Allerdings gerade nicht die – institutionell vollzogene – Einheit, sondern das Nicht-Zusammenfinden von Ost und West, die versinkende DDR, deren Bevölkerung nolens volens in einem Sonderstatus verblieb oder diesen zugeschrieben bekam. Die aus Westdeutschland stammende Publizistin Cora Stephan, die das Geschehen im Sommer vor der Wiedervereinigung von Schwerin aus beobachtete, legt hier insgesamt sieben Texte vor.
Fünf umfangreichere entstanden zwischen 1990 und 1994. Stephans Beobachtungen und Überlegungen zeigen vor allem, daß die wieder stärker spürbaren Ost-West-Unterschiede zwischenzeitlich lediglich überlagert waren. Die Frage, ob dies zu Beginn der neunziger Jahre durch eine Art »Weichenstellung« auf einen anderen Weg hätte gebracht werden können, ist müßig. Ein entsprechender Wille war, folgt man Stephan, in erster Linie westdeutscherseits kaum spürbar.
Anhand der unmittelbaren Eindrücke in Schwerin beklagt sie etwa das Ausbremsen von Mittelstandsinitiativen nach dem Ende der SED-Herrschaft durch lange ungeklärte Eigentumsfragen. Die örtliche Treuhand habe einen denkbar schlechten Eindruck hinterlassen, diese »nur schwach legitimierte Sachbearbeiterzusammenrottung verweigerte sogar das Gespräch mit den gewählten Volksvertretern«. Stephan erfuhr mehrfache Schübe des »Zonenkollers«, der Blick aus Mecklenburg war ein anderer als der aus Bonn. Als gravierendes Problem benennt sie die nicht hergestellte Öffentlichkeit für die »Komplexität der Lage der DDR«.
Der große Jubel über die Einheit, vor allem im Westen, sei ausgeblieben. Die »antifaschistische Vorstellungswelt« habe mit der Zweiteilung gut gelebt, sie diente ihr als »Fluchtpunkt, an dem man sich vergewissern konnte, daß man nicht Deutschland, nicht deutsch war und deshalb nicht verantwortlich für dessen Geschick«. Das Ende der »Nachkriegssituation« sei als »Identitätskrise« wahrgenommen worden. In diesem Sinne interpretiert Stephan den in dieser Zeit weitverbreiteten Wunsch, einen Schlußstrich unter die »Stasi-Debatte« zu ziehen, als Möglichkeit, einen auch für viele im Westen »Identität stiftenden Mythos der DDR« zu erschaffen, der besagen sollte, die DDR sei bei allen »Nachteilen doch wenigstens ein Hort des Antifaschismus gewesen«.
In dem über das DDR-Thema hinausgreifenden Essay »Politik und Moral« moniert Stephan die entsprechenden Veränderungen in Sprache und Gebaren. So die unklare, damals sehr präsente Forderung nach »Versöhnung«. Oder die oft widersinnige, eher Ängste erzeugende Beschwörung des Gemeinsinns (»Das geht alle an«). Dies sei der Idee des Gemeinwohls abträglich, welches nicht immer mit eigenen Interessen gleichzusetzen ist.
Flankiert werden die älteren Texte von einem Nachruf auf die von Stephan geschätzte Journalistin und spätere MV-Landesministerin Regine Marquardt sowie von einem Loblied auf die sensiblen »Spürnasen mit DDR-Hintergrund«, die den »faulen Dunst« der Gegenwart verläßlicher riechen als die Westdeutschen. In manchem Landstrich liest man das gern.
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Cora Stephan: Im Drüben fischen. Nachrichten von West nach Ost, Dresden: edition buchhaus loschwitz 2022. 120 S., 17 €
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