Gieschewald und Nickischschacht

von Eva Rex -- PDF der Druckfassung aus Sezession 114/ Juni 2023

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Gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts dräng­ten in ganz Euro­pa immer mehr Men­schen in die ent­ste­hen­den Industriemetropolen.

Arbei­ter­fa­mi­li­en leb­ten unter unwür­di­gen Lebens­be­din­gun­gen in viel zu klei­nen Woh­nun­gen, deren Mie­ten in kur­zer Zeit dras­tisch anstie­gen, was zu sozia­len Pro­ble­men führ­te und einen huma­ni­tä­ren Not­stand her­vor­rief. Arbeit­ge­ber, die ein Inter­es­se dar­an hat­ten, die Arbeits­kraft ihrer Beschäf­tig­ten zu erhal­ten, muß­ten sich etwas ein­fal­len lassen.

Um die Not der Arbei­ter abzu­mil­dern, ent­wi­ckel­te der Bri­te Ebe­ne­zer Howard im Jahr 1898 das Kon­zept der Gar­ten­stadt: Es soll­ten begrün­te Sied­lun­gen auf dem Lan­de ent­ste­hen, die die Vor­zü­ge der Groß­stadt (kur­ze Wege zur Arbeit, Kul­tur- und Bil­dungs­ein­rich­tun­gen) mit denen des Lan­des (fri­sche Luft, freie Natur und Selbst­ver­sor­gung) ver­ein­ten. Sei­ne Blü­te­zeit erleb­te das Modell der Gar­ten­stadt in den ers­ten zwei Jahr­zehn­ten des 20. Jahr­hun­derts zur Zeit der ­Lebens­re­form­be­we­gung. Es war eine Ant­wort auf die sozia­len Ver­wer­fun­gen, die die zuneh­men­de Indus­tria­li­sie­rung mit sich brachte.

In Deutsch­land fand das Kon­zept gleich­falls vie­le Nach­ah­mer, wobei die Sied­lung Hel­ler­au bei Dres­den als Vor­zei­ge­mo­dell galt. Im preu­ßi­schen Ober­schle­si­en waren es alte Adels­ge­schlech­ter wie Schaff­gotsch, Hen­ckel von Don­ners­marck, Tie­le-Winck­ler und Bal­lestrem, die als ambi­tio­nier­te Indus­tri­el­le nicht nur den Aus­bau der Schwer­indus­trie (Koh­le­ab­bau und Eisen­ver­hüt­tung) vor­an­trie­ben, son­dern dar­über hin­aus als sozia­le Wohl­tä­ter in Erschei­nung tra­ten: Die her­vor­ra­gen­de Leis­tung ihrer gemein­nüt­zi­gen Tätig­keit war der Bau von soge­nann­ten fami­lo­ki (Fami­li­en­häu­sern für Arbei­ter) in zusam­men­hän­gen­den Wohn­an­la­gen, deren Vor­zug dar­in bestand, daß die­se über Strom, Abwas­ser­lei­tun­gen und eine funk­tio­nie­ren­de Infra­struk­tur verfügten.

In unmit­tel­ba­rer Nähe ent­stan­den Läden, Schu­len, sani­tä­re Ein­rich­tun­gen, Kran­ken­häu­ser und Biblio­the­ken. Die ade­li­gen Bau­her­ren stif­te­ten eben­so Casi­nos, Thea­ter­sä­le, Turn­hal­len, Schwimm­bä­der, Alters­hei­me sowie zahl­rei­che katho­li­sche und evan­ge­li­sche Kirchen.

Im gesam­ten öst­li­chen Indus­trie­ge­biet waren rund 200 sol­cher »Patro­nats­sied­lun­gen« zu ver­zeich­nen, aber nur eine ein­zi­ge, die dem eng­li­schen Vor­bild einer Gar­ten­stadt ent­sprach: Gie­sche­wald im äußers­ten Ober­schle­si­en, im »Drei-Kai­ser-Eck«, dort, wo Ruß­land, Öster­reich-Ungarn und Deutsch­land anein­an­der­grenz­ten, in der Nähe der jun­gen Stadt Kat­to­witz, die inner­halb weni­ger Jah­re enorm anwach­sen sollte.

Die Geschich­te der Arbei­ter­ko­lo­nie Gie­sche­wald und ihres kur­ze Zeit spä­ter errich­te­ten Gegen­stücks Nickisch­schacht ist unter vie­len Gesichts­punk­ten bemer­kens­wert. Es ist die ein­zig­ar­ti­ge und dabei für schle­si­sche Ort­schaf­ten doch so typi­sche Geschich­te eines Grenz­ge­biets, in dem sich ganz eigen­tüm­li­che Nationalitäts‑, Gesell­schafts- und ­Glau­bens­tra­di­tio­nen ver­misch­ten. Jahr­hun­der­te­lang war Ober­schle­si­en poli­ti­sche Ver­hand­lungs­mas­se ver­schie­de­ner Groß­mäch­te und stand unter wech­seln­den Ein­flüs­sen. Bis heu­te bil­det die Ambi­va­lenz der Schle­si­er hin­sicht­lich ihrer pol­ni­schen oder deut­schen Zuge­hö­rig­keit ein gesell­schaft­li­ches Pro­blem und ist Gegen­stand nicht enden wol­len­der Diskussionen.

Doch ganz von vorn: Im Jahr 1904 begann der Berg­bau­kon­zern ­Georg von Giesche’s Erben, der eben­falls auf ein schle­si­sches Adels­ge­schlecht zurück­ging, sein Impe­ri­um zu erwei­tern. Für die Eröff­nung neu­er Schäch­te des Berg­werks »Gie­sche« – eines der größ­ten in der Regi­on – benö­tig­te man erheb­lich mehr Arbei­ter. Die­se konn­ten nur ange­lockt wer­den, wenn man ihnen ein Dach über dem Kopf in der Nähe des Arbeits­or­tes versprach.

Auch dem Gene­ral­di­rek­tor des Gie­sche-Kon­zerns, Anton Uthe­mann, lag die sozia­le Fra­ge am Her­zen. 1905 lud er die jun­gen Archi­tek­ten Georg und Emil Zill­mann aus Ber­lin-Char­lot­ten­burg zu sich ein und beauf­trag­te sie, eine »Gar­ten­stadt« zu kon­zi­pie­ren, wie sie gera­de in Mode war. Die zu bau­en­den Häu­ser soll­ten sich an alten schle­si­schen Bau­ern­ka­ten ori­en­tie­ren, um den Arbei­tern, die zumeist aus länd­li­chen Gebie­ten stamm­ten, das Gefühl von »Hei­mat« zu ver­mit­teln. Die Cou­sins Zill­mann mach­ten sich umge­hend ans Werk und lie­ßen inner­halb von zwei Jah­ren 300 soli­de Dop­pel­häu­ser für 600 Fami­li­en entstehen.

Damit das dörf­li­che Ensem­ble nicht ein­tö­nig wirk­te, ent­war­fen sie 40 Vari­an­ten eines sol­chen Hau­ses mit jeweils unter­schied­li­chen Dach­for­men und Fas­sa­den. Jede Dop­pel­haus­hälf­te besaß eine Die­le, eine Küche, ein oder zwei Zim­mer und war zwi­schen 52 und 71 Qua­drat­me­ter groß. Dazu gehör­ten ein Dach­bo­den, ein Kel­ler, ein Brun­nen, ein Abtritt, der regel­mä­ßig geleert wur­de, ein klei­ner Stall und ein beträcht­li­cher Gar­ten für den Anbau von Gemü­se, Obst und Blu­men. Kar­tof­feln und Koh­le beka­men die Bewoh­ner vom Berg­werk gelie­fert. Jedes Haus hat­te elek­tri­schen Strom. Da es eine sich selbst ver­sor­gen­de Sied­lung wer­den soll­te, wur­den außer­dem Häu­ser für Ver­wal­tungs­be­am­te, Leh­rer und den Arzt gebaut. Eine Ober­förs­te­rei und eine Gärt­ne­rei mit Baum­schu­le kamen hin­zu, auch eine präch­ti­ge Vil­la für den Gene­ral­di­rek­tor des Giesche-Konzerns.

Die Gestal­tung der öffent­li­chen Anla­gen wur­de minu­ti­ös durch­ge­plant, nichts soll­te dem Zufall über­las­sen ­wer­den. Eine der wich­tigs­ten Gemein­schafts­ein­rich­tun­gen war der ­pie­kar­ni­ok, das Back­haus, mit dem jede Stra­ße bestückt war und in dem die Fami­li­en nach Abspra­che mit ­ihren Nach­barn Brot und Kuchen backen konn­ten. Da die ­Arbei­ter­häu­ser kei­ne eige­nen Wasch­kü­chen hat­ten, wur­de ein gro­ßes Wasch‑, Tro­cken- und Man­gel­ge­bäu­de mit elek­tri­schen Sie­de­kes­seln eröffnet.

Ins Zen­trum der Bebau­ung wur­de ein rie­si­ges Gast­haus gesetzt, mit Bogen­gän­gen und Gale­rien, das meh­re­re Schank­stu­ben, ein Restau­rant, einen Thea­ter­saal mit Büh­ne sowie Gäs­te­zim­mer beher­berg­te. Die moder­nen Lam­pen dar­in wur­den von den Zill­manns selbst ent­wor­fen. Die Schu­le, die aus drei gro­ßen Gebäu­den bestand, wur­de in einem üppig blü­hen­den Gar­ten ange­sie­delt. Es wur­den Kauf­lä­den mit moder­nen Kühl­vor­rich­tun­gen in einer städ­tisch anmu­ten­den Laden­zeile zur Ver­fü­gung gestellt, dane­ben Ver­wal­tungs­ge­bäu­de sowie Schlaf­häu­ser für Fremd­ar­bei­ter. Es gab eine Post und Tele­fo­ne in den öffent­li­chen Gebäu­den. Nicht zu ver­ges­sen das Gefäng­nis mit drei Zellen.

Die Sied­lung Gie­sche­wald war, wie der Name schon sagt, von Wald umge­ben. Man hat­te vie­le alte Bäu­me ste­hen­las­sen. Mit der Zeit soll­te die gan­ze Wohn­an­la­ge zu einem Frei­zeit­park wer­den, der den Men­schen gesun­de Erho­lung ver­sprach. Die Errich­tung der Kolo­nie rief viel Ver- und Bewun­de­rung her­vor. So etwas hat­te man noch nie gese­hen, jeden­falls in Ober­schle­si­en nicht: ein »Frei­licht­mu­se­ums­dorf für Indus­trie­ar­bei­ter« (Mał­gorza­ta Szejnert).

Wäh­rend jeder­mann hier­her­schau­te und regio­na­le wie über­re­gio­na­le Zei­tun­gen dar­über berich­te­ten, wuchs ganz in der Nähe das Geschwis­ter­kind von Gie­sche­wald her­an: Nickisch­schacht, eben­falls ent­wor­fen von den Cou­sins Zill­mann. Doch wäh­rend Gie­sche­wald ein ­Arbei­ter­dorf war, wur­de Nickisch­schacht von Anfang an als klei­ne Stadt kon­zi­piert. Auch die­se Sied­lung war – und ist – abso­lut ein­zig­ar­tig: Sie besteht aus drei­ge­schos­si­gen Wohn­blö­cken aus rotem Back­stein, die in Vier­ecken oder Tra­pe­zen rie­si­ge Innen­hö­fe begrenzen.

Jede Häu­ser­zei­le unter­schei­det sich auf­grund ihrer deko­ra­ti­ven Ele­men­te von den ande­ren. Die Fens­ter­ein­fas­sun­gen sind in cha­rak­te­ris­ti­schem Rot gestri­chen. Aus den Höfen hin­aus füh­ren Tore, die bis heu­te Ajnf­art genannt wer­den. Die gesam­te Anla­ge umfaß­te 1207 geräu­mi­ge Woh­nun­gen für Fami­li­en, mit Was­ser­an­schluß und Toi­let­te auf ­hal­ber Trep­pe. Auf den Höfen stan­den wie in Gie­sche­wald Back­häu­ser und Schwei­ne­stäl­le. Es gab Platz für Bee­te. Außer­halb wur­de eine bio­lo­gi­sche Klär­an­la­ge eingerichtet.

Eben­so wie in Gie­sche­wald wur­de alles genau­es­tens geplant und nach ästhe­ti­schen Gesichts­punk­ten gestal­tet: Es ent­stan­den eine Schu­le, eine Wasch- und Man­gel­an­stalt, eine Kran­ken­sta­ti­on. Der zen­tra­le Platz mit sei­nem an süd­li­che Städ­te erin­nern­den Arka­den­gang war­te­te mit Post, Lebens­mit­tel­ge­schäf­ten, einer Bäcke­rei und einer Apo­the­ke auf. Spä­ter wur­de ein Foto­ge­schäft eröff­net. Anbin­dung an Gie­sche­wald erfuhr Nickisch­schacht durch den soge­nann­ten Bal­kan-Express, einer Schmal­spur­bahn, die vor allem die Arbei­ter zur Schicht trans­por­tie­ren soll­te. Doch sie wur­de auch für gesel­li­ge Zwe­cke genutzt.

Die Bahn­stre­cke war 3,5 Kilo­me­ter lang, die Fahrt­zeit betrug 18 Minu­ten. Täg­lich beför­der­te der Bal­kan-Express ­kos­ten­los ca. 8000 Per­so­nen und wur­de als Luxus emp­fun­den. Die Bau­ar­bei­ten in Nickisch­schacht schrit­ten rasch vor­an, und bald begann man mit einem noch gewal­ti­ge­ren Bau­vor­ha­ben, das in dem roten Städt­chen sei­nen Stand­ort haben soll­te: ein Got­tes­haus mit Platz für 6000 Gläu­bi­ge. Auch die­ser Ent­wurf, im Stil des »pol­ni­schen Jesui­ten­ba­rock«, stamm­te von den bei­den Zill­manns, die sogar den impo­san­ten Kron­leuch­ter kreierten.

Doch durch den Ers­ten Welt­krieg kamen die Bau­ar­bei­ten ins Sto­cken. Die Kir­che wur­de erst im Jahr 1927 ein­ge­weiht. Durch den Krieg kam auch alles ande­re ins Wan­ken: Der Mikro­kos­mos der Mus­ter­sied­lun­gen zer­brach. Die Berg­leu­te der Gie­sche­gru­be, egal ob Polen oder Deut­sche, zogen in den Krieg für »König und Vater­land« und fie­len an ver­schie­de­nen Fron­ten. Die Über­le­ben­den wur­den mit dem Eiser­nen Kreuz aus­ge­zeich­net. Das Berg­werk beschäf­tig­te nun Kriegs­ge­fan­ge­ne. Anstel­le ihrer Män­ner gin­gen die Frau­en in die Gru­be. Das Land hun­ger­te und fror. Doch den Bewoh­nern von Gie­sche­wald und Nickisch­schacht ging es mit ihren Klein­gär­ten und Back­häu­sern ver­gleichs­wei­se gut.

Die revo­lu­tio­nä­ren Vor­gän­ge in Ruß­land lie­ßen als­bald auch in Ober­schle­si­en unter den Arbei­tern eine revo­lu­tio­nä­re Stim­mung auf­kom­men, die sich in Streiks ent­lud. Sozia­lis­ti­sche For­de­run­gen wur­den laut, aber auch For­de­run­gen nach natio­na­ler Unab­hän­gig­keit. Die­se For­de­run­gen wur­den von den alli­ier­ten Sie­ger­mäch­ten erfüllt: Nach dem Krieg kam es zu einer Neu­ord­nung Euro­pas. Durch­ge­setzt wur­de die Errich­tung der Repu­blik Polen, die seit Ende des 18. Jahr­hun­derts von der Land­kar­te ver­schwun­den war.

Durch die Neu­zie­hung der Ost­gren­ze Deutsch­lands ergab sich indes die Fra­ge, was mit Ober­schle­si­en gesche­hen soll­te. So kam es 1921 laut Ver­sailler Ver­trag zu einer Volks­ab­stim­mung in den ehe­mals deut­schen Gebie­ten. Eine hef­ti­ge Pro­pa­gan­da­schlacht tob­te auf bei­den Sei­ten. Die Zeit vor und nach dem Ple­bis­zit wur­de von drei Auf­stän­den beglei­tet, die das Ziel hat­ten, die wirt­schaft­lich ertrag­rei­che Regi­on auf die Sei­te Polens zu zie­hen. Ter­ror und Gegen­ter­ror kos­te­ten Tau­sen­den von Men­schen das Leben.

In Nickisch­schacht und Gie­sche­wald fan­den sich begeis­ter­te Anhän­ger für die »pol­ni­sche Sache«, doch nicht alle Pol­nisch­stäm­mi­gen zogen an einem Strang. Im Ergeb­nis stimm­te die Bevöl­ke­rung der Gie­sche-Sied­lun­gen mit über 70 Pro­zent für die Anglie­de­rung an Polen, einen Staat, der neu und unbe­kannt war – anders als der Rest des Abstim­mungs­ge­bie­tes, der mehr­heit­lich für Deutsch­land votier­te. Im Juni 1922 wur­de Ost­ober­schle­si­en von der pol­ni­schen Armee über­nom­men, eine plan­mä­ßi­ge Ent­deut­schung und eine Polo­ni­sie­rung waren die Fol­ge. Als Zuge­ständ­nis an die deut­sche Bevöl­ke­rung soll­ten Min­der­hei­ten­rech­te garan­tiert und deut­sche Min­der­hei­ten­schu­len gegrün­det wer­den. Gie­sche­wald hieß von da an ­Gis­zowiec und Nickisch­schacht Nikiszowiec.

Die fol­gen­den Jah­re ver­lie­fen eini­ger­ma­ßen fried­lich, doch die rela­ti­ve Ruhe hielt nicht lan­ge an. Als 1939 der Zwei­te Welt­krieg aus­brach, besetz­ten deut­sche Trup­pen die bei­den Sied­lun­gen, Ost­ober­schle­si­en wur­de wie­der ins Deut­sche Reich ein­ge­glie­dert. Vie­les, was an die pol­ni­sche Zwi­schen­kriegs­zeit erin­ner­te, ver­such­te man zu ver­nich­ten. Gis­zowiec und ­Nikis­zowiec beka­men ihre deut­schen Namen zurück. Eine plan­mä­ßi­ge Ein­deut­schung und eine Ent­po­lo­ni­sie­rung setz­ten ein. Patrio­tisch ein­ge­stell­te Polen und Teil­neh­mer an den schle­si­schen Auf­stän­den hat­ten Repres­sio­nen zu erdul­den. In den Aktio­nen »Fin­ger­ab­druck« und Ein­tra­gung in die »Deut­sche Volks­lis­te« schließ­lich soll­ten die Ober­schle­si­er ihre Volks­zu­ge­hö­rig­keit erklären.

Man konn­te im Grun­de selbst ent­schei­den, wer man sein woll­te – Pole oder Deut­scher. Anders als noch 1921 gab sich die über­wie­gen­de Mehr­zahl der Bewoh­ner von Gie­sche­wald und Nickisch­schacht als Deut­sche aus, ver­schwin­dend weni­ge bekann­ten sich zu Polen. Von der dazwi­schen­lie­gen­den Mög­lich­keit, die ober­schle­si­sche Volks­zu­ge­hö­rig­keit zu wäh­len, wur­de kein Gebrauch gemacht. Die Ein­tra­gung ehe­mals pol­ni­scher Staats­bür­ger in die deut­sche Volks­lis­te ermög­lich­te es den deut­schen Behör­den, die Wehr­machts­trup­pen mit neu­en Kräf­ten zu ergänzen.

Zahl­rei­che Bewoh­ner von Gie­sche­wald und Nickisch­schacht wur­den, unab­hän­gig von ihren Gesin­nun­gen und Sym­pa­thien, zur deut­schen Armee ein­be­ru­fen und leis­te­ten dort ihren Dienst ab. Das Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges brach­te wie­der gro­ße Ver­än­de­run­gen und Umbrü­che mit sich. Aber­mals kam es zu Umbe­nen­nun­gen. Ort­schaf­ten, Stra­ßen und Betrie­be erhiel­ten pol­ni­sche Namen, das Schul­we­sen wur­de auf pol­ni­sche Bedürf­nis­se umgestellt.

Dar­über hin­aus begann man damit, kom­mu­nis­tisch aus­ge­rich­te­te Macht­or­ga­ne auf kom­mu­na­ler Ebe­ne zu instal­lie­ren. Das end­gül­ti­ge Aus für die tra­di­tio­nell gewach­se­nen Struk­tu­ren von Gie­sche­wald erfolg­te Ende der 1960er Jah­re, als man wei­te­re Stein­koh­le­fun­de ent­deck­te und ein neu­es, noch grö­ße­res Berg­werk aus dem Boden gestampft wur­de. Nach und nach erhiel­ten die Bewoh­ner der Gar­ten­stadt einen amt­li­chen Bescheid mit der Auf­for­de­rung, ihr Häus­chen zu ver­las­sen, weil es abge­ris­sen wer­den soll­te. Sie sie­del­ten in die elf­stö­cki­gen Plat­ten­bau­ten um, die bereits in ihr Revier vor­dran­gen. »Die Ent­schei­dung war auch ideo­lo­gisch begrün­det. Urei­gent­lich ging es dar­um, ein der­art schö­nes Zeug­nis nicht nur deut­scher, son­dern auch kapi­ta­lis­ti­scher All­tags­kul­tur aus der Welt zu schaf­fen.« (1)

Erst in den 1990er Jah­ren, also nach Zusam­men­bruch des sozia­lis­ti­schen Sys­tems, wur­de damit begon­nen, die his­to­ri­schen Bau­ten zu ­pfle­gen und wie­der­her­zu­stel­len – fast zu spät. Denn infol­ge der bis Anfang der 1980er Jah­re durch­ge­führ­ten Abbrü­che ver­lor Gis­zowiec sei­nen ein­zig­ar­ti­gen archi­tek­to­ni­schen Cha­rak­ter einer Gar­ten­sied­lung. Bis heu­te ist nur etwa ein Drit­tel der ursprüng­li­chen – inzwi­schen in die Denk­mal­lis­te ein­ge­tra­ge­nen – Bebau­ung erhal­ten geblie­ben. Die nach ihrer Grün­dung ca. 5000 Köp­fe zäh­len­de Gemein­de Gie­sche­wald / Gis­zowiec umfaßt der­zeit etwa 17 000 Men­schen. Das Gie­sche-Berg­werk wur­de still­ge­legt wie die meis­ten ande­ren Gru­ben in der Region.

Die Mehr­heit der Bewoh­ner, die aus unter­schied­li­chen Gegen­den ­Polens stam­men, wohnt in den Plat­ten­bau­ten aus sozia­lis­ti­scher Zeit. Die Ver­gan­gen­heit der his­to­ri­schen Wohn­sied­lung ist jedoch für die heu­ti­gen Bür­ger von Gis­zowiec ein Signum der Iden­ti­fi­ka­ti­on und loka­len Ver­bun­den­heit. Die pol­ni­sche Jour­na­lis­tin Mał­gorza­ta Sze­j­nert hat ein erstaun­li­ches Buch über Gis­zowiec und Nikis­zowiec geschrie­ben, das recht­zei­tig zum hun­derts­ten Jubi­lä­um der Gie­sche-Kolo­nie im Jahr 2007 erschien: Czar­ny ogródDer schwar­ze Gar­ten. (2) Am Bei­spiel aus­ge­wähl­ter Fami­li­en zeich­net sie das beweg­te Auf und Ab der Regio­nal­ge­schich­te nach, in nüch­ter­ner Spra­che und den­noch warm­her­zig und poe­tisch, nie­mals in Res­sen­ti­ments – von wel­cher Sei­te auch immer – ver­fal­lend. Die­ser preis­ge­krön­ten Ver­öf­fent­li­chung ist es zu ver­dan­ken, daß die bei­den his­to­ri­schen Sied­lun­gen und die mit ihnen ver­bun­de­nen Men­schen mit einem Platz in der Lite­ra­tur geehrt werden.

Das Buch wirft eben­falls ein Licht auf einen Land­strich, in dem ­Eth­ni­en unter­schied­li­cher Prä­gung – Polen, Deut­sche und ein Volks­stamm, der sich Śląza­cy nennt – auf engem Raum zusam­men­leb­ten. Die Ober­schle­si­er erfuh­ren in nur weni­gen Jahr­hun­der­ten so vie­le poli­ti­sche, natio­nal­staat­li­che und gesell­schaft­li­che Umbrü­che, daß es für sie unmög­lich wur­de, eine dau­er­haf­te Loya­li­tät zu einem bestimm­ten Staat, zu einer bestimm­ten Natio­na­li­tät auszubilden.

Sie blie­ben bieg­sam und anpas­sungs­fä­hig, denn nur dadurch war ihr Über­le­ben gesi­chert. Sie zogen sich zurück in die Iden­ti­tät des Eige­nen, des spe­zi­fisch Ober­schle­si­schen. Geschlif­fen von den Stür­men der Geschich­te, form­te sich ein eigen­sin­ni­ger Men­schen­schlag: Sie begehr­ten nicht gegen die Herr­schen­den auf, aber heim­lich mach­ten sie, was sie woll­ten. Sie, die Śląza­cy, die im höchs­ten Maße tra­di­ti­ons­ver­bun­den waren, leb­ten in einer Zeit des bestän­di­gen »Wan­dels«.

Die »Spal­tung der Gesell­schaft«, wie wir sie heu­te in Deutsch­land bekla­gen, war für Ober­schle­si­er seit jeher ein gott­ge­ge­be­ner Dau­er­zu­stand. Zahl­rei­che »Ris­se«, her­vor­ge­ru­fen durch poli­ti­sche oder natio­na­le Par­tei­nah­me, gin­gen immer auch durch die Fami­li­en hin­durch. Im Zeit­raum von hun­dert Jah­ren wech­sel­te in Ost­ober­schle­si­en drei­mal die Staats­zu­ge­hö­rig­keit (bis 1922 deutsch, 1922 bis 1939 pol­nisch, 1939 bis 1945 deutsch, 1945 bis heu­te pol­nisch), fünf­mal das poli­tisch-wirt­schaft­lich Sys­tem (bis 1922 Deut­sches Kai­ser­reich und Kapi­ta­lis­mus, 1922 bis 1926 par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie, 1926 bis 1939 auto­ri­tä­re Herr­schaft unter Pił­sud­ski, 1939 bis 1945 NS-Dik­ta­tur, 1945 bis 1989 kom­mu­nis­ti­sche Dik­ta­tur der Volks­re­pu­blik Polen, 1989 bis in die Gegen­wart markt­wirt­schaft­li­ches ­Polen). Zwei Welt­krie­ge und bür­ger­kriegs­ähn­li­che Unru­hen wäh­rend der Auf­stän­de walz­ten über die Men­schen hinweg.

Was stets erhal­ten blieb und die ver­schie­de­nen Natio­na­li­tä­ten und Men­ta­li­tä­ten zu einer Ein­heit ver­schmolz, waren Arbeit und Kir­che. Heu­te ist selbst die­ser sta­bi­li­sie­rend und inte­grie­rend wir­ken­de Fak­tor weg­ge­bro­chen: Die Kir­che besitzt längst nicht mehr den Ein­fluß, den sie ein­mal hat­te, und sei­ne Arbeit fin­det der Ober­schle­si­er nicht mehr unter Tage oder in der Eisen­hüt­te, son­dern im Dienst­leis­tungs­ge­schäft. Und doch hat sich man­ches zum Posi­ti­ven ent­wi­ckelt: Auf die deut­sche Ver­gan­gen­heit hin­zu­wei­sen ist für Nikis­zow­zer und Gis­zow­zer nicht mehr mit Scham behaftet.

Im Gegen­teil, man rühmt sich, Teil einer bedeut­sa­men archi­tek­to­ni­schen Geschich­te zu sein sowie Teil der preu­ßi­schen Indus­trie­ge­schich­te. Dem Bau­herrn Anton Uthe­mann wird in vie­ler­lei Hin­sicht gehul­digt: kei­ne Bro­schü­re oder Hin­weis­ta­fel, die sei­ne Leis­tun­gen nicht erwähnt. Der Name Zill­mann hat einen nost­al­gi­schen Glanz und ist von einer bei­na­he sakra­len Aura umge­ben. Akti­vis­ten des loka­len Dia­lekts bemü­hen sich erfolg­reich, die ślůns­ko god­ka, die in der Volks­re­pu­blik Polen nicht gespro­chen wer­den durf­te (sie galt als zu deutsch), wie­der­zu­be­le­ben. Sie über­set­zen Lite­ra­tur­klas­si­ker ins Ober­schle­si­sche, geben Wör­ter­bü­cher und die Zei­tung Slůnski Cajtůng her­aus. (3) Sie ver­ste­hen sich als Teil der ober­schle­si­schen Auto­no­mie­be­we­gung, die für ihre Rech­te kämpft. (4)

Vie­le der Akti­vis­ten sind jung, gebil­det und »links­dre­hend«. Sie set­zen ihre Hoff­nung auf die Euro­päi­sche Uni­on, die sich Min­der­hei­ten­schutz auf ihre Fah­nen geschrie­ben hat. Von der natio­nal-kon­ser­va­ti­ven pol­ni­schen Regie­rung War­schaus füh­len sie sich über­gan­gen. Das Arbei­ter­städt­chen »Nikisz« scheint so etwas wie ein Wahr­zei­chen für sie zu sein. Es hat sich, im Unter­schied zu Gie­sche­wald, voll­stän­dig erhal­ten und ist, sty­lish her­aus­ge­putzt, zu einem tou­ris­ti­schen High­light gewor­den für all jene, die vom indus­tri­el­len und kul­tu­rel­len Erbe Schle­si­ens gefes­selt sind. Und davon, wie unge­wöhn­lich und auf­re­gend frü­her das Bau­en sein konnte.

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(1) – Mał­gorza­ta Sze­j­nert: »Rei­se in den schwar­zen Gar­ten«, in: Das Blätt­chen vom 8. Juni 2008, (sie­he auch www.das-blaettchen.de).

(2) – Mał­gorza­ta Sze­j­nert: Der schwar­ze Gar­ten, aus dem Pol­ni­schen von Ben­ja­min Voel­kel, Pots­dam 2015.

(3) – Vgl. Eve­ly­ne E. Ade­nau­er: »Das ober­schle­si­sche Herz schlägt po aszy­mu«, www.kulturforum.info (Novem­ber / Dezem­ber 2021).

(4) – Vgl. Robert Sta­ros­ta, ­Lukas Moj: »Die Auto­no­mie­be­we­gung in den ­letz­ten 20 Jah­ren«, www. wachtyrz.eu (2. August 2018).

 

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