Wenn ein Stück fesselt und begeistert – braucht es dann ein Seitenmaß? Sollte man bei hervorragender Literatur nicht »endlos« weiterlesen wollen? Und doch ist es so, daß allzu dicke Brocken abschrecken. Psychologisch bleibt es ungeklärt, woher die Freude des Lesers rührt, der von einem atemberaubenden Mammutwerk »endlich die Hälfte geschafft« hat. Sollte er nicht traurig sein, daß ein Ende der Lesefreude absehbar ist?
Bei der Lektüre von Jack wird man spätestens auf Seite 400 langsam – keinesfalls aus Desinteresse. Man muß es sich jetzt aufsparen, es auswalzen, die Lektüre ausdehnen. Es kann doch nicht so bald vorbei sein? Hat man nicht so viele Tage mit »Jack« verlebt? Mit ihm gezittert, gebangt, ausgehalten? Gehofft, gegen alle Wahrscheinlichkeit?
Es ist ziemlich verrückt, daß ausgerechnet Die Andere Bibliothek (bis 2004 von Hans Magnus Enzensberger betreut, hernach bis 2023 vom umtriebigen Christian Döring, der die Sezession ausgesprochen haßt!) dieses Buch übersetzen (kongenial! Meisterleistung von Caroline Vollmann!) ließ und edierte. Denn: Daudet war nicht nur Antidreyfusard und Antisemit (was in diesem 1876 erschienenen Roman kaum eine Rolle spielt), sondern verwandte auch das »N‑Wort«, und es wird nun unter dem Dach des linken Aufbau-Verlags tatsächlich dutzend‑, wenn nicht hundertfach als »Neger« ausgeschrieben. Nicht auszudenken, wenn ein nichtlinker Verlag diese Wiederentdeckung publiziert hätte!
Alphonse Daudet (1840 – 1897) ist in Deutschland ein Unbekannter. In Frankreich sind seine Stücke bis heute Abiturstoff. Seine Grabrede hielt ausgerechnet der Dreyfus-Freund Émile Zola. Das vorliegende Buch »des Mitleids, der Wut und der Ironie« (besser kann man es kaum sagen) widmete Daudet seinem Lehrmeister Gustave Flaubert.
Wir haben es mit einem waschechten Entwicklungsroman zu tun. Protagonist ist »Jack«, der auf Wunsch seiner französischen Mutter unbedingt als »Dschäck« und nicht als [ʒak] (»ach, dieses ordinäre Französisch!«) ausgesprochen werden soll. Jack ist das zarte Kind der Ida de Barancy. Ida ist schön, dumm und eitel – und eine falsche Gräfin, eine Frau »mit Vergangenheit«. Der Sohn hängt mit abgöttischer Liebe an ihr. Natürlich liebt auch sie ihn – aber er muß doch erzogen werden, in einem möglichst renommierten Internat! Und schließlich benötigt auch sie, diese plappernde Schmetterlingsfrau, ihren Entfaltungsraum!
Die katholischen Patres, die Idas Spiel durchschauen, lehnen Jack indigniert ab. Er gelangt daher auf ein »Gymnasium«, das eine Erziehung für Kinder reicher Potentaten aus Afrika und Asien anbietet. Jack ist der einzige weiße Schüler unter »Negern« und »jungen Morgenländern«. Das Internat wird von einem geschäftstüchtigen Mulatten (Monroval) und seiner Frau (Decostère) geleitet. Man wirbt mit der »Methode Monroval-Decostère«: Verbesserung fremdländischer oder provinzieller Akzente durch Stellungsveränderung der Lautorgane. Verkannte Genies und gescheiterte Gestalten unterrichten hier. In einen der hier gestrandeten Lehrer, in den fiesen, dichtenden d’Argenton, wird sich Ida verlieben. Das wird lebenslang Jacks Schicksal bestimmen.
Jack bleibt trotz vielfacher Prüfungen der »reine Tor«. Er hält aus, steckt ein, schon aus Liebe zu seiner Maman. Als es nicht mehr auszuhalten ist und sein einziger Freund, der treue kleine »Negerkönig«, aus Vernachlässigung stirbt, bricht Jack aus. Der Junge wandert einen Höllenweg von Paris zu dem Landhaus, wo Maman sich mit dem verbitterten Poeten niedergelassen hat.
Jack gerät vom Regen in die Traufe. Der verkannte Dichter haßt den Kleinen leidenschaftlich. Ida heißt nun »Charlotte« (wegen Goethes Wahlverwandtschaften) und tut alles, um den Zorn ihres hochfahrenden Geliebten zu verbrämen. Der, progressiv gestimmt, befindet, daß nur »dem Arbeiter« die Zukunft gehöre. Daher wird Jack, der Eindringling in diese Liebeshöhle, in einem Eisenhüttenwerk untergebracht. Dort lernt er als Lehrling des Schmiedehandwerks die Hölle einer Fabrik im frühindustriellen Kapitalismus kennen. Er, mit seinen sanften Händen und dieser empfindsamen Natur! Da Jack sich nicht als handwerklich begabt erweist, geht es noch eine Stufe tiefer: Drei Jahre fährt er als Heizer im Maschinenraum eines Transatlantikdampfers. Aus dieser klaustrophobischen Enge kann ihn nur der Alkohol erlösen.
Und doch blitzt Hoffnung auf. Am »Landsitz« der Mutter gibt es einen generösen Landarzt, der sich stets um den kleinen Jack sorgte. Ein guter Mensch. Mit einer engelhaften Enkelin! Auch dieses (stolze, reine, vortreffliche) Mädchen trägt ein schweres Erbe mit sich. Wir fiebern lesend bis zur letzten Seite. Alain Claude Sulzer hat ein Nachwort verfaßt, dem wir entnehmen, daß Daudet sehr reale Vorbilder vor Augen hatte beim Verfassen dieses Romans.
George Sand schrieb im April 1876 an Daudet: »Ich habe Jack verschlungen, ich war danach so schmerzlich berührt, daß ich die folgenden Tage derart betrübt war, als wäre all das wirklich geschehen. Es ist eines jener hervorragenden Bücher, wie ich sie schätze.« Dem ist nichts hinzuzufügen.
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Alphonse Daudet: Jack. Sitten der Zeit. Roman, aus dem Französischen von Caroline Vollmann, Berlin: Die Andere Bibliothek 2022. 696 S., 44 €
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