Eine neue Ostkolonisation

PDF der Druckfassung aus Sezession 114/ Juni 2023

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Als ich 1990 als jun­ger Leh­rer in Schwe­rin begann, trat ich mit ande­ren neu­en Kol­le­gen zu einem Vor­trag beim gleich­falls neu­en Schul­rat an, dem ers­ten »demo­kra­ti­schen« nach Wen­de und Wie­der­ver­ei­ni­gung. Auf Herz­lich­keit, gar Ermu­ti­gung war damals nicht zu hoffen.

Im Gegen­teil: Wir Absol­ven­ten der DDR‑, also Ost­uni­ver­si­tä­ten wur­den barsch belehrt, daß unse­re Abschlüs­se jetzt selbst­ver­ständ­lich frag­wür­dig sei­en und wir ja selbst wüß­ten, mit wel­cher ideo­lo­gi­schen Indok­tri­nie­rung wir auf­ge­wach­sen sei­en und stu­diert hät­ten. Von einer siche­ren Per­spek­ti­ve als Leh­rer, das hät­ten wir ein­zu­se­hen, kön­ne nicht die Rede sein.

Gut, wir soll­ten nun zwar zunächst zu arbei­ten begin­nen, aber man müs­se sehen, was mit uns gin­ge und was nicht. Mit Über­prü­fun­gen sei zu rech­nen, man wür­de nicht jeden von uns künf­tig beschäf­ti­gen kön­nen. Der Feh­ler lie­ge bei uns selbst; wir hät­ten doch bes­ser an den Uni­ver­si­tä­ten blei­ben und einen voll­wer­ti­gen Abschluß nach West­recht anstre­ben sol­len, statt uns mit dubio­sen Zeug­nis­sen in den Beruf zu drängeln.

Eine alt­las­ti­ge Indok­tri­nie­rung wur­de uns Ex-DDRlern also unver­blümt unter­stellt; und über die­se »Gesin­nung« wird seit­her öffent­lich geur­teilt – pau­schal ins­ge­samt oder gegen­über ein­zel­nen Prot­ago­nis­ten wie etwa Uwe Tell­kamp, der allein schon wegen sei­ner kri­ti­schen Bemer­kung über Migran­ten kei­ne West­prü­fung mehr bestehen könn­te, per­sön­lich nicht, als Autor schon gar nicht.

West­recht, dach­te ich 1990, na klar; der Wes­ten hat gewon­nen, also jetzt gefäl­ligst nach den Sie­gern der Geschich­te rich­ten. Was immer uns mal Hei­mat gewe­sen sein moch­te, wir hat­ten sie ver­lo­ren. Jeder Mensch sucht zuerst Sicher­heit, noch bevor er viel­leicht so etwas wie Frei­heit oder Demo­kra­tie fin­det. Unse­re Sicher­heit war dahin; wir waren Bei­tritts­ge­biet­ler, ­Ossis eben. Wir hat­ten uns dank­bar dar­über zu freu­en, daß die DDR unter­ge­gan­gen war und uns die Bun­des­re­pu­blik auf­nahm, gewis­ser­ma­ßen als Asy­lan­ten aus einer zwar gleich­spra­chi­gen, aber doch kon­ta­mi­nier­ten Volks­grup­pe. Vol­ker Brauns Gedicht »Das Eigen­tum« stand hoch im Kurs bei uns:

 

Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.

KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.

Ich sel­ber habe ihm den Tritt versetzt.

Es wirft sich weg und sei­ne mag­re Zierde.

Dem Win­ter folgt der Som­mer der Begierde.

Und ich kann blei­ben, wo der Pfef­fer wächst.

Und unver­ständ­lich wird mein gan­zer Text

Was ich nie­mals besaß, wird mir entrissen.

Was ich nicht leb­te, werd ich ewig missen.

Die Hoff­nung lag im Weg wie eine Falle.

Mein Eigen­tum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.

Wann sag ich wie­der mein und mei­ne alle.

 

Klaus Wolf­ram kon­sta­tier­te bei einer Rede vor der Aka­de­mie der Küns­te 2019, wor­in die ers­te Wen­de nach der Wen­de bestan­den hat­te: »Die Gene­ral­aus­spra­che, das poli­ti­sche Bewußt­sein, die sozia­le Erin­ne­rung, alle Selbst­ver­stän­di­gung, die sich eine Bevöl­ke­rung gera­de erobert hat­te, ver­wan­del­te sich in Ent­mün­di­gung und Belehrung.«

Dirk Osch­mann meint, genau das sei eben nichts Ver­gan­ge­nes, son­dern seit­her kon­stant »der gleich­blei­ben­de Stand der Din­ge«. Sein Buch (Der Osten: eine west­deut­sche Erfin­dung, Ber­lin 2023, 224 S., 19,99 Euro) ist eine lei­den­schaft­li­che Pole­mik, ein »J’accuse!«, ein lang unter­drück­ter Schrei. Offen­bar hat der Pro­fes­sor für Neue­re deut­sche Lite­ra­tur an der Uni­ver­si­tät Leip­zig lan­ge an sich gehal­ten, zumal es ihm sonst nicht gelun­gen wäre, der ein­zi­ge Lehr­stuhl­in­ha­ber ost­deut­scher Her­kunft in der Ger­ma­nis­tik zu wer­den. Wor­an sich eben das Pro­blem zeigt: Ost­deut­sche konn­ten sich, aus Grün­den west­deut­scher Domi­nanz, im ver­ei­nig­ten Deutsch­land nicht gleich­wer­tig eta­blie­ren. Sie stel­len heu­te 19 Pro­zent der Bevöl­ke­rung, aber nur 1,7 Pro­zent der Spit­zen­kräf­te in Ver­wal­tung, Juris­pru­denz, Medi­en und Wirtschaft.

Der Grund dafür liegt nach Auf­fas­sung des Wes­tens nicht in Benach­tei­li­gung, son­dern in einem Unver­mö­gen, das Arnulf Baring, von Osch­mann zitiert, so beschrieb: »Das Regime hat fast ein hal­bes Jahr­hun­dert die Men­schen ver­zwergt, ihre Erzie­hung, ihre Aus­bil­dung ver­hunzt. Jeder soll­te nur ein hirn­lo­ses Räd­chen im Getrie­be sein, ein wil­len­lo­ser Gehil­fe. Ob sich heu­te einer dort Jurist nennt oder Öko­nom, Päd­ago­ge, Psy­cho­lo­ge, Sozio­lo­ge, selbst Arzt oder Inge­nieur. Das ist völ­lig egal. Sein Wis­sen ist auf wei­te Stre­cken völ­lig unbrauch­bar. […] vie­le Men­schen sind wegen der feh­len­den Fach­kennt­nis­se nicht wei­ter ver­wend­bar. Sie haben nichts gelernt, was sie in eine freie Markt­wirt­schaft ein­brin­gen können.«

Der Osten war »Bei­tritts­ge­biet«, dem gegen­über, so Baring, »eine lang­fris­ti­ge Rekul­ti­vie­rung, eine Kolo­ni­sie­rungs­auf­ga­be, eine neue Ost­ko­lo­ni­sa­ti­on« erfor­der­lich war. Heu­te gibt es in der Bun­des­re­gie­rung einen »Ost­be­auf­trag­ten«. Osch­mann erin­nert das Wort an Begrif­fe aus dem Drit­ten Reich im Geschmack nega­ti­ver Ost-Stigmatisierungen.

Der Zusatz »Ost« avan­cier­te zum Syn­onym für »das Defi­zi­tä­re, Abwe­gi­ge, Kurio­se, Unnor­ma­le«, das der Wes­ten mit dem Osten ver­band, er kenn­zeich­net ein Milieu, das die dif­fi­zi­le Demo­kra­tie nicht begreift, Eigen­ver­ant­wor­tung nicht wahr­zu­neh­men ver­steht und daher der AfD nach­läuft und ein spie­ßig-pie­fi­ges Nazi­tum ent­wi­ckelt. Patho­lo­gisch und gefähr­lich. Was sie frü­her ver­ächt­lich »Zone« genannt hat­ten, das war jetzt eben »der Osten«. Der Spie­gel erschien 2019 mit einem Cover, das ein schwarz­rot­gol­de­nes Ang­ler­mütz­chen zeig­te und den Leit­ar­ti­kel ankün­dig­te: »So isser, der Ossi. Wie der Osten tickt – und war­um er anders wählt«.

Osch­mann pole­mi­siert dage­gen: »Der Wes­ten redet immer posi­tiv von der Viel­falt der Welt, hält aber in schöns­ter Ein­falt sei­ne eige­ne Per­spek­ti­ve für die ein­zig mög­li­che.« Die Inten­ti­on des Autors liegt nicht dar­in, einen wei­te­ren Ver­such zu unter­neh­men, Ost­deutsch­land als Phä­no­men zu erläu­tern, son­dern zu zei­gen, mit wel­chen »ver­meint­li­chen Deutungsselbstver­ständlichkeiten« der mäch­ti­ge­re und selbst­ge­rech­te Wes­ten sich den nach wie vor schwä­che­ren und ver­zag­ten Osten in sei­ner Wahr­neh­mung mit »her­ri­schem Demo­kra­tie­stolz« kon­stru­iert – teil­wei­se neu­ro­tisch, weil ihm das über die eige­nen Lebens­lü­gen hinweghilft.

Herrsch­te vor der Ver­ei­ni­gung dem Osten gegen­über eher Gleich­gül­tig­keit, so domi­nie­ren nun, meint Osch­mann, Krän­kung und Dif­fa­mie­rung. Das Dilem­ma: »Der Wes­ten aber hat gedacht, er müs­se sich nicht ändern und kön­ne ein­fach Wes­ten blei­ben, wäh­rend zugleich der Osten natür­lich Wes­ten wer­den soll­te, obwohl im sel­ben Moment alles dafür getan wur­de, ihn zum ›Osten‹ zu machen.«

Osch­mann beklagt das nicht ein­fach, er sieht dar­in viel­mehr eine enor­me Gefahr: »Wenn in Deutsch­land über ›Wes­ten‹ und ›Osten‹ nicht grund­le­gend anders gere­det wird, vor allem aber wenn die seit über 30 Jah­ren bestehen­den sys­te­ma­ti­schen Äch­tun­gen und radi­ka­len, wirt­schaft­li­chen und sozia­len Benach­tei­li­gun­gen des Ostens nicht auf­hö­ren, hat die­ses Land kei­ne Aus­sicht auf län­ger­fris­ti­ge und gesell­schaft­li­che Stabilität.«

Es gilt also, end­lich anders über den Osten zu reden, spieg­le sich in dem Pro­blem doch ein »Spe­zi­al­fall der Glo­ba­li­sie­rung«, der sich so all­ge­mein im Ver­hält­nis von West- und Ost­eu­ro­pa oder von West und Ost über­haupt fin­de und im »Reichtums‑, Macht- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­fäl­le« sei­ne Ursa­che habe.

Nun könn­te man mei­nen, der Ver­ei­ni­gungs­pro­zeß lau­fe lan­ge genug und sei abge­schlos­sen. Von Ost und West kön­ne in so dia­me­tra­ler Ent­ge­gen­set­zung längst nicht mehr die Rede sein. Osch­mann jedoch erkennt eine »ver­ste­tig­te Ungleich­heit«, meint ins­be­son­de­re für den aka­de­mi­schen Bereich davon aus­ge­hen zu müs­sen, eine Art »west­deut­scher Tri­ba­lis­mus« rekru­tie­re sich aus eige­nen Seil­schaf­ten, es gehe dabei »nicht um demo­kra­ti­sche Abstim­mung, son­dern um Netz­wer­ke und Stam­mes­vor­sor­ge, um Freund­schaf­ten, Bekannt­schaf­ten, Ähn­lich­kei­ten der Her­kunft, im Habi­tus, in der Welt­wahr­neh­mung, natür­lich geht es außer­dem ganz schlicht um Vet­tern­wirt­schaft, Vit­amin B, Macht­be­haup­tung, Besitzstandswahrung.«

Wenn dem wirk­lich so sein soll­te, wer­den Alt-West­ler das Buch als wie­der­um undank­ba­re und jetzt sogar beson­ders dreis­te Vari­an­te des Ost-Gejam­mers kri­ti­sie­ren, es also miß­ver­ste­hen. Die zwi­schen 1945 und 1975 Gebo­re­nen fin­den aus ihren Rol­len nicht mehr her­aus, weder in Ost noch in West. Der Osten, so meint Osch­mann mit Jür­gen Haber­mas, habe in der DDR kei­ne Öffent­lich­keit gehabt. Nur: Er habe sie nach der Ver­ei­ni­gung immer noch nicht. Also muß er sie erzwin­gen, »bei­spiels­wei­se basis­de­mo­kra­tisch auf der Stra­ße, weil sich kei­ne ande­ren For­men der Kom­mu­ni­ka­ti­on bieten«.

Wo das aber geschieht, heißt es dann vor­wurfs­voll, es gesche­he ten­den­zi­ell von rechts, weil bei der Arti­ku­la­ti­on ost­deut­scher Pro­ble­me längst die AfD die eins­ti­ge PDS beerbt habe.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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