Nachdenken über »die Demokratie« ist en vogue. In einer Zeit, in der Krisen konvergieren und eher vertagt als gelöst werden, ist das naheliegend.
Naheliegend ist auch, daß sich mit Herfried Münkler ein Vorzeigeautor des linksliberalen Establishments zu Wort meldet, um die Richtung vorzugeben. Die Zukunft der Demokratie (Wien 2022, 200 S., 20 Euro) will der emeritierte Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität eruieren, und er gibt zu verstehen, daß diese Zukunft davon abhänge, ob sie durch »engagierte Bürgerinnen und Bürger« aktiv gestaltet werde. Ohne diese Bürger, die nicht nur engagiert, sondern auch »sachlich kompetent« und »urteilsfähig« daherkommen sollen, habe die Demokratie keine Zukunft.
Denn man habe es mit zwei Bedrohungen zu tun: mit einer, die von innen kommt, und mit einer, die uns von außen zusetzt. Wenig überraschend sieht der Westler Münkler die Gefahr von außen im autoritären Politikstil Chinas und Rußlands, und ebenso erwartbar verschweigt er die Bedrohung einer selbstbewußten und selbstbestimmten Demokratie Deutschlands und EU-Europas durch transatlantische Übergriffigkeiten und Abhängigkeiten.
Bemerkenswert hinsichtlich der Gefahr aus dem Inneren ist derweil, daß Münkler zu keinem Zeitpunkt davon auszugehen scheint, daß diese Gefahr »von oben« dräuen könnte, also beispielsweise hervorgerufen durch eine Entgrenzung der Handlungsweisen des Blocks an der Macht. Die Gefahr »von innen« ist für Münkler die Gefahr »von unten«: Populisten könnten Emotionen der Überforderten und Ängstlichen kapern und steuern, um den Eliten Glaubwürdigkeit abzusprechen.
Münkler beklagt überdies eine Mentalität des »Konsumbürgers«, der sich behaglich eingerichtet habe und wenig Interesse an Gestaltung des politischen Raums zeige. Den Zugang zur naheliegenden Idee, die Kraft populistischer Initiativen von links wie rechts als demokratiebelebend zu interpretieren, weil sich in Gestalt dieser Phänomene Bürger für bestimmte Themen einsetzen, verstellt sich Münkler ideologisch motiviert selbst: Denn wer nicht vorbehaltlos die »Narrative« einer linksliberal überwölbten Demokratie teilt, ist für ihn uninteressant.
Medien- und politikkompetent sind nach Ansicht des Rezensenten für Münkler nur jene Bürger, die dem Mainstream folgen. Zwar konkludiert er, daß eine Demokratie ohne Engagement nicht überlebensfähig sei, aber zu deutlich wird, daß er darüber verfügen möchte, welches Engagement akzeptabel und welches nicht akzeptabel (weil populistisch) sei. Münklers Türsteherrolle ist offensichtlich und damit der Lesefreude abträglich.
Eine solche kommt kurz auf, wenn man die Streitschrift Mehr Demokratie wagen (Berlin 2023, 158 S., 22 Euro) konsultiert. Willy Brandts publikumswirksamen Slogan »Wir wollen mehr Demokratie wagen« greifen der politische Ökonom Bruno S. Frey und der Historiker Oliver Zimmer in der Absicht auf, ihn angesichts der Herausforderungen der Gegenwart zu aktualisieren. Wichtige Sentenzen pflastern die Hinführung zum Thema. So gebe es etwa ohne »Bekenntnis zu einem kollektiven Selbst keine partizipatorische Demokratie«.
Zu dieser beteiligungsoffenen Demokratie zählen ferner das Vorhandensein einer realen »Alternative«, eine thematisch »kontrovers geführte Diskussion« oder die Möglichkeit, »zwischen den großen Wahlen demokratisch zu intervenieren«. Zu diesen realpolitischen Einsichten gesellen sich geschichtspolitische Erkenntnisse: Die moderne Demokratie und das »nationalistische« Ideal der Volkssouveränität seien historische Zwillinge; gegen diese Vermählung aus Nation / Volk und Selbstbestimmung hätten insbesondere »konservative Liberale« gekämpft. Doch was folgt aus diesem korrekten Blick ins Gestern für das zu gestaltende Morgen?
Dem Anlauf zu dem, was folgen soll, begegnet der Leser erst ab Seite 91, also nach mehr als der Hälfte des Buches. Da heißt es, die Autoren strebten danach, »aus den herkömmlichen Debatten herauszukommen und neue Ideen vorzubringen«. Allein, es bleibt bei diesem couragiert formulierten Anspruch: Favorisierte Typen eines modernen Föderalismus, die grenzüberschreitend funktionieren, sind nicht wirklich »neu«; Vorschläge, öfters das politische Los entscheiden zu lassen, wirken aufmerksamkeitserregend, aber wenig substantiell. Wenn Frey und Zimmer dann noch den Universaljoker »Dezentralisierung« als wirksame Waffe feilbieten, um »Demokratie und Liberalismus« zu stärken, »münklert« es sehr. Spätestens aber, als die Frage nach »Inklusion von Stimmberechtigten« aufgeworfen wird, »die bislang nicht über das aktive Wahlrecht verfügen, wie z. B. Menschen unter 16 Jahren«, wird die Lektüre fad.
Das kann man von einem dritten anzuzeigenden Band nicht behaupten. Gertrude Lübbe-Wolff gelingt es mit Demophobie (Frankfurt a. M. 2023, 212 S., 24,80 Euro) nicht nur, ihre selbstgestellte Frage aus dem Untertitel – Muss man die direkte Demokratie fürchten? – zu beantworten (Spoiler: muß man nicht), sondern auch kluge Argumentationsstränge für sowohl theoretisch als auch praktisch tätige politische Akteure darzulegen.
Demophobie ist ein »von einer Juristin verfaßtes, aber kein juristisches Buch«, wie die ehemalige Bundesverfassungsrichterin (2002 bis 2014) einleitend darstellt. Das Buch ist politisch-konkret und wartet mit überdurchschnittlich ausufernden Fußnoten auf. Läßt man sich bei der Lektüre davon nicht stören, liest man die konstruktivste Studie zur direkten Demokratie der letzten Jahrzehnte, deren Anhang zur Terminologie kluge Definitionen zum eigenständigen Weiterarbeiten bietet.
Worum geht es der Autorin? Sie will Fakten zusammentragen und in einen Kontext stellen, um gegen »ideologische Rückstände einer Demophobie« (als Furcht vor dem Volk) zu argumentieren. Zwar sieht sie in direktdemokratischen Prozessen – direktes Abstimmen der Bürger über Sachfragen – kein Allheilmittel. Sehr wohl aber geht Lübbe-Wolff davon aus, daß die Interessen der Menschen durch einen Ausbau direktdemokratischer Institutionen gestärkt und direktdemokratische Ergänzungen des repräsentativdemokratischen Modells den Bürgersinn vermehren würden.
Daß aber die direkte Demokratie, wie auch immer man sie im Detail ausgestalten würde, auf »großer« Ebene in Deutschland, also jenseits der Kommunen und Länder, wenig Fürsprecher findet, liegt für Lübbe-Wolff insbesondere an den vermeintlich plebiszitären Zügen der NS-Zeit. Die politischen Eliten der frühen BRD hätten sich selbst dadurch entlastet, daß man dem »gemeinen Volk« den Schwarzen Peter für die Entwicklungen zugeschoben habe. Sie widerspricht hierbei Ernst Fraenkel, der den »plebiszitären Typ der Demokratie« als einen Grund für den Sieg des Nationalsozialismus denunzierte. Lübbe-Wolff zeigt: So war es keineswegs. Die NS-Machteroberung war ein mehrschrittiger Prozeß; direktdemokratische Initiativen spielten die geringste Rolle. Doch ungeachtet der historischen Fakten hat sich die Furcht vor dem Volk und seinen emotionalen Aufwallungen, die von Hitler und Co. genutzt wurden, in die Volkspsychologie eingeschrieben.
Die Autorin macht sich hernach in einer Art FAQ-Auflistung an die größten Mythen zur direkten Demokratie und entkräftet diese Stück für Stück mit Studien und Berichten von Praxisversuchen, insbesondere aus der Schweiz. Zu den Mythen zählen »Direkte Demokratie ist unsozial«, »Ja-Nein-Entscheidungen sind zu simpel«, »Direkte Demokratie gefährdet Minderheiten« oder auch »Das Volk wird rechtslastige oder zumindest konservative Entscheidungen treffen«. Insbesondere die beiden letztgenannten Themen sind für uns relevant: Wie würden denn unsere Mitbürger abstimmen, wenn es eine Volksabstimmung gäbe, ob man »Rechtsextremisten« die Grundrechte entziehen sollte, während die Definition, was »Rechtsextremisten« seien, dem politmedialen Mainstream überlassen wäre?
Und: Wählt das Volk denn wirklich tendenziell »rechtslastig«? Lübbe-Wolff trägt zahlreiche Beispiele von den Eidgenossen zusammen, die nachdrücklich veranschaulichen, daß trotz aller Finanzpotenz in Wahlkampagnen die Schweizerische Volkspartei (SVP), die der AfD ähnelt, oftmals unterliegt. Nicht zuletzt die kenntnisreiche Darlegung, wie »Rechtspopulisten« bei unseren Nachbarn mit der direkten Demokratie umgehen, sollte jeden konservativen bzw. rechten Leser hierzulande interessieren. Auch wer den relativen Optimismus Lübbe-Wolffs nicht teilt, was die Erkenntnisfähigkeit vieler Mitbürger betrifft, wird in dem vorliegenden Band viele Aspekte politischer Denkarbeit vorfinden, die es verdienen, diskutiert zu werden.