Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Wir, die Eltern, hatten uns vor fast dreißig Jahren kennengelernt über eine Serie in der Jungen Freiheit: „JF-Autoren über ihre Lieblingsschriftsteller.“ Kubitschek war damals Redakteur, ich war Beiträgerin. Über Knut Hamsun kamen wir in Kontakt.
Als Eltern war es uns wichtig, den Kindern eine gewisse Liebe zum Buch mitzugeben. Das bespricht/ beschließt man nicht, es ergibt sich einfach aus den eigenen Vorlieben und Leidenschaften. Wir haben beide „Deutsch, Lehramt“ fertigstudiert. Sprich, wir waren per se „Leseratten“.
Wir haben den Kindern von klein auf vorgelesen oder, vorher, Bilderbücher gezeigt. Nie war das ein „Vorhaben“; es ergab sich natürlich.
Ich erinnere mich an einen langen, schlimmen Krankenhausaufenthalt mit einer Tochter, die damals knapp zwei Jahre alt war und das Bett nicht verlassen durfte. Irgendwann waren alle Lieder gesungen, alle Fingerspiele gespielt. Ich habe nie über mobile Bildschirmgeräte verfügt – Bilderbücher waren die Rettung. Es hat uns enorm zusammengeschweißt – das ausführliche Reden über das, was man sieht! Der gemeinsame Gang in andere Welten! Das gemeinsame Als-ob-denken!
Rod Dreher erzählt in seinem neuen Buch Lebt nicht mit der Lüge! von einer berufstätigen, akademischen Dissidentin, die ihren Kindern Tag für Tag zwei bis drei Stunden vorgelesen habe. Gewiß ein zu hehres Ziel. Die rituelle halbe Stunde allabendlich sollte aber drin sein! Sich mit den Kindern in einen Text zu versenken – das ist Bindung pur. Bindung wohlgemerkt vor Bildung! Welche Bücher sich klassischerweise – nach Alter sortiert – besonders zum Vorlesen eignen, habe ich hier zusammen mit Caroline Sommerfeld aufgeschrieben.
Erst spät habe ich Leute kennengelernt, die ihren Kindern absichtlich nicht vorlesen. Sie halten es für eine moderne und mithin schädliche Art der Frühintellektualisierung. Das ist durchaus ein interessanter Gesichtspunkt: Die Buchstabenwelt ist nicht die reale Welt, sie ist ein Phantastikum. Heute, da uns digitale Medien umgeben, ist der Unterschied zwischen „Real Life“ und „Performed Life“ offensichtlich, insofern zündet dieses buchskeptische Argument durchaus. Also: Bücher adé?
Kommt gar nicht in Frage! „Herz, Hirn, Hand“ – das scheint mir ein gültiger Erziehungsmaßstab zu sein. Pestalozzi, der großartige Erzieher und Reformer des ausgehenden 18. Jahrhunderts, sagte „Kopf“ statt „Hirn“; das ist zwar (schön) weniger biologisch, aber letztlich zündet die Alliteration.
1. Herz: Herzensbildung resultiert normalerweise aus dem Religiösen – oder, im agnostischen Fall, aus romantischem Überschwang oder vernunftmäßiger Abwägung. Sie geht, so oder so, allem anderen voraus. Sie wird auch nicht angelernt, zumindest nicht in erster Linie. Sie wird vorgelebt, nämlich:
Wir stellen uns vor die Schwächeren, wenn keiner es tut; wir widersprechen, wo Unrecht geschieht; wir helfen denen, die nirgends Hilfe erhalten; wir schreiten ein, wenn andere nur zuschauen; wir sind die, die im Zweifelsfall hingehen.
Womöglich (wer kann es schon wissen?) sind wir keine besonders guten Eltern. Zuviel Streß, den Kindern zuviel soziale Aussetzung zugemutet. Herzensbildung jedenfalls war eine Hauptsache. DAS wenigstens sollten die Kinder mitbekommen haben – daß wir nie aus Feigheit oder nüchterner Abwägung danebenstehen.
Ich meine: Unsere Kinder haben gelernt aufzustehen, auch, wenn es keiner sonst tut. Um Sophie Scholl zu bemühen: Man sollte ein weiches Herz und einen harten Verstand haben.
2. Hand: Es ist wichtig, daß die Kinder wirklich was können, was Handfestes. Das kann sein: ein Moped zu reparieren; eine kalligraphische Schrift zu verfertigen; ein Kleid zu nähen; wissen, wie man melkt; einen Zaun zu bauen; ein Buch zu binden; einen Reifen zu flicken; Brot zu backen; eine Lehmwand zu verputzen, Holz zu hacken, ein Pferd bändigen.
Wirksamkeit lernen unsere Kinder per Handarbeit, das ist ganz simpel! Drei unserer Kinder haben dennoch ein geisteswissenschaftliches Studium abgeschlossen oder sind gerade dabei. Man wird sehen, ob und wie es fruchtet. Handfest sind sie jedenfalls alle.
3.Hirn: Logisch sollen unsere Kinder lesen! Die jüngste Tochter befindet sich gerade an der Schwelle zwischen Kinder- und Jugendliteratur und erwachsener Lektüre. Das ist eine ungemein spannende Zeit, die ich natürlich schon mehrfach erlebt habe. Bislang habe ich, haben wir allen Kindern über diese Schwelle helfen können. Und: keine Ahnung, ob sie es auch ohne unseren Zuspruch, ohne uns als „Wegweiser“ geschafft hätten!
Unser Sohn überschritt vor etwa vier Jahren diese Schwelle und liest nun wie ein Erwachsener. Er kann beispielsweise über sämtliche Romane von T.C. Boyle Rapport leisten, las aber auch Kracht und Kopetzky und Hesse.
Die jüngste Tochter ist ein echtes Nesthäkchen und Dorfkind. Sie schläft von Frühjahr bis Herbst draußen und liest alles kurz & klein. Das regionale Wochenblatt, die Junge Freiheit, die Tagespost, Eigentümlich Frei. (Nein: Nicht die Sezession.) Alles natürlich auszugsweise. Alles wandert grob sortiert in ihren Kopf. Alles sorgt für Diskussionsbedarf, und dann wird palavert…
Gerade versuche ich sie für „echte Literatur“ zu interessieren. Das ist nicht ganz einfach. Es ist ja sehr bequem ???Kids zu konsumieren oder Harry Potter. Ihre zeitgenössische Lieblingsautorin heißt Martina Wildner. Ich goutiere diese Auswahl. Über sämtliche Bände von Anne auf Green Gables haben wir diskutiert. Auch über „linke“ Werke wie die von Pausewang, Nöstlinger, Kurt Wild, Lisa Tetzner etc. Vieles daran ist ja wirklich ganz gut.
Sie will nichts lesen, was sie deprimiert, sie weist es entschieden zurück. Das ist ein schmaler Grat, den man erkunden muß. Pausewangs teils echt apokalyptische Bücher las sie nämlich gern, auch (jetzt kommen wir zur erwachsenen Lektüre) Hauptmanns Bahnwärter Thiel. Logisch auch Ebner-Eschenbachs Krambambuli und Die Spitzin. Das sind ja so Stücke, die man den Kindern einfach vorlesen muß! Bei Michael Kohlhaas stieg sie nach einem Viertel aus – zu lange Sätze, zu vertrackt. Balladen gehen hingegen fast immer.
Die Tochter ist nun zwölf und tut, was man in diesem Alter eben so tut. Pferde, Jungs, Widerspruch. Sie „will es wissen“, und das ist sehr gut so! Ich bringe ihr gerade bei, daß es immer, in allen Fällen und auf allen Ebenen darum geht, Widerständen klug zu begegnen. Kinder müssen ihre Schmerzpunkte erkunden – und genau dort weitermachen. Dort, wo das eigene Denken beginnt.
Begabte Jugendliche landen heute bei der “Letzten Generation“- weil sie zu früh auf den bequemen, öffentlich gepamperten Weg abgebogen sind. Unsere Kinder aber müssen den dornigeren Weg liebenlernen. Das ist sehr anstrengend. Wir müssen sie unterstützen! Die gute Lektüre ist ein eminent wichtiger Baustein.
Wichtig erscheint mir, daß unsere Vorlesestunden bleiben. Dieser Kontakt prägt über die ausgewählte Literatur das Gemeinsame. Und das ist es ja – was bleibt.
Das ist anstrengend, ja. Ich habe mit den Großen auch The Catcher in the Rye, Lord of the Flies, The Third Man gemeinsam gelesen. Aus diesen fordernden Lektüren sind unglaublich viele “Insider”-Witze geblieben. Zuletzt nun, ähnlich schwierig wie Fremdsprachiges: Hartmann von Aue. Alles kein Zuckerschlecken. Das klappt vermutlich nur, wenn diese Lese(halb)stunden von klein auf etabliert werden und die Kinder längst gemerkt haben, daß am Ende etwas Tolles resultiert.
Dies alles kostet Zeit. Eigentlich hätte man ja so viel (anderes) zu tun im Alltag. Es kostet Geduld. Langmut, die Zusammenhänge zu erklären, Bockigkeit auszuhalten. Mit eigener Begeisterung zu ermuntern, zu überbrücken, wenn es stockt. (Eine Tochter hatte zu unserer Verblüffung das Lesen mal zwei, drei Jahre fast eingestellt. Wir nahmen es halbwegs hin, da sie künstlerisch enorm kreativ war. Nun, ein Jahrzehnt später, schließt sie gerade ihr Studium ab: als Germanistin.)
Mit Politik hat all dies gar nichts zu tun. Es ist ein Aufbau von innen. Ich sage: Er lohnt sich.
Heinrich Loewe
"...Widerständen klug zu begegnen." Was für ein wahres Wort und Maßgabe für jeden Menschen! Klugheit ist nicht umsonst die an erster Stelle stehende Kardinaltugend. Mein Wort ist stets: "Klug sein heißt nicht Recht behalten wollen (auch wenn man objektiv im Recht ist)."