Alphonse Daudet: Jack. Sitten der Zeit

Hat der »ideale Roman« eigentlich auch eine ideale Länge? Eine banausische Frage, kaum traut man sich, sie zu stellen.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Wenn ein Stück fes­selt und begeis­tert – braucht es dann ein Sei­ten­maß? Soll­te man bei her­vor­ra­gen­der Lite­ra­tur nicht »end­los« wei­ter­le­sen wol­len? Und doch ist es so, daß all­zu dicke Bro­cken abschre­cken. Psy­cho­lo­gisch bleibt es unge­klärt, woher die Freu­de des Lesers rührt, der von einem atem­be­rau­ben­den Mam­mut­werk »end­lich die Hälf­te geschafft« hat. Soll­te er nicht trau­rig sein, daß ein Ende der Lese­freude abseh­bar ist?

Bei der Lek­tü­re von Jack wird man spä­tes­tens auf Sei­te 400 lang­sam – kei­nes­falls aus Des­in­ter­es­se. Man muß es sich jetzt auf­spa­ren, es aus­wal­zen, die Lek­tü­re aus­deh­nen. Es kann doch nicht so bald vor­bei sein? Hat man nicht so vie­le Tage mit »Jack« ver­lebt? Mit ihm gezit­tert, gebangt, aus­ge­hal­ten? Gehofft, gegen alle Wahrscheinlichkeit?

Es ist ziem­lich ver­rückt, daß aus­ge­rech­net Die Ande­re Biblio­thek (bis 2004 von Hans Magnus ­Enzens­ber­ger betreut, her­nach bis 2023 vom umtrie­bi­gen Chris­ti­an Döring, der die Sezes­si­on aus­ge­spro­chen haßt!) die­ses Buch über­set­zen (kon­ge­ni­al! Meis­ter­leis­tung von Caro­li­ne Voll­mann!) ließ und edier­te. Denn: Dau­det war nicht nur Antidrey­fusard und Anti­se­mit (was in die­sem 1876 erschie­ne­nen Roman kaum eine Rol­le spielt), son­dern ver­wand­te auch das »N‑Wort«, und es wird nun unter dem Dach des lin­ken Auf­bau-Ver­lags tat­säch­lich dutzend‑, wenn nicht hun­dert­fach als »Neger« aus­ge­schrie­ben. Nicht aus­zu­den­ken, wenn ein nicht­lin­ker Ver­lag die­se Wiederent­deckung publi­ziert hätte!

Alphon­se Dau­det (1840 – 1897) ist in Deutsch­land ein Unbe­kann­ter. In Frank­reich sind sei­ne Stü­cke bis heu­te Abitur­stoff. Sei­ne Grab­re­de hielt aus­ge­rech­net der Drey­fus-Freund Émi­le Zola. Das vor­lie­gen­de Buch »des Mit­leids, der Wut und der Iro­nie« (bes­ser kann man es kaum sagen) wid­me­te Dau­det sei­nem Lehr­meis­ter Gust­ave Flaubert.

Wir haben es mit einem wasch­ech­ten Ent­wick­lungs­ro­man zu tun. Prot­ago­nist ist »Jack«, der auf Wunsch sei­ner fran­zö­si­schen Mut­ter unbe­dingt als »Dschäck« und nicht als [ʒak] (»ach, die­ses ordi­nä­re Fran­zö­sisch!«) aus­ge­spro­chen wer­den soll. Jack ist das zar­te Kind der Ida de Baran­cy. Ida ist schön, dumm und eitel – und eine fal­sche Grä­fin, eine Frau »mit Ver­gan­gen­heit«. Der Sohn hängt mit abgöt­ti­scher Lie­be an ihr. Natür­lich liebt auch sie ihn – aber er muß doch erzo­gen wer­den, in einem mög­lichst renom­mier­ten Inter­nat! Und schließ­lich benö­tigt auch sie, die­se plap­pern­de Schmet­ter­lings­frau, ihren Entfaltungsraum!

Die katho­li­schen Patres, die Idas Spiel durch­schau­en, leh­nen Jack indi­gniert ab. Er gelangt daher auf ein »Gym­na­si­um«, das eine Erzie­hung für Kin­der rei­cher Poten­ta­ten aus Afri­ka und Asi­en anbie­tet. Jack ist der ein­zi­ge wei­ße Schü­ler unter »Negern« und »jun­gen Mor­gen­län­dern«. Das Inter­nat wird von einem geschäfts­tüch­ti­gen Mulat­ten (­Mon­r­oval) und sei­ner Frau (Decos­tère) gelei­tet. Man wirbt mit der »Metho­de Mon­r­oval-Decos­tère«: Ver­bes­se­rung fremd­län­di­scher oder pro­vin­zi­el­ler Akzen­te durch Stel­lungs­ver­än­de­rung der Laut­organe. Ver­kann­te Genies und geschei­ter­te Gestal­ten unter­rich­ten hier. In einen der hier gestran­de­ten Leh­rer, in den fie­sen, dich­ten­den d’Argenton, wird sich Ida ver­lie­ben. Das wird lebens­lang Jacks Schick­sal bestimmen.

Jack bleibt trotz viel­fa­cher Prü­fun­gen der »rei­ne Tor«. Er hält aus, steckt ein, schon aus Lie­be zu sei­ner Maman. Als es nicht mehr aus­zu­hal­ten ist und sein ein­zi­ger Freund, der treue klei­ne »Neger­kö­nig«, aus Ver­nach­läs­si­gung stirbt, bricht Jack aus. Der Jun­ge wan­dert einen Höl­len­weg von Paris zu dem Land­haus, wo ­Maman sich mit dem ver­bit­ter­ten Poe­ten nie­der­ge­las­sen hat.

Jack gerät vom Regen in die Trau­fe. Der ver­kann­te Dich­ter haßt den Klei­nen lei­den­schaft­lich. Ida heißt nun »Char­lot­te« (wegen ­Goe­thes Wahl­ver­wandt­schaf­ten) und tut ­alles, um den Zorn ihres hoch­fah­ren­den Gelieb­ten zu ver­brä­men. Der, pro­gres­siv gestimmt, befin­det, daß nur »dem Arbei­ter« die Zukunft gehö­re. Daher wird Jack, der Ein­dring­ling in die­se Lie­bes­höh­le, in einem Eisen­hüt­ten­werk unter­ge­bracht. Dort lernt er als Lehr­ling des Schmie­de­hand­werks die Höl­le einer Fabrik im früh­in­dus­tri­el­len Kapi­ta­lis­mus ken­nen. Er, mit sei­nen sanf­ten Hän­den und die­ser emp­find­sa­men Natur! Da Jack sich nicht als hand­werk­lich begabt erweist, geht es noch eine Stu­fe tie­fer: Drei Jah­re fährt er als Hei­zer im Maschi­nen­raum eines Trans­at­lan­tik­damp­fers. Aus die­ser klaus­tro­pho­bi­schen Enge kann ihn nur der Alko­hol erlösen.

Und doch blitzt Hoff­nung auf. Am »Land­sitz« der Mut­ter gibt es einen gene­rö­sen Land­arzt, der sich stets um den klei­nen Jack sorg­te. Ein guter Mensch. Mit einer engel­haf­ten Enke­lin! Auch die­ses (stol­ze, rei­ne, vor­treff­li­che) Mäd­chen trägt ein schwe­res Erbe mit sich. Wir fie­bern lesend bis zur letz­ten Sei­te. Alain Clau­de Sul­zer hat ein Nach­wort ver­faßt, dem wir ent­neh­men, daß Dau­det sehr rea­le Vor­bil­der vor Augen hat­te beim Ver­fas­sen die­ses Romans.

Geor­ge Sand schrieb im April 1876 an ­Dau­det: »Ich habe Jack ver­schlun­gen, ich war danach so schmerz­lich berührt, daß ich die fol­gen­den Tage der­art betrübt war, als wäre all das wirk­lich gesche­hen. Es ist eines jener her­vor­ra­gen­den Bücher, wie ich sie schät­ze.« Dem ist nichts hinzuzufügen.

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Alphon­se Dau­det: Jack. Sit­ten der Zeit. Roman, aus dem Fran­zö­si­schen von Caro­li­ne Voll­mann, Ber­lin: Die Ande­re Biblio­thek 2022. 696 S., 44 €

 

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Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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