Zum ersten verweist Flaig in seiner Lageanalyse zwar auf Zehntausende von Russen, die aus Rußland geflohen sind, um dem Kriegsdienst zu entgehen, der ihnen seit der Teilmobilisierung droht. Aber er spricht mit keinem Wort von den zehntausenden Ukrainern, die sich aus der Ukraine abgesetzt haben, nicht um der möglichen Mobilisierung, sondern um der dort längst praktizierten Zwangsrekrutierung auf offener Straße zu entkommen. Videos, die solche Vorgänge zeigen, hätte er im Internet leicht finden können.
Zum zweiten ist es natürlich richtig, wenn Flaig schreibt, daß die Ukraine ein Recht auf nationale Selbstbestimmung habe. Das ist aber nicht die kriegsentscheidende Frage. Die kriegsentscheidende Frage ist vielmehr die, wie und unter welchen Umständen versucht wird, die nationale Selbstbestimmung gegen die Interessen anderer Staaten durchzusetzen.
Das heißt: Die kriegsentscheidende Frage ist die dem Krieg vorgelagerte Frage nach dem politischen Kalkül in einer konkreten Situation und nach der historisch-strategischen Perspektive, die für die Durchsetzung eines politischen Ziels relevant ist. Auf dieser Ebene geht es darum, ob man ein Ziel mit langem Atem über Generationen hinweg verfolgen will und kann, um kräfteschonend und möglichst konfliktfrei das Ziel zu erreichen; oder ob man der Meinung ist, angesichts einer momentanen Schwäche des Gegners könne man das eigene Ziel im Hauruckverfahren auf Kosten des geschwächten Gegners durchsetzen.
Letzteres birgt zwei Gefahren: Zum einen die Gefahr der Fehleinschätzung, wenn sich nämlich herausstellen sollte, daß der Gegner stärker ist als gedacht; und zum andern die Gefahr des historischen Rückschlags, wenn der im Krieg überwundene Gegner wieder zu Kräften kommt und dann auf eine Revision der Lage hinarbeitet und dafür seinerseits Gewaltmittel einzusetzen bereit ist.
Es geht also um Geduld versus Hast, um langfristige Strategie versus kurzfristigen taktischen Gewinnen, um List versus schiere Gewalt, um Einbindung des Gegners versus Brüskierung, um Gewinn auf allen Seiten oder Verlust auf allen Seiten.
Der »Wertewesten« scheint sich, angeführt von den USA, für die Hast und die schnelle Überwältigung des Gegners entschieden zu haben, den man seit Jahren politisch, ökonomisch und militärisch unter Druck setzt, offenbar mit dem besten Gewissen der Welt, denn man glaubt, die Moral auf seiner Seite zu haben.
Dabei ist die »nationale Selbstbestimmung« die moralische Trumpfkarte, die die strategische Geduld ausgestochen hat. Man möchte alles, und man möchte es jetzt. Und man glaubt es haben zu dürfen, weil die Moral der zentrale Parameter des Handelns ist, der alles rechtfertigt, was der Moral zu entsprechen scheint, und alle anderen für konkretes Handeln relevanten Maßstäbe depotenziert.
Das drängt selbstverständlich von der Logik her auf den Endkampf zwischen dem Guten und dem Bösen, auf ein Harmageddon, nach dem der Welt das ewige Reich des Friedens beschieden sein werde.
Auf dem Weg dahin wird der Gegner freilich an jedem Tag etwas mehr entmenschlicht und etwas mehr kriminalisiert, denn nur so, in der sukzessiven Zurechnung des Gegners zum schlechthin Bösen, kann das eigene Handeln auch dann, wenn es in bestimmten Situationen so böse ist wie das des Gegners, immer noch als gut erscheinen: weil es nur relativ böse ist, den bösen Umständen geschuldet, die, wenn sie denn anders gewesen wären, eine weniger böse Antwort ermöglicht hätten.
So bleibt das eigene Böse als ein relatives immer eine Reaktion auf das absolut Böse, das vom Gegner ausgeht.
Politisch klug ist das nicht und kann es nicht sein, denn die Moral liegt auf einer ganz anderen Ebene als die Politik. Die Moral gibt die absoluten Maßstäbe, die Politik gibt die relativen Maßstäbe für ein situativ angepaßtes Handeln. Wer beides miteinander vermischt, verbiegt die Moral zu einer Heuchelmaschine, die ebenjene Werte als absolute ausspuckt, die von der Politik gerade jetzt, in dieser Situation gebraucht werden.
Oder er verbiegt die Politik zu einer absoluten Moralherrschaft, die kein Zögern und Zaudern, kein Abwägen und kein Seinlassen mehr kennt. Das ist die Situation, in der wir sind. Und eben deshalb wird sie von Woche zu Woche nicht besser, sondern schlechter und böser. Der gordische Knoten wird immer fester gezurrt. Bis dann, wir wissen nicht ob und wann und wie, einer auf die Idee kommt, ihn durchzuhauen.
Es gibt einen Ausweg aus der Lage. Er ist dort zu suchen, wo der Krieg nicht als finales Mittel zur Durchsetzung moralischer Ansprüche legitimiert wird, sondern dort, wo er heimgeholt wird in den politischen Kontext, in den er gehört. Denn seit Clausewitz kann jeder wissen, daß der Krieg die »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« ist, womit Clausewitz meinte:
Der Krieg ist immer ein politischer Akt. Er wird daher nicht auf dem Schlachtfeld begonnen und dort auch nicht beendet, sondern in den Kabinettssälen, in denen die politischen Optionen vor dem Hintergrund langfristiger Überlegungen durchgespielt werden. Dort werden aus der absoluten Moral wieder die relativen Maßstäbe unserer Welt, also die Abwägung zwischen Schaden und Nutzen, zwischen Versöhnung und Haß, zwischen absoluter Moral und relativem Kompromiß.
Große Ziele kann und darf jeder haben, der einzelne Mensch so gut wie jeder Staat. Aber große Ziele begründen nicht immer auch großes Handeln, sondern schlagen allzugerne und allzuoft in kleinliche Maßnahmen um, die gegen die Widerständigkeit der Welt anrennen und jeden Sachwiderstand und jede widerspenstige Person mit Haß verfolgen. Große Ziele, mit anderen Worten, werden um so maßloser, je größer sie sind.
Um das, was hier zu bedenken ist, nocheinmal aus einem fernen Blickwinkel aus zu betrachten, muß man an einen Satz aus Meister Suns Kriegskanon erinnern:
Optimal ist es vielmehr, eine Auseinandersetzung mittels Strategemen oder diplomatischen Mitteln ohne Waffengang zu gewinnen, sodaß die Menschen einen solchen Sieg ohne Waffeneinsatz gar nicht wahrnehmen und natürlich auch kein Lob spenden.
RMH
Bei aller Lust an der Opposition und am Widerspruch zu den täglichen Propagandafanfaren darf man dem Text entgegenhalten, dass man viele der Argumente glattweg spiegeln kann. Moralisierende Aufladung findet auf allen Seiten statt, der Einmarsch in die Ukraine wurde bspw. mit einem Kampf gegen Nazis nicht nur als Nebenargument, sondern als eines der Hauptargumente eröffnet. Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln einschließlich den Regeln der Kriegshege und Dipolmatie war eine europäische Erfindung, die mit dem WK I ihr Ende fand. Sowohl Wahl-Demokratien wie die USA als auch Vielvölkersysteme, wie das in Russland, brauchen offenbar eine moralische, fast manichäische schwarz-weiß Aufladung für einen Krieg, wenn er einmal nicht von kurzer Dauer ist. Das ist schade und ein kompletter Verlust europäischer Kultur. An dieser Entwicklung war neben den USA auch der Staatsvorgänger von RUS, die UdSSR, nicht unschuldig (auch D hat, evtl. als der Hess-Flug gescheitert war und klar war, dass nicht verhandelt wird, extrem ideologisiert). Es wird schwer, zurück an den Verhandlungstisch zu kommen. Es sieht doch eher nach Eskalation aus, egal, was wir hier alle meinen und vertreten. PS: Dass der Autor Flaig die ukr. Deserteure nicht auf dem Schirm hat, mag dem Umstand geschuldet sein, dass dieses Thema erst sehr spät Einzug in die offiz. Medien gefunden hat - ich sehe aber auch keinen Anlass, ihn irgendwie zu rechtfertigen.