Ein Bekannter von mir ist vor gut einem Jahr nach Moskau übersiedelt. Immer mal wieder schickt er begeisterte Nachrichten oder Filmchen wie diesen. Alles sieht so westlich aus … Kürzlich berichtete er, daß in den Moskauer Fußgängerzonen selbst die Bettler und Straßenmusiker ein Schild mit einem QR-Code oder einer Telefonnummer für Sofortüberweisungen vor sich stehen haben.
Mietvertrag, Bankkontoeröffnung, Krankenkasse, Wohnsitzmeldung: alles online im Handumdrehen mit derselben Karte erledigt. Er fand das ungemein praktisch. Ich lernte ihn als großen Impfgegner und Maßnahmenkritiker kennen, damals hatte er erhebliche Vorbehalte gegen Digitalisierung und “chinesische Verhältnisse”. Ist alles in Rußland anders, weil die Digitalisierung dort anderen Zielen dient?
Handelt es sich womöglich bei digitalen Technologien um ein für sich genommen neutrales Werkzeug, das sich darin als “gut” erweist, daß es gut funktioniert und nicht mißbraucht wird, wie es Aristoteles in seinem Ergon-Argument in der Nikomachischen Ethik nahegelegt hat?
Aristotels spricht vom ergon eines guten Messers, das tauglich zum chirurgischen Schnitt wie zum Mord ist. Das griechische Wort ergon bezeichnet die spezifische Funktion oder Aufgabe einer Sache, die für diese Sache essentiell ist. Daß etwas „gut“ ist, definiert sich durch die Anwendung seiner besonders guten Funktionalität.
Im Jahre 2018 hat Moskau ein Dokument ins Internet gestellt, das den Plan, bis 2030 zur smart city zu werden, in allen Details vorstellt. Man bezieht sich explizit auf die Entwicklungsziele der Generalversammlung, die die UNO 2015 formuliert hat.
Am 18. und 19. September dieses Jahres wird die UN-Vollversammlung erneut zusammentreten, um die “Agenda 2030” endgültig in Stein zu meißeln. Rußland ist Teil davon.
Als “Futurologen”, die “globale Trends” scheinbar objektiv festgestellt bzw. selbst normativ vorgegeben haben, werden in dem russischen Dokument ausschließlich angloamerikanische Vertreter und die global players, für die sie arbeiten, zitiert, namentlich Ray Kurzweil (Google), David Coplin (Microsoft), Nicola Millard (British Telecom), Brian David Johnson (Intel) usw.
Die 17 “Nachhaltigkeitsziele” der UN, die in einem regenbogenfarbenen Kreis so manches Revers westlicher Politiker als Anstecknadel schmücken, werden auch in der russischen Variante abgedeckt.
Doch schaut man genauer hin, sind es beileibe nicht dieselben Begriffe. Die westlichen 17 heißen: no poverty, zero hunger, good health and wellbeing, quality education, gender equality, clean water, clean energy, economic and industrial growth, reduced inequalities, sustainable cities, responsible consumption, climate action, life below water, life on land, peace, partnerships for the goals.
Die russischen 17 heißen auf Englisch: public transport, IT, tourism, finances, manufacturing, retail, innovations, security, ecology, open government, government activities, healthcare, education, social services, culture, urban planning, infrastructure.
Diese klingen so neutral, als wären es nicht dieselben Ziele. Die Optik, die Zahl und die Bezugs-Agenda sind aber gleich.
Schauen wir uns mal eines näher an: “safety and ecology” ist der problematischste Bereich, wenn man als westlicher Systemkritiker im Kopf hat, daß in diesem Bereich digitale Kontrolle und Klima-Maßnahmen implementiert werden sollen.
Moskau verlautbart folgendes dazu:
Owing to state-of-the-art technologies, by 2030 Moscow will become a smart city offering a comfortable – environment-friendly and safe –life environment. To this end, the environmental monitoring system, firefighting system, and law-enforcement and security systems are to be upgraded. This modernization will use advanced digital technologies for monitoring, supervising, informing, and decision making based on the AI-analysis of the city’s Big data.
(Auf dem neuesten Stand der Technologie soll Moskau 2030 eine smart city werden, die ein bequemes, umweltfreundliches und sicheres Lebensumfeld bietet. Zu diesem Zweck sollen die Umweltüberwachungssysteme, das Feueralarmsystem, Strafverfolgungs- und Sicherheitssystem verbessert werden. Diese Modernisierung soll hochentwickelte digitale Technologien nutzen für Monitoring, Überwachung, Information und Entscheidungsfindung. Dies soll auf KI-Analysen der Daten beruhen, die Big Data in der Stadt erhebt.)
Interessant ist, daß die globalistischen Triggerwörter, mit denen die UN-Ziele gespickt sind (climate, gender, equality usw.) in der russischen Version gemieden werden. Einzig “sustainable” und “smart” kommen vor, während “green” generell in Anführungsstrichen steht, z.B. in “green” architecture. Von Umweltfreundlichkeit ist die Rede (environmental-friendly), nicht von Klimaschutz. Ist Rußland klug genug, unter derselben Agendaoberfläche eigene Inhalte voranzubringen?
Ein weiteres Triggerwort, nämlich “public-private partnership”, womit die Verwischung zwischen demokratischen bzw. staatlichen Institutionen einerseits, und privaten Unternehmen, NGOs, Stiftungen und insbesondere Banken andererseits gemeint ist, spielt allerdings sehr wohl eine Rolle. Ab hier wird es ungemütlicher.
Womöglich grenzt sich Rußland auf der Ebene der Ideologie politisch vom westlichen Liberalismus, von der typischen Klima‑, Gender- und One-Health-Propaganda ab, folgt aber auf der Ebene der Ökonomie und Technologie derselben Agenda?
Ein russischer Kritiker teilte vor kurzem seine Erfahrung mit der Sber-Bank in Moskau auf Telegram. Auf Deutsch übersetzt:
Die Sberbank-App sendete fast eine Stunde lang irgendwo im Hintergrund Daten über meinen Standort. Alles natürlich nur zu dem Zweck, die Qualität der Dienstleistung zu verbessern.
Was ist das ergon der heftig ausgreifenden russischen Digitalisierung? Es ist ja immerhin denkbar, daß auch solche Mittel wie Big Data, KI, Digitalisierung der Arbeitswelt und modernste Technologien in Bildung, Gesundheit, Verwaltung und Planung tatsächlich dazu verwendet werden, die Industrialisierung (man kontrastiere dies mit der De-Industrialisierung Deutschlands) und Modernisierung voranzutreiben, die Stadtverwaltung, Universitäten und Schulen, Feuerwehr, Krankenhäuser und die Städteplanung effizienter und aus der Sicht der Bewohner besser zu gestalten – letztlich könnte die Digitalisierung nichts anderes als ein besonders taugliches Werkzeug in einer neuen Planwirtschaft sein.
Diese Denkmöglichkeit ist einer gewissen Grundsympathie für Rußland geschuldet. Für den Westen haben kritische Geister wie ich bereits innerlich alle Schotten dichtgemacht und lesen die humanistisch klingenden Globalisierungspläne von UNO, WHO, WEF et. al. als eminente Bedrohung statt als Verheißung und glauben ihnen kein Wort.
Antipathie und Sympathie verhindern objektive Erkenntnis. Doch können sowohl Verdacht als auch Hoffnung den ersten Schritt im Erkenntnisprozeß motivieren. Dabei darf man es aber im weiteren Verlauf des Prozesses nicht bewenden lassen, sondern man muß unablässig skeptisch bleiben auch gegenüber dem, worauf man hoffen möchte.
Rußland ist und bleibt Mitglied der Vereinten Nationen. Die BRICS+ sind wahrlich nicht desinteressiert am Internationalen Währungsfonds und an der Weltbank. Möglicherweise sind und bleiben sie auch in den Händen derselben Interessengruppen. Man streiche hier die wildesten Spekulationen über die geheimen Verantwortlichen und die rückwirkende, scheinbar lückenlos passende Deutung eines längst geplanten Rockefeller-Szenarios – übrig bleibt historisches Material, das Rußland und China nicht als “Systemalternative” ausweist.
In diesem Lichte erscheinen die aktuell propagierte Befreiung Afrikas vom Neokolonialismus, die Befreiung der Welt vom Dollarsystem, die Befreiung Europas durch ein “Jalta 2.0” oder einen neuen “Wiener Kongreß” unter russischer Führung als nicht allzu verheißungsvoll. Die Vorstellung, die “Neue Weltordnung” wäre bloß ein westliches Unterfangen, muß meines Erachtens um die Vorstellung einer “NWO Ost” erweitert werden.
Mit dieser Vorstellung im Kopf müssen dann die offen daliegenden Pläne wie derjenige, Moskau zur smart city zu machen, genau studiert werden: Worin unterscheiden sie sich von den westlichen? Was ist auch im Osten politische Rhetorik, nur unter Verwendung anderer Schlagwörter und mit einer anderen Schlagseite? Welche übergeordneten Verstrickungen gibt es insbesondere im ökonomischen Sektor? Da ich mich damit am wenigsten auskenne, übergebe ich die Aufgabe, hier weiterzuforschen, an die wirtschaftskundigeren Leser.
Laurenz
@CS ... kontaktieren Sie Thomas Röper (Anti-Spiegel), der in der schöneren Metropole St. Petersburg lebt. Das wird Ihnen eher gelingen als uns Lesern. Röper ist stark verbandelt mit der NuoViso-Redaktion. Mit Ihm ist die Debatte vielleicht leichter aufzumachen. Unterschiedliche Rechtssysteme implementieren unterschiedliche Technisierung. In Rußland kommt man als Autofahrer im Falle eines Unfalls vor Gericht nicht ohne Bildbeweis aus. D.h. jeder Autofahrer hat eine Kamera im Auto, bei uns quasi verboten. Das drückt sich u.a. in den vielen We-love-Russia-Videos aus. https://youtu.be/OJVKwcm6FXY oder https://youtu.be/hVbQ4k1Pepw Außerdem leben noch schätzungsweise 20% der Russen ohne Wasser-Toiletten-Spülung. Der Krieg in der Ukraine ist längst digitalisiert. Alle Einheiten haben Soldaten, die am Laptop sitzen, die Ukrainer Starlink, die Russen nutzen eigene Satelliten-Systeme. Digitalisierung in Skandinavien bedeutet digitalisierte Kranken-Berichte in Krankenhäusern, was die Bearbeitungszeit massiv verkürzt, während bei uns noch Papier gewälzt wird.