Die Kartause

von Konrad Markward Weiß -- PDF der Druckfassung aus Sezession 114/ Juni 2023

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Vor eini­gen Jah­ren ver­schlug es mich wäh­rend eines Ber­lin-Auf­ent­hal­tes in ein soge­nann­tes Shop­ping- und Enter­tain­ment-Cen­ter mit ange­schlos­se­nem »Food Court« – also an einen beson­ders geist- und see­len­lo­sen Ort in einer ohne­hin immer betrüb­li­che­ren Stadt.

Der geschichts- und gesichts­lo­se, dröh­nen­de Kon­sum­tem­pel, der sich, auch aus­weis­lich sei­nes austausch­baren Ange­bots und aus­ge­tausch­ten Publi­kums, über­all in der west­li­chen Welt hät­te befin­den kön­nen, zei­tig­te drei­er­lei Reak­tio­nen: ers­tens, ihn so rasch als mög­lich zu ver­las­sen; zwei­tens die Über­le­gung, wel­che Lebens­wei­se in unse­ren Brei­ten wohl die Anti­the­se zu die­sem Unort dar­stel­le; ­drit­tens eine wach­sen­de Fas­zi­na­ti­on für das Ergeb­nis die­ser Über­le­gung: die Kartause.

Das Leben der Pries­ter­mön­che des Kar­täu­ser­or­dens ist in sei­ner Stren­ge inner­halb der katho­li­schen Kir­che ohne Ver­gleich. Nur an Sonn- und Feier­tagen wird das Mit­tags­mahl gemein­sam ein­ge­nom­men. Nur dar­an anschlie­ßend sowie auf einem all­wö­chent­li­chen Spa­zier­gang – und nur dann hal­ten sich die Kar­täu­ser­pries­ter für eini­ge Stun­den außer­halb der Klau­sur­mau­ern auf – sind ihnen Gesprä­che mit­ein­an­der erlaubt; nur an zwei Tagen im Jahr außer­dem mit Besu­chern aus dem engs­ten Fami­li­en­kreis (und nur mit die­sem darf ein spär­li­cher Brief­wech­sel unter­hal­ten werden).

Die­se Aus­nah­men stel­len die Gesamt­heit aller »Zer­streu­un­gen« dar. Ande­re Kon­tak­te mit der Außen­welt, sei es über Medi­en oder im Wege der Seel­sor­ge, fin­den nicht statt, dem Wahl­spruch des Ordens ent­spre­chend: Stat crux dum vol­vi­tur orbis – »Das Kreuz steht, wäh­rend die Welt sich dreht«.

Das Kreuz der auch »Zel­len­mön­che« genann­ten Kar­täu­ser­pries­ter scheint von beängs­ti­gen­der Schwe­re: Unter Ein­hal­tung eines stren­gen Stun­den­pla­nes ver­brin­gen sie ihr Leben fast aus­schließ­lich in tie­fem Schwei­gen, allein, in spar­ta­ni­schen Häus­chen, der »Zel­le«, vor allem in deren Auf­ent­halts­raum, dem cubicu­lum. Dort erhal­ten sie über eine ­Durch­rei­che ihre schlich­ten, stets fleisch­lo­sen Mahl­zei­ten – nie­mals Früh­stück, am Abend wäh­rend der mona­te­lan­gen Fas­ten­zei­ten sowie jeden Frei­tag nur Brot und ein Getränk.

Dort gehen sie geist­li­chen Stu­di­en nach. Dort arbei­ten sie hand­werk­lich, im eige­nen ummau­er­ten Gar­ten und am eige­nen Brenn­holz – wobei die manu­el­le Arbeit weni­ger dazu dient, etwas her­zu­stel­len, als gesund zu blei­ben. Und dort steht, über allem ande­ren – beim Stun­den­ge­bet, beim Offi­zi­um zu Ehren Mari­ens, der Patro­nin des Ordens, und in wei­te­ren Gebe­ten –, das Stre­ben nach einer fast unun­ter­bro­che­nen Zwie­spra­che mit Gott.

Nur drei­mal täg­lich ver­las­sen die Pries­ter­mön­che ihre Häus­chen: zur Kon­vents­mes­se und um anschlie­ßend jeder für sich in einer Kapel­le die Still­mes­se zu lesen; zur Ves­per am spä­ten Nach­mit­tag; und, ein­zig­ar­tig in der katho­li­schen Kir­che, gegen Mit­ter­nacht, zwei bis drei Stun­den lang, für matu­tin und lau­des. So erhält ein Kar­täu­ser sel­ten mehr als drei­ein­halb Stun­den unun­ter­bro­che­nen Schla­fes. Trotz­dem stellt die nächt­li­che Andacht mit dem Sin­gen der gre­go­ria­ni­schen Cho­rä­le in der nur von Ker­zen spär­lich beleuch­te­ten Klos­ter­kir­che den erfül­len­den Höhe­punkt im täg­li­chen Leben der Mön­che dar.

Die­ses har­te Regime scheint der Gesund­heit aller­dings nicht abträg­lich zu sein – zahl­rei­che Quel­len bele­gen die Lang­le­big­keit der Kar­täu­ser, dar­un­ter auch eine, die berich­tet, wie ein 116jähriger Kar­täu­ser im nie­der­ös­ter­rei­chi­schen Gam­ing an den Fol­gen eines Stur­zes von einem Pferd ver­starb. »Hier schenkt Gott sei­nen Ath­le­ten für die Kamp­fes­mü­he den ersehn­ten Lohn; einen Frie­den, den die Welt nicht kennt, und die Freu­de des Hei­li­gen Geis­tes«, so der Ordens­grün­der Bru­no von Köln.

Die­ser war um 1030 im »Rom des Nor­dens« gebo­ren wor­den, hat­te sich zum Stu­di­um nach Reims bege­ben und war dort mit wenig mehr als 25 Jah­ren zum Rek­tor der Uni­ver­si­tät auf­ge­stie­gen, dann aber mit sei­nem simo­nis­ti­schen Bischof in Kon­flikt gera­ten, dem er nach des­sen Abset­zung im Amt nach­fol­gen soll­te. Bru­no jedoch, »der sich wie vie­le ›Eli­te­see­len‹ sei­ner Zeit zum Ere­mi­ten­le­ben beru­fen fühl­te« (James Hogg), wies den Bischofs­stuhl in der illus­tren Krö­nungs­stadt der fran­zö­si­schen Köni­ge zurück und ver­ließ Reims. Er gelang­te schließ­lich mit sechs Gefähr­ten nach Gre­no­ble, des­sen Bischof, der hei­li­ge Hugo, wäh­rend eines hal­ben Jahr­hun­derts Freund und Pro­tek­tor der klei­nen Gemein­schaft sein sollte.

Er führ­te die sie­ben höchst­per­sön­lich in die »schreck­li­che Ein­sam­keit« (Jean-Fran­çois Ducis) eines im namens­ge­ben­den Gebirgs­mas­siv der Chartreu­se (lat. car­tus­ia, dt. Kar­tau­se) auf über 1000 Metern gele­ge­nen, schwer zugäng­li­chen Hoch­tals, das schon vor dem Kom­men der klei­nen Gemein­schaft »die Wüs­te« genannt wor­den war. Sie­ben Ster­ne hat­ten Hugo den Weg gewie­sen, die ihm im Traum erschie­nen waren und sich noch heu­te im Wap­pen der Kar­täu­ser fin­den. 1084 ent­stand so die ers­te Nie­der­las­sung die­ser »Ein­sied­ler in Klos­ter­ge­mein­schaft«, unweit der heu­ti­gen Gran­de Chartreu­se, des Mut­ter­hau­ses des Ordens.

Bru­no wur­de als­bald von Papst Urban II., sei­nem ehe­ma­li­gen Schü­ler zu Reims, nach Rom geru­fen. Nach weni­gen Mona­ten und der Aus­schla­gung eines wei­te­ren Bischofs­hu­tes erhielt er vom Papst die sel­te­ne Gunst, wie­der sei­ner wah­ren Beru­fung fol­gen zu dür­fen. In Kala­bri­en errich­te­te Bru­no eine neue Ein­sie­de­lei, in der er 1101 starb. Er hin­ter­ließ ein geis­ti­ges Erbe, aber kei­ne Ordens­re­gel. Aber der fünf­te Pri­or, Gui­go, schrieb die Bräu­che der Kar­täu­ser nie­der. Wäh­rend sei­nes Prio­rats ent­stan­den außer­dem sie­ben wei­te­re Kar­tau­sen, wes­halb er als »zwei­ter Grün­der« des Ordens bezeich­net wird.

Sei­ne Schrift wur­de vom Papst 1133 appro­biert und bil­det bis heu­te die Grund­la­ge der Sta­tu­ten, die zuletzt im Gefol­ge des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils mode­rat erneu­ert wur­den, unter Bei­be­hal­tung des schlich­ten eige­nen Ritus. So mag die sprich­wört­li­che Fest­stel­lung eines Paps­tes – »car­tus­ia nun­quam refor­ma­ta quia nun­quam defor­ma­ta« (»die Kar­tau­se wur­de nie refor­miert, weil sie nie defor­miert war«) – im ein­zel­nen zwar nicht mehr zutref­fen, aufs Gan­ze gese­hen nach über 900 Jah­ren Kar­täu­ser­ge­schich­te jedoch noch immer.

Für die His­to­rie des Ordens und des­sen Hal­tung ist ein Wort des anony­men Ver­fas­sers des Stan­dard­wer­kes La Gran­de Chartreu­se cha­rak­te­ris­tisch: »Was waren die wich­ti­gen Ereig­nis­se, die eine neun Jahr­hun­der­te wäh­ren­de Geschich­te mar­kier­ten? Die ers­te Fest­stel­lung lau­tet, daß es in Wirk­lich­keit nicht viel zu sagen gibt. […] Eine voll­stän­dig der Kon­tem­pla­ti­on Got­tes geweih­te Exis­tenz hin­ter­läßt kaum sicht­ba­re Spu­ren in der Geschich­te der Men­schen«. Umge­kehrt trifft dies aller­dings nicht zu: Die Pest im 14. und die Hus­si­ten­krie­ge im 15. Jahr­hun­dert war­fen ihren Schat­ten vor­aus; im 16. Jahr­hun­dert erleb­te der Orden zwar mit fast 200 Häu­sern sei­ne größ­te Aus­deh­nung, aber auch die bis­her größ­ten Heim­su­chun­gen: Refor­ma­ti­on, Reli­gi­ons­krie­ge, Tür­ken­sturm oder das Mar­ty­ri­um der Lon­do­ner Kar­täu­ser, als die­se sich wei­ger­ten, den eng­li­schen König als Ober­haupt der Kir­che anzuerkennen.

Im 17. Jahr­hun­dert nahm die Gran­de Chartreu­se nach dem ach­ten und letz­ten Brand ihre heu­ti­ge Form an; im 18. Jahr­hun­dert hob Kai­ser Joseph II. alle Kar­tau­sen und zahl­rei­che wei­te­re Klös­ter im Reich auf. Vor allem aber die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on, die Napo­leo­ni­schen Krie­ge und die Säku­la­ri­sa­ti­on gin­gen dem Orden bei­na­he ans Leben – er ver­lor fast drei Vier­tel sei­ner Häu­ser. Im 20. Jahr­hun­dert schließ­lich dekre­tier­te eine aggres­siv kir­chen­feind­li­che Gesetz­ge­bung die Schlie­ßung aller Kar­tau­sen in Frank­reich; und am 29. April 1903 – einem wahr­haft stol­zen Tag der Fran­zö­si­schen Repu­blik – wur­den die Pfor­ten des Mut­ter­hau­ses manu mili­ta­ri mit Axt­hie­ben ein­ge­schla­gen und die Mön­che mit auf­ge­pflanz­tem Bajo­nett ver­trie­ben. Erst 1940 konn­te die bau­fäl­lig gewor­de­ne Gran­de Chartreu­se wie­der bezo­gen werden.

Deren Archi­tek­tur ent­springt wie die aller Kar­tau­sen der Suche nach dem »rich­ti­gen Ver­hält­nis vom Indi­vi­du­um zur Gemein­schaft«. Die­ser Gegen­satz müs­se sich auch »in der Archi­tek­tur ›ver­leib­li­chen‹« (P. Jean ­Marie Hollen­stein). Bis­her stan­den hier der Ere­mi­tis­mus nach Anto­ni­us: das Sich-Ver­lie­ren des »Ana­cho­re­ten« in der Wüs­te, und dort das Zöno­bi­ten­tum nach Bene­dik­ti­ner­art: ein gemein­schaft­li­cher Rück­zug aus der Welt in eine Art Klos­ter­ka­ser­ne, Pate.

Als eine auch archi­tek­to­nisch neue, »halb­eremitische Zwi­schen­form kann das lau­rio­ti­sche Mönch­tum ange­se­hen wer­den«, schreibt der Archi­tekt und Klos­ter­bau­er Mat­thi­as Mulit­zer über die Kar­täu­ser und die ihnen nahe ver­wand­ten Kamald­u­len­ser – »kenn­zeich­nend ist die ›gebau­te Ein­sam­keit‹«. Die­se bil­det eine Art Hier­ar­chie der Stil­le: außen Pfor­te, Gäs­te­trakt sowie Werk­stät­ten und Wohn­ge­bäu­de der Brüder­mönche – »voll­wer­ti­ge« Kar­täu­ser, die jedoch stär­ker hand­werk­lich ori­en­tiert sind und seit den Tagen des hei­li­gen Bru­no das Eremiten­leben der Pries­ter­mön­che über­haupt erst ermög­li­chen; dann für das gemein­sa­me Leben bestimm­te Anla­gen wie Kir­che, Kapel­len, Kapi­tel­saal, Refek­to­ri­um und Biblio­thek; schließ­lich der inners­te Bereich mit dem für Kartäuser­klöster typi­schen Kreuz­gang, der die Häus­chen der Pries­ter­mön­che mit­ein­an­der und mit der Kir­che ver­bin­det und in sei­ner Mit­te den Fried­hof aufnimmt.

Dort wer­den die Toten der Kar­täu­ser beer­digt, mit her­un­ter­ge­zo­ge­ner, zuge­näh­ter Kapu­ze, ohne Sarg auf einem Brett, und über den Grä­bern namen­lo­se Holz­kreu­ze auf­ge­rich­tet. Exem­pla­risch für den Stil des Ordens – in der Archi­tek­tur und ins­ge­samt – ist eine Kapi­tel­über­schrift aus den Vor­ga­ben für den Bau der 1964 fer­tig­ge­stell­ten Kar­tau­se Mari­en­au im All­gäu: »Der Bau im all­ge­mei­nen – Genüg­sam­keit, Armut, Ein­fach­heit, Lebenshärte«.

Wozu nun all die Här­ten und Ent­sa­gun­gen, die auf Außen­ste­hen­de gera­de­zu beklem­mend wir­ken? Auf Spe­ku­la­tio­nen, gar psy­cho­lo­gi­sie­ren­de, sind wir nicht ange­wie­sen – unzäh­li­ge Zeug­nis­se aus neun Jahr­hun­der­ten Kar­täu­ser­tum bestä­ti­gen das in der Ordens­re­gel Nie­der­ge­leg­te: »Hier erwar­tet uns Gott, denn man kann ein Gefäß nur fül­len, wenn es leer ist, und Er will uns mit sich selbst erfül­len. Er muß uns erst von dem frei­ma­chen, was uns den Weg ver­stellt.« – »Unser Bemü­hen und unse­re Beru­fung bestehen vor­nehm­lich dar­in, im Schwei­gen und in der Ein­sam­keit Gott zu fin­den. Denn dort unter­hal­ten sich der Herr und sein Die­ner häu­fig mit­ein­an­der, wie jemand mit sei­nem Freund.«

So sind Ent­sa­gung und Ein­sam­keit nicht bloß zwangs­läu­fi­ge Begleit­erschei­nun­gen des Weges eines Kar­täu­sers, son­dern gera­de­zu Vor­aus­set­zung für des­sen Erfül­lung. Das zeigt auch das Bei­spiel der »Offi­zia­len«: Der Pri­or (jener des Mut­ter­hau­ses ist zugleich Ordens­ge­ne­ral mit dem ­Titel rever­en­dus pater), der Vikar oder der Pro­ku­ra­tor haben Lei­tungs­auf­ga­ben, die ihnen unver­meid­lich gewis­se Kon­tak­te mit der Außen­welt und »Auf­lo­cke­run­gen« gegen­über dem All­tag der »gewöhn­li­chen« Kar­täu­ser ein­brin­gen. Und den­noch seh­nen sich die Amts­wal­ter nach der Ein­sam­keit ­ihrer Anfän­ge in der Zel­le zurück.

Die noch bestehen­den 21 Kar­tau­sen sind Anti­po­den zur lär­men­den, mate­ria­lis­ti­schen Welt unse­rer Tage. Ein durch­aus wert­schät­zen­der Tou­ris­mus sucht sie des­we­gen ver­stärkt auf, beein­träch­tigt dabei aber zwangs­läu­fig deren so fun­da­men­ta­le Ein­sam­keit. Wer die Kar­tau­se zu schät­zen weiß, soll­te sich also von ihr fern­hal­ten – und sich an ihrem Geist und dem Chartreu­se-Likör laben, des­sen Erlös heu­te ihren Bestand sichert.

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Quel­len (Aus­wahl):

chartreux.org

Janez Hol­len­stein, Tomaz Lau­ko: Wo die Stil­le spricht, Kar­tau­se Ple­ter­je 1986;

Phil­ip Grö­ning: Die gro­ße Stil­le, Doku­men­tar­film, 2005;

Mat­thi­as Mulit­zer: Die Archi­tek­tur der Kamald­u­len­ser-Ere­mi­ten von Mon­te ­Coro­na in Euro­pa, Wien 2014;

Karl Thor (Hrsg.): Ein­sam­keit und Schwei­gen als Wege zu Gott – Wir­ken und ­Bot­schaft der Kar­täu­ser, Aggs­bach-Dorf 1985;

Mari­jan Zad­ni­kar, Adam Wienand (Hrsg.): Die Kar­täu­ser. Orden der schwei­gen­den Mön­che, Köln 1983.

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