­lang der fran­zö­si­schen Atlan­tik­küs­te und stu­dier­te die viel­fäl­ti­gen deut­schen Bun­ker­an­la­gen in ihren unter­schied­li­chen Bau­wei­sen, Sta­di­en des Ver­falls und Ein­fü­gun­gen in das Raum­bild des Nachkriegs.

1975 zeig­te er sei­ne Erkennt­nis­se, gar­niert mit Zita­ten unter ande­rem von Höl­der­lin und Ril­ke (»Kunst­wer­ke sind von unend­li­cher Ein­sam­keit«), im Rah­men der Aus­stel­lung »Bun­ker archéo­lo­gie« im Lou­vre; im sel­ben Jahr ernann­te man ihn zum Gene­ral­di­rek­tor der ein­zi­gen pri­va­ten Archi­tek­tur­hoch­schu­le Frank­reichs, der ÉSA in Paris, deren Stu­den­ten ihn 1968 im Rah­men eines revo­lu­tio­nä­ren Ple­nums trotz feh­len­der aka­de­mi­scher Wei­hen zum Lehr­be­auf­trag­ten gewählt hatten.

Statt wie Fou­cault oder Deleu­ze Macht­dy­na­mi­ken und Dis­kur­se zu ergrün­den, erach­te­te Viri­lio die Kom­mu­ni­ka­ti­on als letzt­lich blo­ßen Bei­fang der tech­no­lo­gi­schen und räum­li­chen Ent­wick­lung, die sich als Aus­fluß mili­tä­ri­schen Den­kens und Pla­nens mani­fes­tie­re. Die Poten­zie­rung der Geschwin­dig­keit – vom anti­ken Heer­zug zum Blitz­krieg, vom rei­ten­den Boten zur Echt­zeit­kom­mu­ni­ka­ti­on, vom Kata­pult zur Inter­kon­ti­nen­tal­ra­ke­te – kom­pri­mie­re den Raum und defor­mie­re den Men­schen mit­samt sei­nen Lebensbedingungen.

Am 11. Sep­tem­ber 2011, anläß­lich des zehn­ten Jah­res­tags der »9/11«-Ereignisse, führ­te das an die Situa­tio­nis­ti­sche Inter­na­tio­na­le ange­lehn­te, anony­me drei­köp­fi­ge Film­kol­lek­tiv »Anti-Bana­li­ty Uni­on« sei­ne ers­te eige­ne Pro­duk­ti­on auf. 65 Minu­ten spä­ter hat­te das Publi­kum eine Gedenk­fei­er der etwas ande­ren Art durch­lebt (und zum Teil wohl durch­lit­ten): Der Film mit dem nur mäßig pie­tät­vol­len Titel Unclear Holo­caust reiht unkom­men­tiert auf halb wit­zi­ge, halb unan­ge­neh­me Wei­se Sze­nen aus mehr als 50 mil­lio­nen­schwer pro­du­zier­ten Hol­ly­wood-Block­bus­tern hin­ter­ein­an­der, die vom bana­len All­tag schlag­ar­tig dazu über­ge­hen, in gera­de­zu lüs­ter­nem Bom­bast die Ver­nich­tung von New York City zu zelebrieren.

So wird der selbst­be­wuß­te ers­te Angriff der U.S. Air Force auf das außer­ir­di­sche Mut­ter­schiff in Inde­pen­dence Day (1996) im Wech­sel­schnitt mit dem Meteo­ri­ten­schau­er aus Arma­ged­don – Das jüngs­te Gericht (1998) zum vom Pen­ta­gon aus orches­trier­ten Rake­ten­trom­mel­feu­er auf die eige­ne Metro­po­le, an des­sen Ende der Prä­si­dent sein auf­ge­peitsch­tes Volk zu den Waf­fen ruft, um ein­mal mehr für »free­dom for all of us to con­su­me man­kind« zu kämp­fen. Die Ver­wüs­tun­gen im Stadt­in­ne­ren aus God­zil­la (1998) über­ge­ben den Spe­zi­al­ef­fek­te-Staf­fel­stab an die kli­ma­wan­del­be­ding­te Mons­ter­wel­le aus The Day After Tomor­row (2004). Das ins World Trade Cen­ter ein­schla­gen­de Flug­zeug ent­puppt sich als die »Air Force One« wie in Die Klap­per­schlan­ge (1981); die Auf­nah­men ange­sichts der Kata­stro­phe mobi­li­sier­ter Ein­satz­kräf­te und ver­hee­ren­der Zer­stö­run­gen stam­men antei­lig aus World Trade Cen­ter (2006), Clover­field (2008) und dem Film­trick-Mei­len­stein King Kong und die wei­ße Frau (1933); auf das unver­meid­li­che Ende – der Film­ti­tel ist natür­lich nur ein Buch­sta­ben­dre­her aus Nuclear Holo­caust – folgt der gewohnt über­trie­ben bedeu­tungs­schwer durch die Vier­te Wand schau­en­de Nico­las Cage aus Kno­wing – Die Zukunft endet jetzt (2009) mit der Auf­for­de­rung: »Ich gehe jetzt schla­fen. Macht eure Haus­auf­ga­ben, und dann soll­tet ihr auch schla­fen gehen. Kein Fern­se­hen mehr heu­te abend!«

Die Lek­ti­on ist klar, auch ohne all die Neben­dar­stel­ler, die mit »Das habe ich doch schon mal gese­hen!« und »Sie zei­gen immer das glei­che!« zitiert wer­den: Seit die Bil­der lau­fen gelernt haben, sind sie auch zu Traum­fän­gern des zivi­li­sa­to­ri­schen Todes­triebs gewor­den, ganz spe­zi­ell in den USA mit ihrer urtüm­lich escha­to­lo­gi­schen Tra­di­ti­on. Die abge­grenz­te Grup­pe in Camp, Wagen­burg, Dorf, Metro­po­le steht dabei für die (recht­schaf­fe­ne) Mensch­heit im Daseins­kampf gegen archa­isch-fremd-ver­derb­li­che Mäch­te. Das her­aus­ra­gend mul­ti­kul­tu­rel­le New York ver­sinn­bild­licht im kul­tu­rel­len Unter­be­wußt­sein wie kei­ne ande­re Agglo­me­ra­ti­on die City upon a hill, das »neue Jeru­sa­lem«, das sich auf dem Weg zum Jüngs­ten Gericht und dem anschlie­ßen­den ewi­gen Leben der Recht­schaf­fe­nen unab­läs­sig des Andrangs der Wild­nis erweh­ren muß.

Elf Jah­re spä­ter, 15 Minu­ten län­ger – Archi­tek­tur­fil­mer Heinz Emig­holz, ehe­ma­li­ger Pro­fes­sor für Expe­ri­men­tel­le Film­ge­stal­tung an der Ber­li­ner Uni­ver­si­tät der Küns­te, der 2005 bereits D’Annunzios Höh­le, die Vil­la Carg­nac­co in Gar­do­ne am Gar­da­see, in eigen­wil­li­ge Bil­der faß­te, stellt auf der Vien­na­le sei­ne jüngs­te Doku­men­ta­ti­on (ihm selbst zufol­ge ein »Pro­pa­gan­da­werk«), Schlacht­häu­ser der Moder­ne, vor.

Die Dop­pel­deu­tig­keit liegt hier­in auf der Hand: Einer­seits ist das Schlacht­haus wirt­schaft­lich wie bau­tech­nisch viel­leicht die Aus­ge­burt der städ­ti­schen Moder­ne schlecht­hin – kein ande­rer als Napo­le­on ver­füg­te 1810 ein Ver­bot des »wil­den« Schlach­tens auf Pari­ser Stra­ßen und die Errich­tung der ers­ten behörd­lich regu­lier­ten Schlacht­häu­ser; ander­seits spürt Emig­holz Gebäu­den nach, in denen die Moder­ne nach sei­nem Dafür­hal­ten geschlach­tet wur­de und wird: Das sind die faschis­tisch-futu­ris­tisch beein­fluß­ten Art-deco-Schlacht­häu­ser des argen­ti­ni­schen Archi­tek­ten Fran­cis­co Sala­mo­ne mit ihren Mes­ser­klin­gen­tür­men eben­so wie das 1950 gespreng­te und heu­te als »Hum­boldt Forum« kon­tro­vers rekon­stru­ier­te Ber­li­ner Schloß, das eigent­li­che Ziel des Films, da der Regis­seur Wil­helm II. den Kriegs­tod sei­ner Groß­vä­ter anlastet.

Wäh­rend man dar­über mit Recht die Augen ver­dre­hen mag, bleibt doch die Gewiß­heit: Archi­tek­tur ver­mit­telt Gewalt, offen ist jeweils nur die Fra­ge nach Sen­der und Emp­fän­ger. Und: Gewalt (vio­lence / vio­lence) ist eben nicht gleich Gewalt (power/pou­voir). Neh­men wir ein­mal als gege­ben an, daß letz­te­re, also im deut­schen Sprach­ge­brauch »Macht«, in die Höhe strebt, wäh­rend Gewalt in Brei­te und Schwe­re nie­der­zu­drü­cken bestrebt ist – das kor­re­spon­diert auf meta­phy­si­scher Ebe­ne mit The­sen über den Zusam­men­hang zwi­schen dem Auf­kom­men des Städ­te­baus mut­maß­lich um 9000 v. Chr. und der Abwen­dung von dif­fu­sen Natur­kräf­ten, hin zu Poly- und schließ­lich Mono­the­is­mus; ande­rer­seits paßt es zur über­kom­me­nen Dicho­to­mie von got­tes­fürch­ti­gem rura­len und ver­welt­lich­tem urba­nen Raum.

Dies ange­nom­men, bie­ten viel­leicht die im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes mäch­ti­gen Flak­tür­me in Wien, Ham­burg und Ber­lin Bei­spie­le für den Ver­such einer Syn­the­se aus bei­dem im Sin­ne einer nach oben gerich­te­ten aggres­si­ven Schutz­kup­pel­funk­ti­on, deren sinn­bild­li­che Tra­di­ti­on heut­zu­ta­ge aus­ge­rech­net ein israe­li­sches Luft­ab­wehr­sys­tem unter dem Namen »Iron Dome« samt aller sakra­len Meta­pho­rik fort­führt, bei gleich­zei­ti­ger Deckung für die im Inne­ren Zuflucht suchen­de Bevöl­ke­rung unter bis zu fünf Meter dickem Stahlbeton.

Eben­so bil­den sie ein wort­wört­li­ches Auf­bäu­men gegen die infa­me Paa­rung von »hori­zon­ta­ler Besat­zung und ver­ti­ka­ler Befrei­ung« im Bom­ben­ter­ror, wie sie die jüdi­sche Archi­tek­tur­kri­ti­ke­rin Mari­an­ne Brausch in ihren Dia­lek­ti­schen Lek­tio­nen 1996 ­Viri­lio im Gespräch unter­zu­schie­ben ver­such­te – ihre letz­ten Sal­ven gaben all die­se Kolos­se im Boden­kampf gegen Sowjet­pan­zer ab. Viri­lio ver­gleicht die Spren­gung klei­ne­rer Bun­ker­struk­tu­ren nach Kriegs­en­de mit sym­bo­li­schen »Hinrichtung[en] ohne Gerichts­ver­fah­ren« zur Befrie­di­gung der befrei­ten Bevöl­ke­run­gen. Wo sie indes noch exis­tie­ren und in aller Regel leer ste­hen, ist umge­kehrt das klas­si­sche poli­tisch »besetz­te« Haus trotz­dem stets ein Wohn­haus, heißt: daß die zumin­dest ihrem Selbst­ver­ständ­nis nach struk­tu­rell Macht­lo­sen ihre Posi­ti­on durch die Inbe­sitz­nah­me einer gewalt­för­mig-wohn­bat­te­rie­för­mi­gen Struk­tur zu ver­bes­sern versuchen.

Wo heut­zu­ta­ge Ver­ti­ka­li­tät kei­nen Wert mehr hat oder zumin­dest nicht mehr haben soll (denn Ban­ken­vier­tel bil­den stets bemer­kens­wer­te Aus­nah­men), ist es sinn­los gewor­den, durch die Struk­tur hoher Gebäu­de sozia­le Hier­ar­chien dar­stel­len zu wol­len, wie dies in Lite­ra­tur (Bal­zacs Vater ­Gori­ot) und Film (David Cro­nen­bergs Shi­vers) noch lan­ge funk­tio­niert hat. Die Ten­denz geht viel­mehr zur Brei­te und zur Schwe­re, wie das Ber­li­ner Ste­len­feld mit sei­nen zig Tem­pel­ho­fer Schwer­be­las­tungs­kör­pern an Mas­se, hin­ge­streut in einem so ort­lo­sen wie all­ge­gen­wär­ti­gen »Neo-Monu­men­ta­lis­mus« (Hein­rich Klotz), sehr plas­tisch ver­deut­licht: Es soll wort­wört­lich nie­der­drü­cken und unten­hal­ten und ver­moch­te bemer­kens­wer­ter­wei­se dies vor sei­ner Fer­tig­stel­lung am bes­ten zu erfül­len, ehe es wie alle ande­ren Bau­wer­ke der Stadt ins All­tags­le­ben und damit ins Unbe­wuß­te inte­griert wer­den konn­te. Es bleibt ein Rie­sen­hau­fen an Beton, dem gewalt­för­mi­gen Gestein unse­res »Anthro­po­zäns«, das kom­men­de Archäo­lo­gen als bestim­men­den Stoff des mensch­li­chen Äons erken­nen werden.

Wort­wört­lich so gese­hen ist denn auch der Unter­schied zwi­schen dem (zwei­ten) Dor­nacher »Goe­the­a­num« der Anthro­po­so­phen und Bau­haus-Archi­tek­tur wie bei­spiels­wei­se dem »Wohn­hoch­haus Ide­al« in der Ber­li­ner berüch­tig­ten Gro­pi­us­stadt nur ein ästhe­ti­scher, und tat­säch­lich ent­nahm der heu­te links wie rechts ver­ach­te­te Bru­ta­lis­mus-Begrün­der Le ­Cor­bu­si­er einer Besich­ti­gung der Bau­stel­le des noch von Rudolf Stei­ner selbst ent­wor­fe­nen Tem­pels 1927 zen­tra­le Anre­gun­gen für sei­ne eige­ne Arbeit. Bei­spiels­wei­se die 1960er-Wohn­an­la­ge »Tor­res Blan­cas« in Madrid sieht dann wie­der­um wie ein his­to­ri­scher Flak­bun­ker aus – so schließt sich der bru­ta­lis­ti­sche Kreis der Moderne.

Der ehe­ma­li­ge lin­ke Visio­när Guy Debord schrieb 1985, ein Jahr­zehnt vor sei­nem Frei­tod: »Wer hat beschlos­sen, die Ban­lieues von Sar­cel­les und Min­guet­tes zu bau­en und Paris und Lyon zu zer­stö­ren? Man kann nicht behaup­ten, daß sich kei­ne Ein­wan­de­rer an die­sem infa­men Werk betei­ligt hät­ten. Aber sie taten es aus­schließ­lich als Befehls­emp­fän­ger; das ist das übli­che Schick­sal des Lohn­ar­bei­ters. […] In Spa­ni­en, Ita­li­en, Alge­ri­en, bei den Zigeu­nern wer­den Kin­der immer noch geliebt. Nicht so im heu­ti­gen Frank­reich. Weder Miet­woh­nun­gen noch Städ­te wer­den für Kin­der gebaut […].

Auf der ande­ren Sei­te ist die Schwan­ger­schafts­ver­hü­tung all­ge­mein gebräuch­lich und die Abtrei­bung straf­frei.« Das war nicht bru­ta­lis­ti­sche Inten­ti­on: Die schnel­le Ver­schmut­zung und Ver­wahr­lo­sung der Bau­ten haben sozi­al­po­li­ti­sche Ursa­chen, kei­ne archi­tek­to­ni­schen, und auch der nach der Abkehr vom Beton zurück­ge­kehr­te bür­ger­li­che Ästhe­ti­zis­mus im Städte­bau trägt sozi­al­po­li­ti­sche Handschrift.

Paul Viri­lio warf sich mit sei­ner Geschwin­dig­keits­leh­re in die Gegen­be­we­gung und zog nach Jahr­zehn­ten in Paris schließ­lich in die aqui­ta­ni­sche Küs­ten­stadt La Rochel­le – deren zyklo­pi­sche U‑Boot-Bun­ker­an­la­ge La ­Pal­li­ce hat­te er bereits für die »Bun­ker archéo­lo­gie« por­trä­tiert. Wer ehr­lich ist, muß zuge­ben, daß ein Bun­ker bis­wei­len häß­lich, aber nie ganz bedroh­lich wirkt, eher beru­hi­gend – wenn man nicht am fal­schen Ende gäh­nen­der Öff­nun­gen für Geschütz­roh­re steht. Die epo­cha­le Gewalt unse­res Zeit­al­ters ist uns nicht nur in die Gene ein­ge­gan­gen, son­dern wird, in (Kunst-)Stein gegos­sen, der­einst der fos­si­le Rest all unse­rer Errun­gen­schaf­ten sein.

 

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

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