Plattenbau darf man als ehrliche und lebenspraktische Architektur ansehen. Neue Sachlichkeit der sozialistischen Planwirtschaft. Ja, Funktionalität ging da vor Ästhetik, und die Plattenbezirke entstanden aus dem Mangel und vor dem Hintergrund der Tragik zerfallender DDR-Innenstädte, die ihrerseits das markanteste Zeichen des Niedergangs waren.
Aber immerhin, die Platte lebte. Dort erhielten »unsere jungen Familien« schlüsselfertige Quartiere. Kernstück der sogenannten Wirtschafts- und Sozialpolitik der DDR war das ehrgeizige Wohnungsbauprogramm, beschlossen 1972 und einen beispiellosen Beton-Bauboom auslösend. Offiziell wurden bis 1990 drei Millionen Plattenbauwohnungen hochgeklotzt, tatsächlich waren es nur knapp zwei Millionen, immer noch eine enorme Leistung. Dem Land fehlten zwar Bodenschätze und industrielle Ressourcen, aber dank eiszeitlich geprägter Geologie erschienen Kiese und Sande für den Betrieb der Zement- und Betonwerke unerschöpflich.
Gefühlt fuhr die halbe Arbeiterschaft »auf Montage«, überdurchschnittlich viele Absolventen der Polytechnischen Oberschulen wurden zu Baufacharbeitern für Wohnungsbaukombinate ausgebildet oder lernten verwandte Gewerke, um Berlin-Hellersdorf und ‑Marzahn, Halle-Neustadt und Leipzig-Grünau, Rostock-Lütten Klein und Dresden-Prohlis hochzuziehen.
In den Plattenbau-Trabantenstädten entstanden all die gleichfalls aus Normteilen errichteten Schulen, Kinderkrippen und Kindergärten, die Restaurants, Kulturhäuser, Schwimm- und Sporthallen, dazwischen die Wäscheplätze und Grünflächen. Es herrschte der rechte Winkel des Reißbretts. Hier und da gab’s sozialistische Kunst, also große Fassadenfresken und Plastiken, die vermeintlich heroische Arbeiterbewegung verklärend und die allzu gesund anmutenden Sieger der Geschichte zeigend, die sich in ein paar Jahren bereits als Verlieren erweisen sollten, mindestens als ideologisch verzerrte Trugbilder.
Die Planer wollten in den neuen Stadtteilen nicht nur Wohnungen entstehen sehen, sondern überhaupt die »sozialistische Lebensweise«, die im Altgemäuer der Städte so revolutionär nicht vorstellbar war. Der Plattenbau galt seinen Gestaltern eben nicht als Notlösung, sondern als das genau so angestrebte Neue, das absolut aussehen sollte, wie es dann aussah.
Für die Rettung und den Ausbau der innerstädtischen historischen Substanz mochte es zwar sowieso an Mitteln und Technologie fehlen, allerdings schlug man das reiche Erbe politisch motiviert, also ganz bewußt, aus, sah man darin doch ein Zeugnis der zu überwindenden alten Klassengesellschaft. Mochte es zerbröckeln und zerbröseln. Erst in den Achtzigern, zu spät, steuerte man für einige isolierte Renommierprojekte wie das Berliner Nikolaiviertel um.
In den neuen Stadtteilen voller Kinder und Jugendlicher war die DDR hingegen ganz bei sich selbst. Friedhöfe gab’s dort gar nicht, das Sterben schien der Altstadt vorbehalten.
Von Arbeiterschließfächern war in der DDR schon immer mißgünstig die Rede, Heiner Müller sprach sogar verächtlich von »Fickzellen«. Individualisten renovierten sich im Verfall lieber mangelimprovisiert etwas markant Eigenes, als in die durchgenormten Wohnungseinheiten zu ziehen, in denen Freigeister sich kaserniert fühlen mußten. So wohnte die traditionelle Intelligenz auch weiter im so pittoresken wie mürben Altbau, die sozialistische aber durchaus im Planbeton.
Das Land war demographisch jung, geheiratet wurde sehr früh, Kinder galten dem DDR-Sozialismus als Segen. Wohin als junge Familie mit Ehekredit und Kinderprämien? Niemand sprach damals von »Platte«, man nannte die begehrten Baukastenwohnungen respektvoll »Neubauten«. Was die boten, galt – relativ – als Luxus: Die Fenster waren dicht, die Wohnungen trocken und ferngeheizt, niemand mußte mehr Kohlen schleppen, die Bäder erschienen komfortabel – warmes Wasser rund um die Uhr in einem hygienischen Sanitärbereich. Dazu Einbauküchen, teilweise mit Durchreiche ins Wohnzimmer: Das stand für neue Gemütlichkeit.
Der SED-Staat verlangte in den Blocks die Gründung von Hausgemeinschaften und ließ Hausbücher im Sinne von Meldeakten führen. Das bedeutete Vereinnahmung und Kontrolle, klar, aber die war man gewohnt, und hier und da gestaltete sich die Kollektivierung mit Subbotnik in der Blumenrabatte und Partykeller-Disco am Abend soziokulturell ganz lebendig, und davon, daß allüberall ein Denunziant zur freundlichen Umgebung gehören konnte, ging man ohnehin aus. Es gibt daran nichts zu verklären, nur hieß es damals in der immer ruinöseren Altstadt öfter: Hier wohnen die, die es nicht in die Neubauten geschafft haben.
Heute leben in der Platte umgekehrt jene, die es nicht in die längst restaurierte und gentrifizierte Innenstadt geschafft haben. Zum einen sind das die übriggebliebenen Elternteile der in den Siebzigern und Achtzigern hier eingezogenen Familien, jene, die nach Wende und Wiedervereinigung den Anschluß verpaßten und sich kein Eigenheim im Umkreis der Städte bauen konnten. Zum anderen siedelten sich der vergleichsweise geringen Mieten wegen die Ärmeren und das neue Prekariat an, vor allem aber die über den gesteigerten Flüchtlingszustrom in den zunehmenden Wohnungsleerstand gewiesenen Migranten und »Schutzsuchenden«, denen das Amt die Miete bezahlt.
Die Plattenbaubezirke sind jetzt Orte der neuen Armut und der von der Berliner Republik romantisierten Buntheit – in unromantischer Gestalt. Mit den Migrationswellen ab 2015 endete aufgrund des dringenden Unterbringungsbedarfs der in den dreißig Nachwendejahren gesteigerte Platten-Rückbau und ‑Abriß. (Durch die fehlenden Blöcke ergab sich ein aufgelockerteres Siedlungsbild. Mehr Raum durch wildblühende Brachflächen, leider oft zugemüllt.)
Weil Kapitalismus nicht neu erfunden werden mußte, entstanden in den umgebauten Zweckbauten Drehspießgastronomie und basarartig-bunte orientalische Läden, die das verkaufen, was die Eingewanderten zu essen gewohnt sind. Offenbar lebt ein ganzer Produktions- und Handelszweig davon: tiefgefrorene Falafel, Fladenbrot, Hülsenfrüchte und Reis, viel Obst und Gemüse, getrocknete Feigen und Datteln, alles »halal«.
Auf meinem Platten-Kiez schraubt hinterm Orient-Laden »Café Damaskus« ein älterer Charismatiker in einem Holzverschlag aus jeweils mehreren Schrottexemplaren gangbare Fahrräder für etwa hundert Euro das Stück zusammen. Seine angepinnte Visitenkarte weist einen russisch-jüdischen Namen aus. Fahrräder sichern Bewegungsfreiheit, ersparen die Enge von Bussen und Straßenbahn. Man ist mit ihnen schnell in die Innenstadt oder in die Natur gesurrt, zu der es vom Randbezirk aus nie weit ist.
Die Stadtplaner versuchen zu »diversifizieren«. Manchen alten Blocks wurde in der Länge das mittlere Drittel entfernt; so entstanden kleinere Wohnwürfel mit großzügig geschnittenen Wohnungen, Glasbalkonen und Terrasse mit Gärtchen im Erdgeschoß. Sogar Bereiche mit beinahe edel anmutenden Eigenheimen im Bungalow-Stil gibt es, mitten im Kiez, dezent umzäunt.
Banlieues sind trotz hohen Migrantenanteils in den Betonstädten nicht entstanden. Noch verfügt die Berliner Republik über Mittel, den sozialen Wohnungsbau zu fördern. Die grauen Mehrgeschosser und Hochhäuser wurden nicht nur äußerlich freundlich getüncht, sondern innen auf guten Standard getrimmt: doppelt verglaste Verbundfenster, durchgehende Strangsanierung aller Wasser- und Abflußrohre, neue Elektrik, pflegeleichte Kunststoffußböden, Bäder mit dezenten Highlights wie Fußbodenheizung und Marken-Armaturen von Grohe.
Wer mit sich klarzukommen versteht, der bekommt das auch im reduzierten Interieur der Platte hin. Sogar die Deutschen. Und wer hier sein Leben nicht im Griff hat, der rettete es ebensowenig in der hübschen Innenstadt, fällt im Randbezirk aber weniger auf. Ja, es gibt mehr fehlernährtes Übergewicht im Feinripp als anderswo, mehr Jogginghosen für Leute, die nie joggen, es gibt bizarre Tattoos und sichtbaren Alkoholismus, mehr Kippen, mehr Scherben und Plastemüll und allzu früh gealterte Gesichter. In der Papiertonne liegt ein Porno-Kalender, immerhin richtig entsorgt. Vermutlich gibt es mehr Vereinzelung und Vereinsamung, mehr Abgeschlossenheit gegenüber der hippen und woken Innenstadtwelt mit ihrem urbanen Chic, viel, viel mehr farbige Kinder, mehr Russisch oder Ukrainisch und nirgendwo Bioläden oder Lastenräder.
Aber es gibt neuerdings Aufgänge, in denen sich die Mieter zusammenraufen, wo man dank glücklicher Umstände oder plötzlicher Notwendigkeit wieder miteinander spricht, sich bei den Alltagsdingen hilft und im Sommer einfach Bierbänke und ‑tische vor die Türen stellt: Nudelsalat in Tupperdosen, Kasten Pils, Grill. Neue Hausgemeinschaften, natürlich entstanden anstatt politisch. Alltagskultur kann damit beginnen, daß einer damit anfängt, im Nahbereich den Müll aufzusammeln oder einen Karton für Altpapier hinzustellen. Weil alles gesehen wird, registriert man auch das; man fragt, man dankt und lernt, daß Dreck nicht von selbst entsteht. Menschen raufen sich überall zusammen und bilden – Kommunen.
Wer aus freien Stücken herzieht, folgt antizyklischen Motiven: Die Miete ist preiswert, knapp fünfzig Quadratmeter Zweiraumwohnung sind beherrschbar zu bewirtschaften, gerade wenn man es sich zum neu-stoischen Lebensprinzip erhebt, mit wenig Anhaftung auszukommen – Kaltmiete einer 47-Quadratmeter-Wohnung: 255 Euro, warm 385 Euro Monatsmiete, knapp 8,20 Euro der Quadratmeter. Hier zu leben darf man als zivilen Ungehorsam gegenüber den durch die Decke schießenden Mieten in den Altstadtgebieten auffassen. (Glück bei den Nebenkosten haben abgehärtete Naturen, die in der Mitte der Blocks leben. Da rundum geheizt wird und die Wärme für umwohnende Bürgergeldler sowieso inklusive ist, braucht man dort die Heizung gar nicht aufzudrehen; die von den Nachbarn durchlaufenden brüllheißen Rohre strahlen genug ab.)
»Große Fenster wünsch ich allen Menschen, / die Gardinen spärlich nur und dünn, / daß die Einsicht und die Aussicht groß sind, / wie ich gern von beidem selber bin.« So dichtete der DDR-Liedermacher Kurt Demmler mit Blick auf die DDR-Plattenbauten des Wohnungsprogramms. Und tatsächlich: Lieber viel freien Himmel und Distanz zum nächsten Beton als den deprimierenden Blick auf die gegenüberliegende Dachtraufe in der Enge malerischer Fachwerkstraßen.
Unverstelltes Leben: Wir sehen einander im Plattenbaugebiet andauernd, was immer wir mit dieser unbekannten Bekanntschaft anfangen mögen. Wir blicken einander in die Fenster – die armen Verlierer, die verzagten und die dreisten Migranten, die Alten, die nicht aufgeben, und die Jungen, die irgendwas zu beginnen versuchen, jene, die früher »Hartzer« waren und heute »Bürgergeld-Empfänger« sind, weil das System dazu einlädt und weil für nicht wenige ansonsten nur die kalte physische Not in Gestalt von Mangel und Obdachlosigkeit bliebe.
Wir begegnen uns also allzu nah und beherrschen daher die Plessnersche Formen der Distanzierung. Der Philosoph plädierte »für eine Kultur der Zartheit, die erst mal versucht, alles Eruptive, Ausdrückliche und Eindeutige zu vermeiden: Das Unmittelbare soll erst mal ausgeklammert werden, damit man sich begegnen kann«. Gerade eine gewisse Distanz gilt ihm als die Bedingung für soziale Annäherung und so als kulturbildend. Und genau das praktizieren die Plattenbau-Bewohner alltäglich, eben weil sie Platte an Platte und technisch bedingt allzu dicht in krasser Unmittelbarkeit leben. Weil sich das lernen läßt, ist es viel weniger »eruptiv« in der Platte, als es der Innenstädter annehmen mag, der dort draußen laute Exzesse und Gewalt fürchtet, die so gerade kaum stattfinden. Aber wenn mal jemand ausrastet, etwa beim Ehekrach, hat er freilich die ganz große Bühne und den gegenüberliegenden Block als Publikum sicher.
Mag sein, es gibt hier weniger narzißtische und theatralische Auftritte als bei den exaltierteren Bewohnern der nobleren Quartiere. Wir in der Platte haben keinen Grund, uns mit viel Pomp und Effekt aufzuspielen, denn das Motiv, hier zu leben, ist bei allen das gleiche: zwingende Notwendigkeit, haushalterisch maßhalten zu müssen. Wer als Kind hier aufwuchs, mag die Platte als Zuhause empfinden, anderen wird sie eher zwangsläufig zu einer eigenwillig spröden Heimat. Die meisten wollen jedoch wieder weg, leben also auf Durchreise, bis sie vielleicht doch mal über den Mindestlohn hinaus sind.
Jeder hier weiß, daß die seit der DDR immer noch mit römischen Ziffern benannten Bauabschnitte als Orte armseliger Wohnkultur und so als Quartier für minderwertige Typen gelten. Daraus aber kann man etwas machen. Indem man sein Ding macht, während man sich woanders eher zu Angepaßtheiten gezwungen sieht. Wir hier spielen gelassen untere Liga; von der aus kann man auf‑, woanders eher nur absteigen. Wenn sich die Russen im Winter bei Graupelschauern zum Volleyball treffen, weil es die kommunalen Felder nun mal immer noch gibt, wenn kleine Paschas zwischen den Blocks Fußball bolzen oder Westasiaten quasiamerikanisch in den Basketballkäfigen posen, dann ist das immerhin ein Zeichen neuer Lebendigkeit. Wenn die Muslimas im aufrecht-aparten Scheherezade-Chic promenieren, hat das Ästhetik. Darüber hinaus fällt aber auf, daß weiße Kinder im Gegensatz zu Exoten kaum mehr draußen zu sehen sind und das eigene Volk nicht nur der Zahl nach marginalisiert wird, sondern zudem physisch wie ästhetisch gegen die zugezogenen Ethnien zu verlieren scheint.
Mir paßt die Platte. Praktischer Zuschnitt im Vollzug der Trivialisierung oder Demokratisierung von Bauhaus-Prinzipien. Die Wohnung ist hell, alles funktioniert, alles ist sinnig angebracht, jede Steckdose, jeder Schalter genau am richtigen Platz. Man hat schnell mal feucht durchgewischt, und die Fenster zu putzen, um den lichten Charakter der Wohnung noch zu steigern, dauert bei drei großen Glasflächen nur eine halbe Stunde. Glasfaser liegt an, Internet läuft. Die Sonne scheint morgens ins Bett, nachmittags liegt sie auf dem Balkon, also Markise auskurbeln vorm Five o’clock tea.
Mag sein, Deutschland sieht hier schon etwa so aus, wie es in zwei, drei Jahrzehnten überall aussehen wird, also eher nach Izmir oder Amman als nach dem alten Bamberg, vielleicht gar irgendwie amerikanisch, weil man sich in Amerika sowieso fragt, wer genau denn nun die Amerikaner sind. Kürzlich ging vor mir eine sehr, sehr dicke Frau mit diesen pinkfarbenen Plaste-Crocs, die Haare indifferent, Zigarette in Brand. Sie führte einen gleichfalls drehrunden Hund aus. Und sie trug eine Art Jacke, auf der hinten in roter, schleifiger Schrift stand: TRAUMSTÜCK. Gesundes Selbstbewußtsein. Braucht man hier.