Gegen Ende des 19. Jahrhunderts drängten in ganz Europa immer mehr Menschen in die entstehenden Industriemetropolen.
Arbeiterfamilien lebten unter unwürdigen Lebensbedingungen in viel zu kleinen Wohnungen, deren Mieten in kurzer Zeit drastisch anstiegen, was zu sozialen Problemen führte und einen humanitären Notstand hervorrief. Arbeitgeber, die ein Interesse daran hatten, die Arbeitskraft ihrer Beschäftigten zu erhalten, mußten sich etwas einfallen lassen.
Um die Not der Arbeiter abzumildern, entwickelte der Brite Ebenezer Howard im Jahr 1898 das Konzept der Gartenstadt: Es sollten begrünte Siedlungen auf dem Lande entstehen, die die Vorzüge der Großstadt (kurze Wege zur Arbeit, Kultur- und Bildungseinrichtungen) mit denen des Landes (frische Luft, freie Natur und Selbstversorgung) vereinten. Seine Blütezeit erlebte das Modell der Gartenstadt in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zur Zeit der Lebensreformbewegung. Es war eine Antwort auf die sozialen Verwerfungen, die die zunehmende Industrialisierung mit sich brachte.
In Deutschland fand das Konzept gleichfalls viele Nachahmer, wobei die Siedlung Hellerau bei Dresden als Vorzeigemodell galt. Im preußischen Oberschlesien waren es alte Adelsgeschlechter wie Schaffgotsch, Henckel von Donnersmarck, Tiele-Winckler und Ballestrem, die als ambitionierte Industrielle nicht nur den Ausbau der Schwerindustrie (Kohleabbau und Eisenverhüttung) vorantrieben, sondern darüber hinaus als soziale Wohltäter in Erscheinung traten: Die hervorragende Leistung ihrer gemeinnützigen Tätigkeit war der Bau von sogenannten familoki (Familienhäusern für Arbeiter) in zusammenhängenden Wohnanlagen, deren Vorzug darin bestand, daß diese über Strom, Abwasserleitungen und eine funktionierende Infrastruktur verfügten.
In unmittelbarer Nähe entstanden Läden, Schulen, sanitäre Einrichtungen, Krankenhäuser und Bibliotheken. Die adeligen Bauherren stifteten ebenso Casinos, Theatersäle, Turnhallen, Schwimmbäder, Altersheime sowie zahlreiche katholische und evangelische Kirchen.
Im gesamten östlichen Industriegebiet waren rund 200 solcher »Patronatssiedlungen« zu verzeichnen, aber nur eine einzige, die dem englischen Vorbild einer Gartenstadt entsprach: Gieschewald im äußersten Oberschlesien, im »Drei-Kaiser-Eck«, dort, wo Rußland, Österreich-Ungarn und Deutschland aneinandergrenzten, in der Nähe der jungen Stadt Kattowitz, die innerhalb weniger Jahre enorm anwachsen sollte.
Die Geschichte der Arbeiterkolonie Gieschewald und ihres kurze Zeit später errichteten Gegenstücks Nickischschacht ist unter vielen Gesichtspunkten bemerkenswert. Es ist die einzigartige und dabei für schlesische Ortschaften doch so typische Geschichte eines Grenzgebiets, in dem sich ganz eigentümliche Nationalitäts‑, Gesellschafts- und Glaubenstraditionen vermischten. Jahrhundertelang war Oberschlesien politische Verhandlungsmasse verschiedener Großmächte und stand unter wechselnden Einflüssen. Bis heute bildet die Ambivalenz der Schlesier hinsichtlich ihrer polnischen oder deutschen Zugehörigkeit ein gesellschaftliches Problem und ist Gegenstand nicht enden wollender Diskussionen.
Doch ganz von vorn: Im Jahr 1904 begann der Bergbaukonzern Georg von Giesche’s Erben, der ebenfalls auf ein schlesisches Adelsgeschlecht zurückging, sein Imperium zu erweitern. Für die Eröffnung neuer Schächte des Bergwerks »Giesche« – eines der größten in der Region – benötigte man erheblich mehr Arbeiter. Diese konnten nur angelockt werden, wenn man ihnen ein Dach über dem Kopf in der Nähe des Arbeitsortes versprach.
Auch dem Generaldirektor des Giesche-Konzerns, Anton Uthemann, lag die soziale Frage am Herzen. 1905 lud er die jungen Architekten Georg und Emil Zillmann aus Berlin-Charlottenburg zu sich ein und beauftragte sie, eine »Gartenstadt« zu konzipieren, wie sie gerade in Mode war. Die zu bauenden Häuser sollten sich an alten schlesischen Bauernkaten orientieren, um den Arbeitern, die zumeist aus ländlichen Gebieten stammten, das Gefühl von »Heimat« zu vermitteln. Die Cousins Zillmann machten sich umgehend ans Werk und ließen innerhalb von zwei Jahren 300 solide Doppelhäuser für 600 Familien entstehen.
Damit das dörfliche Ensemble nicht eintönig wirkte, entwarfen sie 40 Varianten eines solchen Hauses mit jeweils unterschiedlichen Dachformen und Fassaden. Jede Doppelhaushälfte besaß eine Diele, eine Küche, ein oder zwei Zimmer und war zwischen 52 und 71 Quadratmeter groß. Dazu gehörten ein Dachboden, ein Keller, ein Brunnen, ein Abtritt, der regelmäßig geleert wurde, ein kleiner Stall und ein beträchtlicher Garten für den Anbau von Gemüse, Obst und Blumen. Kartoffeln und Kohle bekamen die Bewohner vom Bergwerk geliefert. Jedes Haus hatte elektrischen Strom. Da es eine sich selbst versorgende Siedlung werden sollte, wurden außerdem Häuser für Verwaltungsbeamte, Lehrer und den Arzt gebaut. Eine Oberförsterei und eine Gärtnerei mit Baumschule kamen hinzu, auch eine prächtige Villa für den Generaldirektor des Giesche-Konzerns.
Die Gestaltung der öffentlichen Anlagen wurde minutiös durchgeplant, nichts sollte dem Zufall überlassen werden. Eine der wichtigsten Gemeinschaftseinrichtungen war der piekarniok, das Backhaus, mit dem jede Straße bestückt war und in dem die Familien nach Absprache mit ihren Nachbarn Brot und Kuchen backen konnten. Da die Arbeiterhäuser keine eigenen Waschküchen hatten, wurde ein großes Wasch‑, Trocken- und Mangelgebäude mit elektrischen Siedekesseln eröffnet.
Ins Zentrum der Bebauung wurde ein riesiges Gasthaus gesetzt, mit Bogengängen und Galerien, das mehrere Schankstuben, ein Restaurant, einen Theatersaal mit Bühne sowie Gästezimmer beherbergte. Die modernen Lampen darin wurden von den Zillmanns selbst entworfen. Die Schule, die aus drei großen Gebäuden bestand, wurde in einem üppig blühenden Garten angesiedelt. Es wurden Kaufläden mit modernen Kühlvorrichtungen in einer städtisch anmutenden Ladenzeile zur Verfügung gestellt, daneben Verwaltungsgebäude sowie Schlafhäuser für Fremdarbeiter. Es gab eine Post und Telefone in den öffentlichen Gebäuden. Nicht zu vergessen das Gefängnis mit drei Zellen.
Die Siedlung Gieschewald war, wie der Name schon sagt, von Wald umgeben. Man hatte viele alte Bäume stehenlassen. Mit der Zeit sollte die ganze Wohnanlage zu einem Freizeitpark werden, der den Menschen gesunde Erholung versprach. Die Errichtung der Kolonie rief viel Ver- und Bewunderung hervor. So etwas hatte man noch nie gesehen, jedenfalls in Oberschlesien nicht: ein »Freilichtmuseumsdorf für Industriearbeiter« (Małgorzata Szejnert).
Während jedermann hierherschaute und regionale wie überregionale Zeitungen darüber berichteten, wuchs ganz in der Nähe das Geschwisterkind von Gieschewald heran: Nickischschacht, ebenfalls entworfen von den Cousins Zillmann. Doch während Gieschewald ein Arbeiterdorf war, wurde Nickischschacht von Anfang an als kleine Stadt konzipiert. Auch diese Siedlung war – und ist – absolut einzigartig: Sie besteht aus dreigeschossigen Wohnblöcken aus rotem Backstein, die in Vierecken oder Trapezen riesige Innenhöfe begrenzen.
Jede Häuserzeile unterscheidet sich aufgrund ihrer dekorativen Elemente von den anderen. Die Fenstereinfassungen sind in charakteristischem Rot gestrichen. Aus den Höfen hinaus führen Tore, die bis heute Ajnfart genannt werden. Die gesamte Anlage umfaßte 1207 geräumige Wohnungen für Familien, mit Wasseranschluß und Toilette auf halber Treppe. Auf den Höfen standen wie in Gieschewald Backhäuser und Schweineställe. Es gab Platz für Beete. Außerhalb wurde eine biologische Kläranlage eingerichtet.
Ebenso wie in Gieschewald wurde alles genauestens geplant und nach ästhetischen Gesichtspunkten gestaltet: Es entstanden eine Schule, eine Wasch- und Mangelanstalt, eine Krankenstation. Der zentrale Platz mit seinem an südliche Städte erinnernden Arkadengang wartete mit Post, Lebensmittelgeschäften, einer Bäckerei und einer Apotheke auf. Später wurde ein Fotogeschäft eröffnet. Anbindung an Gieschewald erfuhr Nickischschacht durch den sogenannten Balkan-Express, einer Schmalspurbahn, die vor allem die Arbeiter zur Schicht transportieren sollte. Doch sie wurde auch für gesellige Zwecke genutzt.
Die Bahnstrecke war 3,5 Kilometer lang, die Fahrtzeit betrug 18 Minuten. Täglich beförderte der Balkan-Express kostenlos ca. 8000 Personen und wurde als Luxus empfunden. Die Bauarbeiten in Nickischschacht schritten rasch voran, und bald begann man mit einem noch gewaltigeren Bauvorhaben, das in dem roten Städtchen seinen Standort haben sollte: ein Gotteshaus mit Platz für 6000 Gläubige. Auch dieser Entwurf, im Stil des »polnischen Jesuitenbarock«, stammte von den beiden Zillmanns, die sogar den imposanten Kronleuchter kreierten.
Doch durch den Ersten Weltkrieg kamen die Bauarbeiten ins Stocken. Die Kirche wurde erst im Jahr 1927 eingeweiht. Durch den Krieg kam auch alles andere ins Wanken: Der Mikrokosmos der Mustersiedlungen zerbrach. Die Bergleute der Gieschegrube, egal ob Polen oder Deutsche, zogen in den Krieg für »König und Vaterland« und fielen an verschiedenen Fronten. Die Überlebenden wurden mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Das Bergwerk beschäftigte nun Kriegsgefangene. Anstelle ihrer Männer gingen die Frauen in die Grube. Das Land hungerte und fror. Doch den Bewohnern von Gieschewald und Nickischschacht ging es mit ihren Kleingärten und Backhäusern vergleichsweise gut.
Die revolutionären Vorgänge in Rußland ließen alsbald auch in Oberschlesien unter den Arbeitern eine revolutionäre Stimmung aufkommen, die sich in Streiks entlud. Sozialistische Forderungen wurden laut, aber auch Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit. Diese Forderungen wurden von den alliierten Siegermächten erfüllt: Nach dem Krieg kam es zu einer Neuordnung Europas. Durchgesetzt wurde die Errichtung der Republik Polen, die seit Ende des 18. Jahrhunderts von der Landkarte verschwunden war.
Durch die Neuziehung der Ostgrenze Deutschlands ergab sich indes die Frage, was mit Oberschlesien geschehen sollte. So kam es 1921 laut Versailler Vertrag zu einer Volksabstimmung in den ehemals deutschen Gebieten. Eine heftige Propagandaschlacht tobte auf beiden Seiten. Die Zeit vor und nach dem Plebiszit wurde von drei Aufständen begleitet, die das Ziel hatten, die wirtschaftlich ertragreiche Region auf die Seite Polens zu ziehen. Terror und Gegenterror kosteten Tausenden von Menschen das Leben.
In Nickischschacht und Gieschewald fanden sich begeisterte Anhänger für die »polnische Sache«, doch nicht alle Polnischstämmigen zogen an einem Strang. Im Ergebnis stimmte die Bevölkerung der Giesche-Siedlungen mit über 70 Prozent für die Angliederung an Polen, einen Staat, der neu und unbekannt war – anders als der Rest des Abstimmungsgebietes, der mehrheitlich für Deutschland votierte. Im Juni 1922 wurde Ostoberschlesien von der polnischen Armee übernommen, eine planmäßige Entdeutschung und eine Polonisierung waren die Folge. Als Zugeständnis an die deutsche Bevölkerung sollten Minderheitenrechte garantiert und deutsche Minderheitenschulen gegründet werden. Gieschewald hieß von da an Giszowiec und Nickischschacht Nikiszowiec.
Die folgenden Jahre verliefen einigermaßen friedlich, doch die relative Ruhe hielt nicht lange an. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, besetzten deutsche Truppen die beiden Siedlungen, Ostoberschlesien wurde wieder ins Deutsche Reich eingegliedert. Vieles, was an die polnische Zwischenkriegszeit erinnerte, versuchte man zu vernichten. Giszowiec und Nikiszowiec bekamen ihre deutschen Namen zurück. Eine planmäßige Eindeutschung und eine Entpolonisierung setzten ein. Patriotisch eingestellte Polen und Teilnehmer an den schlesischen Aufständen hatten Repressionen zu erdulden. In den Aktionen »Fingerabdruck« und Eintragung in die »Deutsche Volksliste« schließlich sollten die Oberschlesier ihre Volkszugehörigkeit erklären.
Man konnte im Grunde selbst entscheiden, wer man sein wollte – Pole oder Deutscher. Anders als noch 1921 gab sich die überwiegende Mehrzahl der Bewohner von Gieschewald und Nickischschacht als Deutsche aus, verschwindend wenige bekannten sich zu Polen. Von der dazwischenliegenden Möglichkeit, die oberschlesische Volkszugehörigkeit zu wählen, wurde kein Gebrauch gemacht. Die Eintragung ehemals polnischer Staatsbürger in die deutsche Volksliste ermöglichte es den deutschen Behörden, die Wehrmachtstruppen mit neuen Kräften zu ergänzen.
Zahlreiche Bewohner von Gieschewald und Nickischschacht wurden, unabhängig von ihren Gesinnungen und Sympathien, zur deutschen Armee einberufen und leisteten dort ihren Dienst ab. Das Ende des Zweiten Weltkrieges brachte wieder große Veränderungen und Umbrüche mit sich. Abermals kam es zu Umbenennungen. Ortschaften, Straßen und Betriebe erhielten polnische Namen, das Schulwesen wurde auf polnische Bedürfnisse umgestellt.
Darüber hinaus begann man damit, kommunistisch ausgerichtete Machtorgane auf kommunaler Ebene zu installieren. Das endgültige Aus für die traditionell gewachsenen Strukturen von Gieschewald erfolgte Ende der 1960er Jahre, als man weitere Steinkohlefunde entdeckte und ein neues, noch größeres Bergwerk aus dem Boden gestampft wurde. Nach und nach erhielten die Bewohner der Gartenstadt einen amtlichen Bescheid mit der Aufforderung, ihr Häuschen zu verlassen, weil es abgerissen werden sollte. Sie siedelten in die elfstöckigen Plattenbauten um, die bereits in ihr Revier vordrangen. »Die Entscheidung war auch ideologisch begründet. Ureigentlich ging es darum, ein derart schönes Zeugnis nicht nur deutscher, sondern auch kapitalistischer Alltagskultur aus der Welt zu schaffen.« (1)
Erst in den 1990er Jahren, also nach Zusammenbruch des sozialistischen Systems, wurde damit begonnen, die historischen Bauten zu pflegen und wiederherzustellen – fast zu spät. Denn infolge der bis Anfang der 1980er Jahre durchgeführten Abbrüche verlor Giszowiec seinen einzigartigen architektonischen Charakter einer Gartensiedlung. Bis heute ist nur etwa ein Drittel der ursprünglichen – inzwischen in die Denkmalliste eingetragenen – Bebauung erhalten geblieben. Die nach ihrer Gründung ca. 5000 Köpfe zählende Gemeinde Gieschewald / Giszowiec umfaßt derzeit etwa 17 000 Menschen. Das Giesche-Bergwerk wurde stillgelegt wie die meisten anderen Gruben in der Region.
Die Mehrheit der Bewohner, die aus unterschiedlichen Gegenden Polens stammen, wohnt in den Plattenbauten aus sozialistischer Zeit. Die Vergangenheit der historischen Wohnsiedlung ist jedoch für die heutigen Bürger von Giszowiec ein Signum der Identifikation und lokalen Verbundenheit. Die polnische Journalistin Małgorzata Szejnert hat ein erstaunliches Buch über Giszowiec und Nikiszowiec geschrieben, das rechtzeitig zum hundertsten Jubiläum der Giesche-Kolonie im Jahr 2007 erschien: Czarny ogród – Der schwarze Garten. (2) Am Beispiel ausgewählter Familien zeichnet sie das bewegte Auf und Ab der Regionalgeschichte nach, in nüchterner Sprache und dennoch warmherzig und poetisch, niemals in Ressentiments – von welcher Seite auch immer – verfallend. Dieser preisgekrönten Veröffentlichung ist es zu verdanken, daß die beiden historischen Siedlungen und die mit ihnen verbundenen Menschen mit einem Platz in der Literatur geehrt werden.
Das Buch wirft ebenfalls ein Licht auf einen Landstrich, in dem Ethnien unterschiedlicher Prägung – Polen, Deutsche und ein Volksstamm, der sich Ślązacy nennt – auf engem Raum zusammenlebten. Die Oberschlesier erfuhren in nur wenigen Jahrhunderten so viele politische, nationalstaatliche und gesellschaftliche Umbrüche, daß es für sie unmöglich wurde, eine dauerhafte Loyalität zu einem bestimmten Staat, zu einer bestimmten Nationalität auszubilden.
Sie blieben biegsam und anpassungsfähig, denn nur dadurch war ihr Überleben gesichert. Sie zogen sich zurück in die Identität des Eigenen, des spezifisch Oberschlesischen. Geschliffen von den Stürmen der Geschichte, formte sich ein eigensinniger Menschenschlag: Sie begehrten nicht gegen die Herrschenden auf, aber heimlich machten sie, was sie wollten. Sie, die Ślązacy, die im höchsten Maße traditionsverbunden waren, lebten in einer Zeit des beständigen »Wandels«.
Die »Spaltung der Gesellschaft«, wie wir sie heute in Deutschland beklagen, war für Oberschlesier seit jeher ein gottgegebener Dauerzustand. Zahlreiche »Risse«, hervorgerufen durch politische oder nationale Parteinahme, gingen immer auch durch die Familien hindurch. Im Zeitraum von hundert Jahren wechselte in Ostoberschlesien dreimal die Staatszugehörigkeit (bis 1922 deutsch, 1922 bis 1939 polnisch, 1939 bis 1945 deutsch, 1945 bis heute polnisch), fünfmal das politisch-wirtschaftlich System (bis 1922 Deutsches Kaiserreich und Kapitalismus, 1922 bis 1926 parlamentarische Demokratie, 1926 bis 1939 autoritäre Herrschaft unter Piłsudski, 1939 bis 1945 NS-Diktatur, 1945 bis 1989 kommunistische Diktatur der Volksrepublik Polen, 1989 bis in die Gegenwart marktwirtschaftliches Polen). Zwei Weltkriege und bürgerkriegsähnliche Unruhen während der Aufstände walzten über die Menschen hinweg.
Was stets erhalten blieb und die verschiedenen Nationalitäten und Mentalitäten zu einer Einheit verschmolz, waren Arbeit und Kirche. Heute ist selbst dieser stabilisierend und integrierend wirkende Faktor weggebrochen: Die Kirche besitzt längst nicht mehr den Einfluß, den sie einmal hatte, und seine Arbeit findet der Oberschlesier nicht mehr unter Tage oder in der Eisenhütte, sondern im Dienstleistungsgeschäft. Und doch hat sich manches zum Positiven entwickelt: Auf die deutsche Vergangenheit hinzuweisen ist für Nikiszowzer und Giszowzer nicht mehr mit Scham behaftet.
Im Gegenteil, man rühmt sich, Teil einer bedeutsamen architektonischen Geschichte zu sein sowie Teil der preußischen Industriegeschichte. Dem Bauherrn Anton Uthemann wird in vielerlei Hinsicht gehuldigt: keine Broschüre oder Hinweistafel, die seine Leistungen nicht erwähnt. Der Name Zillmann hat einen nostalgischen Glanz und ist von einer beinahe sakralen Aura umgeben. Aktivisten des lokalen Dialekts bemühen sich erfolgreich, die ślůnsko godka, die in der Volksrepublik Polen nicht gesprochen werden durfte (sie galt als zu deutsch), wiederzubeleben. Sie übersetzen Literaturklassiker ins Oberschlesische, geben Wörterbücher und die Zeitung Slůnski Cajtůng heraus. (3) Sie verstehen sich als Teil der oberschlesischen Autonomiebewegung, die für ihre Rechte kämpft. (4)
Viele der Aktivisten sind jung, gebildet und »linksdrehend«. Sie setzen ihre Hoffnung auf die Europäische Union, die sich Minderheitenschutz auf ihre Fahnen geschrieben hat. Von der national-konservativen polnischen Regierung Warschaus fühlen sie sich übergangen. Das Arbeiterstädtchen »Nikisz« scheint so etwas wie ein Wahrzeichen für sie zu sein. Es hat sich, im Unterschied zu Gieschewald, vollständig erhalten und ist, stylish herausgeputzt, zu einem touristischen Highlight geworden für all jene, die vom industriellen und kulturellen Erbe Schlesiens gefesselt sind. Und davon, wie ungewöhnlich und aufregend früher das Bauen sein konnte.
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(1) – Małgorzata Szejnert: »Reise in den schwarzen Garten«, in: Das Blättchen vom 8. Juni 2008, (siehe auch www.das-blaettchen.de).
(2) – Małgorzata Szejnert: Der schwarze Garten, aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel, Potsdam 2015.
(3) – Vgl. Evelyne E. Adenauer: »Das oberschlesische Herz schlägt po aszymu«, www.kulturforum.info (November / Dezember 2021).
(4) – Vgl. Robert Starosta, Lukas Moj: »Die Autonomiebewegung in den letzten 20 Jahren«, www. wachtyrz.eu (2. August 2018).