Der Krieg in der Ukraine gilt unter Beobachtern schon jetzt als der »technisch anspruchsvollste, den die Welt je gesehen hat« (Prakash Nanda, Overton Magazin). Seinen Charakter als Stellvertreterkrieg offenbart er auch an der Vorführlust namhafter Big-Tech-Firmen, die hochmoderne Waffensysteme großflächig ausprobieren. In diesem Umfang geschah das zuletzt zur Zeit des Spanischen Bürgerkrieges, als man erstmals in Europa den strategischen Bombenkrieg anwandte.
In der Ukraine erlebt die Welt überdies ein privat-staatliches »Joint Venture«, das Geopolitik mit Geschäftsinteresse verbindet. Das gilt beileibe nicht nur für notorische Söldnerfirmen. So stellt Peter Thiels Firma Palantir Technologies der ukrainischen Seite neueste Analyseverfahren auf der Basis von Künstlicher Intelligenz (KI) zur Verfügung, welche in Echtzeit sämtliche Bewegungen auf dem Gefechtsfeld erfassen können und nutzbar machen.
Ähnlich klotzt Elon Musks Starlink-Netzwerk, das die ukrainischen Streitkräfte mit einer stabilen, weltraumgestützten Internetverbindung versorgt. Daneben gaben die türkischen Bayraktar-TB2-Drohnen, vor kurzem noch der Schrecken im Berg-Karabach-Krieg, ein durchwachsenes Stelldichein. Doch auch der russische Kontrahent geht mit und führte der Welt zum erstenmal seine Hyperschall-Rakete Kinschal vor.
Vor lauter Staunen über Big Tech und neben dem bereits einsetzenden Fabulieren über künftige Kriegsroboter geriet eine Bedrohung fast völlig aus dem Gesichtskreis: die Nuklearwaffe. Geradezu old school und wie ein angerostetes Überbleibsel aus dem Kalten Krieg erscheint diese bislang nur einmal (von den USA) eingesetzte Waffe. Der französische Ingenieur und Philosoph Jean-Pierre Dupuy (*1941) plädiert in einer aktualisierten Version seines Buchs La guerre qui ne peut pas avoir lieu. Essai de métaphysique nucléaire« (»Der Krieg, der nicht stattfinden darf. Essay über nukleare Metaphysik«, 2019, überarbeitet 2022) vehement dafür, die Atomwaffe nicht abzuhaken. Der Kalte Krieg habe eine falsche Sicherheit vorgespiegelt, die in der aktuellen Auseinandersetzung zwischen den Großmächten nicht einmal mehr in der Theorie gegeben sei. Das Denken aus der Zeit der »Friedensdividende« müsse schleunigst überwunden werden.
Die Atombombe, dieser kolossale Irrtum (»sophisme monumental«), habe, so führt Dupuy aus, eine besondere Grammatik (»leur propre grammaire«), welche nicht nur im Bereich der politischen Rhetorik anwendbar sei. Gerade vor dem Hintergrund des ihr zugeschriebenen Abschreckungspotentials werde ihr Einsatz zu einer Frage der mathematischen Wahrscheinlichkeit, da Abschreckung maßgeblich auf Glaubwürdigkeit beruhe.
Die Fragen, um die sich alles dreht, lauten wie folgt: Wie glaubwürdig kann hier Glaubwürdigkeit sein? Wie bemißt sie sich in der Realität? Anhand von was läßt sie sich vom Bluff unterscheiden? Denn die Frage nach der Glaubwürdigkeit wird bei einem direkten Zusammenprall der Mächte zur Gefahr – dies um so mehr, je selbstgewisser und sorgloser man ihr gegenübersteht.
An diesem roten Faden hangelt sich Dupuy über die Abgründe des nuklear-strategischen Denkens des Atomzeitalters hinweg. Dabei wiederholt er unter verschiedenen situativen Blickwinkeln folgendes Mantra: Nutzt sich die Glaubwürdigkeit mit der Zeit ab, so ist in einem Kampf um Sein oder Nichtsein zweier Atommächte die nukleare Eskalation zu erwarten, ganz abgesehen von versehentlichen Auslösern wie technischem Versagen oder menschlichen Mißverständnissen. Mittlerweile ist bekannt, wie haarscharf die Welt vor allem in der letzten Phase des Kalten Krieges gerade aus letztgenannten Risiken der Vernichtung entronnen ist.
Um die Syntax der Atombombe besser zu verstehen, nimmt Dupuy den Leser mit auf eine haarsträubende Geisterfahrt durch die nuklearen Strategien, insbesondere des Westens, einschließlich der Atommacht Frankreich. Eine Waffe mit so unvorstellbar apokalyptischem Vernichtungspotential wie die Atombombe zwang die Strategen dazu, in beinahe kafkaesker Manier Vernunft und Wahnsinn stets zusammenzudenken.
Das 1946 gegründete Forschungsinstitut Research and Development (RAND Corporation) verstand sich als das Gehirn der US-Armee, in welchem der Wahnsinn »aus-gedacht« werden sollte. In diesem think tank versammelten (und versammeln) sich geniale wie dubiose Wissenschaftler aus der System- und Spieltheorie, die in ihren Forschungen die Vergeltungs- wie Abschreckungsstrategie der jeweiligen US-Administration mitprägten. Unter ihnen gab es schon früh solche, die den Atomkrieg für nicht führbar hielten, wie Bernard Brodie, der »amerikanische Clausewitz«, und solche, die sich bereits Gedanken für die Zeit nach einem für den Westen siegreich bestandenen Atomkrieg machten, wie Herman Kahn. Sie alle schrieben in diesem nuklearen Sprachlabor mit an der Grammatik der Atombombe.
Zu dieser besonderen Grammatik gehört auch ein Vokabular, das selbstredend aus angelsächsischen Begriffen besteht, in die Dupuy den Leser einführt und die er an historischen Beispielen illustriert. So erfährt man, was Near Miss (Beinahe-Auslösung eines Nuklearschlags) bedeutet, was Brinkmanship (grundsätzliche Fähigkeit, den Atomkrieg zu führen, ohne es zu tun), Mutually Assured Destruction (MAD, gegenseitig zugesicherte Vernichtung als Chiffre für Abschreckung), was Striking Second First (Fähigkeit zum »Erstschlag«, noch bevor zuvor abgeschossene gegnerische Raketen den eigenen Boden erreichen) oder Launch on Warning (Gegenschlag bereits bei Atomalarm) meinen. Viele dieser Begriffe stammen nicht nur aus der technischen »Bedienungsanleitung« solcher Systeme, sondern vor allem auch aus der Drohpropaganda in der Zeit der Abschreckungsdoktrin.
Das immer wieder vorgebrachte Argument der suizidären Wirkung der Atomwaffe für denjenigen, der sie als erster einsetze, entpuppt sich bei Dupuy als recht unwirksames Sedativ. Vor allem in bezug auf die neuerdings mit sträflicher Nonchalance genannten taktischen Atomraketen ist dies ein irreleitender Schluß. Diese sind keine erweiterte Form von Artillerie, sondern eine Waffe mit einer Sprengkraft vom Zwanzigfachen der Hiroshima-Bombe. Es ist die »ideale« Waffe für den Erstschlag, um die Glaubwürdigkeit des Gegners einmalig herauszufordern.
Jean-Pierre Dupuy vergißt nicht, darauf hinzuweisen, daß gerade Rußland sein taktisches Nukleararsenal in den letzten beiden Jahrzehnten modernisiert habe und einiges davon in Königsberg einsatzbereit halte. Ein einziger Einsatz auf dem aktuellen Gefechtsfeld (verheerend genug) würde die Gegenseite (die USA) in einen Zugzwang bringen, in dem nichts weniger als das Weiterbestehen dieser Erde auf dem Spiel stünde, da man sich unweigerlich in eine atomare Kettenreaktion globalen Ausmaßes hineinmanövrierte. Taktische Systeme würden sehr schnell von strategischen abgelöst.
Selbst der französische Staatspräsident Giscard d’Estaing lehnte einen taktischen Einsatz in einem militärischen Planspiel im Keller des Élysée-Palastes im Jahr 1980 mit der Begründung ab, er hoffe damit, einem Überrest an französischer Kultur trotz des in der Übung nicht mehr aufzuhaltenden Einmarsches der Sowjets das Überleben zu ermöglichen.
Was schlägt Jean-Pierre Dupuy angesichts dieser Bedrohungslage vor? Letztlich ist es eine Neuübersetzung des alten römischen Grundsatzes Si vis pacem para bellum. Da die Logik der Abschreckung zu sehr an das sogenannte Gefangenendilemma erinnere, sei sie keine verläßliche Grundlage für das Leben mit der Bombe. Der Vergleich mit dem Gefangenendilemma, einem Modell aus der Spieltheorie, ist naheliegend. In der Situation einer Vernehmung müssen voneinander getrennt vernommene Gefangene allein entscheiden, ob sie ihren Mitgefangenen einen Mißtrauens- oder einen Vertrauensvorschuß gewähren, ohne selbst zu wissen, wie jene sich verhalten werden. Dies beschreibt die prinzipiell ausweglose Situation, in welcher die Bombe die Welt festhält.
Seinen Ansatz, in den die Überlegungen von Dissidenten aus der RAND Corporation (etwa Daniel Ellsberg) mit einfließen, nennt Jean-Pierre Dupuy mit dem intellektuellen Mut der Verzweiflung aufgeklärten Katastrophismus (»catastrophisme éclairé«). Grundlegend für diesen Ansatz ist die Annahme, daß es zu einem Nuklearkrieg kommen werde, vergleichbar mit dem sogenannten stochastischen Faktor aus dem Ersten Weltkrieg, anhand dessen sich der Soldat bei Fortgang des Krieges seinen Tod auf dem Schlachtfeld »ausrechnete«. Nur eine solch maximal pessimistische Annahme, basierend auf der zuvor genannten Besonderheit der Atomwaffe, verleiht den Bemühungen, eine Eskalation zu verhindern, die notwendige Ernsthaftigkeit und Stetigkeit.
Man dürfe das Unvorstellbare nicht für irreal halten, sondern müsse mit ihm rechnen, um es wirksam hinauszuzögern und zwar ad vitam aeternam, wie er sich ausdrückt. Dupuy rettet damit gleichsam ein letztes Stück französischer Aufklärungstradition in das Atomzeitalter.
Maximal pessimistisch in dieser Frage erweisen sich auch Vertreter einer anderen Denkschule, die vor allem in Deutschland beheimatet ist und ihre Wurzeln im Umkreis von Arthur Schopenhauer hat. Lange vor der Atombombe philosophierten Eduard von Hartmann oder Philipp Mainländer über eine letzte Aufhebung von Mensch und Welt aus der Gefangenschaft des Daseins. Die Erfindung der Atombombe hat die Menschheit somit ihrer Erlösung durch Vernichtung einen entscheidenden Schritt vorangebracht.
In diese Richtung bewegt sich auch der zeitgenössische Autor Ulrich Horstmann (*1949). Zwar beklagt er, daß es im heutigen Digitalrausch kein »kollektives Immunsystem« gegenüber dieser Gefahr mehr gebe, doch betrachtet er eine nuklear bewirkte Apokalypse rein soteriologisch, nämlich als Erfüllung der unbewußt »uralte[n] Sehnsucht der Gattung, nicht mehr sein zu müssen« (Ulrich Horstmann: Das Untier, zuletzt Berlin 2016).
Welche Ansicht wird sich durchsetzen? Eine deutsche Übersetzung von Dupuys Büchlein steht aus, wäre aber dringend geboten.