Es ist nicht nötig, die historische Bedeutung des Bauerntums zu erklären. Seit dem Beginn von Ackerbau und Viehzucht lebten die meisten Menschen über Jahrtausende hinweg nicht nur auf dem Land, sondern mit und von dem Land.
Erst im Europa des 19. Jahrhunderts wurde diese historische Linie durch Urbanisierung, Industrialisierung und Technisierung unterbrochen: Grundherrschaftliche Bindungen wurden aufgelöst, der Zunftzwang abgeschafft und schrittweise die Gewerbefreiheit eingeführt. Viele Bauern verloren im Zuge dieser Umwälzungen ihre Arbeit und zogen in die schnell wachsenden Städte, um in Fabriken als Lohnarbeiter zu arbeiten.
Die fehlende soziale Absicherung, Preisschwankungen und immer neue Wirtschaftskrisen führten zur Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten. Angesichts dieser Umbrüche und der Massenverelendung entstand wieder ein Bewußtsein für die Wichtigkeit bäuerlichen Lebens und Arbeitens für Volk, Staat und Wirtschaft. Zahlreiche Denker kritisierten den Niedergang der agrarisch geprägten vormodernen Gesellschaftsordnung und verteidigten das Bauerntum, indem sie dessen kulturelle, wirtschaftliche und soziale Leistungen betonten.
Unter diesen Autoren sticht der Journalist und Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl hervor, dessen Wirken vor allem für die Entwicklung der Volkskunde zur wissenschaftlichen Disziplin maßgeblich war. Für Riehl war das Bauerntum – neben dem Adel – eine der »Kräfte des socialen Beharrens«, wohingegen Bürgertum und Proletariat »Kräfte der socialen Bewegung« (1) seien, die dementsprechend nicht auf dem Land, sondern in den Großstädten, den »Wasserköpfen der modernen Civilisation«, (2) zur Geltung kämen.
Im zweiten Band seines Hauptwerks Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik von 1851 postuliert Riehl: »Es ruht eine unüberwindliche conservative Macht in der deutschen Nation, ein fester, trotz allem Wechsel beharrender Kern – und das sind unsere Bauern.« Er geht noch weiter: »Der Bauer hat in unserem Vaterlande eine politische Bedeutung wie in keinem anderen Lande Europas; der Bauer ist die Zukunft der deutschen Nation. Die innere Erfrischung und Verjüngung unseres Volkslebens kann nur noch von dem Bauernstande ausgehen.« (3) Pathos und Polemik in Riehls Sprache veranlaßten Marx und Engels wenige Jahre später, ihn als »belletristisierenden Ährenleser« (4) zu verspotten, was der großen Popularität von Riehls Werken, auch über seinen Tod hinaus, keinen Abbruch tat.
Noch 1908 schrieb Franz Hitze, Priester, Zentrums-Abgeordneter und Professor für Christliche Gesellschaftslehre, in seinem Abriß der Agrarfrage in ähnlicher Weise: »Wer sein Vaterland liebt, liebt auch unsern Bauernstand. Der Bauernstand ist ein wertvolles konservatives Element in Staat und Gesellschaft. Er verstärkt die Kräfte der Ordnung und Beharrung gegenüber dem stürmenden Fortschritt. Er rechnet mit den Gesetzen der organischen Entwicklung.« (5) Wie Riehl hielt auch Hitze nichts von den »Genüssen, Lockungen und Aufregungen der Stadt und Industrie«. (6) Anders als Riehl stellte Hitze jedoch das Bauerntum nicht in Gegensatz zur Arbeiterschaft, sondern wollte sich durch die Mitgründung der katholischen Arbeitervereine gleichermaßen für deren Belange einsetzen.
Aber bereits vor der Industrialisierung und der damit verbundenen Entstehung des Proletariats fanden sich Stimmen des Lobes auf die Bauern: 1812 kritisierte der Philosoph Adam Müller in seinen »Agronomischen Briefen« die Merkantilisierung der Landwirtschaft und die Mobilisierung des Erdbodens, wofür er besonders die Wirtschaftstheorien von Adam Smith verantwortlich machte.
Der »merkantilischen Landwirtschaft« stellt er eine vom Weltmarkt möglichst unabhängige, auf dem »Prinzip der Dauer« (7) fußende Landwirtschaft gegenüber. Diese bilde »Stamm und Wurzel alles politischen Lebens«, da sie eine »Ehe eines Volkes mit einem bestimmten Boden« ermögliche, was wiederum »die akkumulierte Kraft vieler aufeinander folgender Geschlechter, die eigentlich politische Macht, die Macht, welche im Stande der Ruhe fortwirkt«,(8) freisetze. Dieser Gedanke findet sich auch bei Ernst Moritz Arndt, der 1814 erklärte, das Bauerntum sei »dem Wandelbaren und Unruhigen entgegengesetzt, was das Leben der Städte und der städtischen Gewerbe ist«. (9) Damit prägte Arndt auch das Wirken Riehls, der bei ihm in Bonn Geschichte hörte.
Als die Industrialisierung auch im preußischen Kaiserreich alle Bereiche des Lebens veränderte, entstanden zudem eine Vielzahl von Zeitschriften und Vereinen, die sich nicht nur für die Bewahrung des Bauerntums einsetzten, sondern in einem weiteren Sinne auch Landleben und Naturschutz thematisierten. Zu nennen seien hier beispielhaft die ländliche Genossenschaftsbewegung, die christliche Vereinigung der deutschen Bauernvereine, der Bund Heimatschutz, der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege, die Dorfkirchenbewegung, die Wandervogelbewegung und die Heimatkunstbewegung in der Literatur.
So vielfältig deren Wirken auf politischen und gesellschaftlichen Ebenen war, so unterschiedlich waren auch deren Beweggründe und Ziele. In der Rückschau werden diese allerdings nur selten differenziert. Meist überwiegt die pauschale Bewertung von Bauern- und Heimatschutzbewegungen als allzu menschliche Reaktion auf den Bruch durch die Industrialisierung und als Verklärung einer unwiderruflich verlorenen Vergangenheit: Der Historiker Klaus Bergmann sieht in seiner gleichnamigen Schrift von 1970 »Agrarromantik und Großstadtfeindschaft« als grundlegende Motive dieser Bewegungen vom frühen 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich: »Das Unbehagen war eine nur zu verständliche Reaktion auf diese Umwälzung […]. Die Stilisierung der Vergangenheit zu einer ruhigen, friedlichen, ja idyllischen, zu einer überschaubaren, ja geordneten Welt konnte nicht ausbleiben.« (10)
Die Volkskundlerin Christiane Cantauw glaubt, der ländliche Raum wurde »in zunehmendem Maße zur Gegenwelt stilisiert, in der die Sehnsucht nach Natürlichkeit, Einfachheit und Überschaubarkeit ein naheliegendes, vermeintlich erreichbares Ziel fand.« (11) Die Kulturwissenschaftlerin Annegret Braun hält ebenso fest: »Als durch die Industrialisierung ein grundlegender Wandel durch die Gesellschaft ging und das Proletariat eine Bedrohung für die bestehenden Ordnungen erschien, rückte der Sehnsuchtsort Land immer mehr in den Mittelpunkt.« (12)
Derlei Stimmen lassen sich noch viele finden. Die Geschichte scheint ihnen recht zu geben. Denn trotz ihres langen Wirkens vermochten es die obengenannten Initiativen nicht, die Herabsetzung der Landwirtschaft, den Niedergang des kleinen Grundbesitzes und die Landflucht aufzuhalten. Diese Entwicklungen setzten sich durch die folgenden politischen Systeme fort, auch begünstigt durch die Gleichschaltung aller landwirtschaftlichen Betriebe im »Reichsnährstand« 1933, die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone von 1945 bis 1948 und die Flurbereinigung in der Bundesrepublik der 1950er Jahre.
Von einer Landwirtschaft als »Fürstin und Erhalterin der Völker« (Müller) sind wir heute entfernter denn je. Waren die Loblieder auf die Bauern und die Versuche, sie erneut genossenschaftlich zu organisieren, also nichts weiter als der Ausdruck rückwärtsgewandter Sehnsüchte? Haben Riehl, Hitze und andere die Bedeutung von Bauerntum und Landleben nur überschätzt und romantisiert? Diese Fragen haben nicht nur historische Bewandtnis, sondern geben auch darüber Aufschluß, ob sich derjenige heute noch positiv auf Bauerntum und Landleben beziehen kann, der auf eine grundsätzliche politische Wende hinwirken will.
Zwei Sackgassen fallen dabei ins Auge: Der Rückzug des einzelnen ins ländliche Privatleben, um einfach »in Ruhe« gelassen zu werden, bewirkt keine gesellschaftliche Veränderung, entzieht politischen Bewegungen Kraft und ist tatsächlich eine naive Träumerei, stellt doch das heutige Landleben keine Idylle dar. Zudem verletzt man dadurch seine naturrechtliche Pflicht gegenüber dem Gemeinwohl. Ebenso verkehrt wäre es, den Bauer als »politisches Subjekt« zu betrachten und alle Hoffnung in Proteste und Streiks der Bauernbewegungen zu setzen.
Zum einen erscheinen diese dafür weder geeint noch einflußreich genug. Selbst den jüngsten Bauernprotesten in den Niederlanden, deren landwirtschaftlicher Sektor größer ist als in der Bundesrepublik, gelang es bisher nicht, ihre politischen Forderungen durchzusetzen und die Zerstörung der Landwirtschaft durch »Big Business« zu stoppen. Zum anderen sind das berufliche Selbstverständnis und das praktische Handeln der heutigen Landwirtschaft ohnehin kaum mehr vom »lokalen und vaterländischen Bedürfnisse« (Müller) geprägt.
Einen möglichen Ausweg bietet der Agrarwissenschaftler Hans Bach, der zehn Jahre nach Bergmanns Kritik an der »Agrarromantik« diesen Begriff positiv gebraucht hat, ohne jedoch dabei einer irrationalen Sehnsucht zu verfallen. Bach versteht die »Agrarromantik« in ihrem historischen Kontext, zieht aus ihr aber auch zeitlose Aussagen. Darunter fällt vor allem die Verteidigung der »überwirtschaftlichen«, das heißt der kulturellen und ökologischen Agrarfunktionen gegen den unbeschränkten Zugriff des Marktes.
In diesem Sinne stellt er die »Agrarromantik« als agrarpolitisches Leitbild dem »Agrarliberalismus« und dem »Agrarsozialismus« gegenüber, deren gemeinsamer »Enderfolg naturwidrige Tierfabriken und großflächige, den Naturhaushalt zerstörende Monokulturen sind, wobei die tätige menschliche Mitwirkung auf ein Minimum eingeschränkt und die ländliche Raum- und Siedlungsstruktur insgesamt in Frage gestellt wird«. (13) Dieser Prozeß hat sich noch weiter verschärft: Infolgedessen sind der Verlust von Artenvielfalt, das Verschwinden landwirtschaftlicher Betriebe, die hohe Suizidrate unter Landwirten, der geringe Selbstversorgungsgrad bei Obst und Gemüse und das Aussterben ganzer Dörfer zu konstatieren. Bachs nüchterner Blick aus zeitlicher Distanz bestätigt daher viele Beobachtungen der vermeintlich agrarromantischen Autoren, die aktueller denn je sind.
Ein grundsätzlich positiver Bezug zu Bauerntum und Landleben eröffnet also gerade im 21. Jahrhundert weitreichende Möglichkeiten des metapolitischen Setzens von Themen und Forderungen, die über den eigentlichen Bereich der Agrarpolitik und über politische Lagergrenzen hinausführen. Zu nennen sind etwa: Deglobalisierung der Landwirtschaft und Stärkung regionaler Versorgungs- und Lieferketten, Rückgewinnung staatlicher Souveränität und Erhöhung des Selbstversorgungsgrades bei Lebensmitteln, Eigentumsbildung durch Förderung kleinteiliger, genossenschaftlich organisierter Landwirtschaft, Schutz vor Bodenspekulation sowie Verbindung von Natur- und Heimatschutz.
Die praktische Umsetzung dessen beginnt durch die notwendige Wiederherstellung gesellschaftlicher Zwischengliederungen (vgl. Sezession 111 / 2022, S. 50 f.), wofür die strukturschwachen ländlichen Räume buchstäblich offen sind und wodurch erst Leben auf dem Land und bäuerliches Arbeiten zu einem Aufbau anstatt zu einem Rückzug werden können.
Diese Erdung erlaubt schließlich auch, wie Papst Pius XII. 1946 schrieb, »die wesentlichen Grundlagen dessen, was man bäuerliche Kultur nennen könnte, der Nation zu erhalten. Diese Grundlagen sind Fleiß und Echtheit des Lebens; Achtung vor der Autorität, besonders bei den Eltern; Liebe zur Heimat und Überlieferungstreue, die sich im Laufe der Jahrhunderte so segenbringend erwiesen haben; gegenseitige Hilfsbereitschaft, nicht allein im Kreise der eigenen Familie, sondern auch von Familie zu Familie und von Haus zu Haus.« (14)
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(1) – Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, Bd. 1: Land und Leute, Stuttgart / Tübingen 41857, S. 110.
(2) – Ebd., S. 75.
(3) – Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, Bd. 2: Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart / Tübingen 1851, S. 41.
(4) – Friedrich Engels, Karl Marx: »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, in: dies.: Kleine ökonomische Schriften. Ein Sammelband, Berlin 1955, S. 251.
(5) – Franz Hitze: Abriß der Agrarfrage, Mönchengladbach 1908, S. 2.
(6) – Ebd., S. 3.
(7) – Adam Müller: »Agronomische Briefe«, in: ders.: Ausgewählte Abhandlungen (= Die Herdflamme. Sammlung der gesellschaftswissenschaftlichen Grundwerte aller Zeiten und Völker, Bd. 19, hrsg. von Othmar Spann), Jena 21931, S. 163.
(8) – Ebd., S. 146 f.
(9) – Ernst Moritz Arndt: »Über künftige ständische Verfassungen in Deutschland«, in: ders.: Agrarpolitische Schriften, Goslar 1938, S. 281.
(10) – Klaus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1970, S. 362.
(11) – Zit. n. Christoph Baumann: Idyllische Ländlichkeit. Eine Kulturgeographie der Landlust, Bielefeld 2018, S. 93.
(12) – Ebd., S. 89.
(13) – Hans Bach: »Agrarpolitik«, in: Alfred Klose (Hrsg.): Katholisches Soziallexikon, Innsbruck et al. 21980, Sp. 45.
(14) – Papst Pius XII.: Brief an Kardinal Cardijn vom 26. April 1946, in: Sozial-Katechismus. Päpstliche Weisungen von A – Z, Eichstätt / Rom / München 1948, S. 60.