David Wengrow: Was ist Zivilisation?

Wenn in einem englischsprachigen Buch der Begriff »Zivilisation« vorkommt, sind Irritationen bei den deutschen Lesern vorprogrammiert; zumindest dann, wenn sie die im Ersten Weltkrieg kultivierte und von Spengler populär gemachte Unterscheidung von Zivilisation und Kultur im Kopf haben.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Wenn in einem eng­lisch­spra­chi­gen Buch der Begriff »Zivi­li­sa­ti­on« vor­kommt, sind Irri­ta­tio­nen bei den deut­schen Lesern vor­pro­gram­miert; zumin­dest dann, wenn sie die im Ers­ten Welt­krieg kul­ti­vier­te und von Speng­ler popu­lär gemach­te Unter­schei­dung von Zivi­li­sa­ti­on und Kul­tur im Kopf haben.

Dem­nach ist Zivi­li­sa­ti­on eine äußer­li­che, inhalt­lich ent­leer­te Schwund­stu­fe von Kul­tur. Des­we­gen spricht man im Deut­schen auch von den frü­hen Hoch­kul­tu­ren, wenn, wie im vor­lie­gen­den Buch, von Ägyp­ten und Meso­po­ta­mi­en die Rede ist.

Wen­grow, der im letz­ten Jahr durch sein gemein­sam mit dem Linksan­ar­chis­ten David Grae­ber ver­faß­tes Buch Anfän­ge. Eine neue Geschich­te der Mensch­heit bekannt wur­de, ist ein Archäo­lo­ge, der sich einer kämp­fe­ri­schen Wis­sen­schaft ver­schrie­ben hat. Ihm geht es zwar vor­der­grün­dig dar­um, dar­zu­stel­len, »wie es gewe­sen ist«. Grund­sätz­lich ver­folgt er mit sei­nem Buch aber das Ziel, den gegen­wär­ti­gen Ent­wick­lungs­pro­zeß unse­rer Zivi­li­sa­ti­on zu beein­flus­sen: »Revo­lu­tio­nä­res Den­ken erfor­dert zu allen Zei­ten und an allen Orten ein Gespür sowohl für die Natür­lich­keit der eige­nen Zie­le als auch für die Unna­tür­lich­keit des­sen, was es umstür­zen will.«

Ein­lei­tend hat er sich kei­nen Gerin­ge­ren als Samu­el Hun­ting­ton und des­sen The­se vom Kampf der Zivi­li­sa­tio­nen als Geg­ner aus­ge­sucht. Der war bekannt­lich der Mei­nung, daß wir das Ent­ste­hen eines neu­en Stam­mes­den­kens, einer neu­en Bedeu­tung der Iden­ti­tät erle­ben und gera­de nicht – wie Fuku­ya­ma behaup­tet hat­te – auf dem Weg in einen libe­ra­len Welt­staat sind. Die Gegen­wart hat Hun­ting­ton zwei­fel­los recht gege­ben. Wen­grow will aber zei­gen, daß die­ser gegen­wär­ti­ge Zustand kei­ne Ent­spre­chung bei den frü­hen Hoch­kul­tu­ren hat, was Hun­ting­ton am Ran­de sei­ner Argu­men­ta­ti­on behaup­tet hat­te. Mit ande­ren Wor­ten: Wir erle­ben gera­de kei­ne Rück­kehr des Natürlichen.

Wen­grow arbei­tet im ers­ten Teil des Buches anhand ver­schie­de­ner archäo­lo­gi­scher Fun­de zahl­rei­che Gemein­sam­kei­ten zwi­schen den Hoch­kul­tu­ren Ägyp­tens und Meso­po­ta­mi­ens her­aus. Bei­de sei­en in einem frü­hen »Kes­sel der Zivi­li­sa­tio­nen« ent­stan­den. Gemein­sa­me Ritua­le und Vor­lie­ben die­nen ihm dazu als Beleg (inwie­weit es sich dabei um anthro­po­lo­gi­sche Kon­stan­ten han­delt, wird nicht näher erör­tert). Tat­säch­lich gab es schon in frü­hes­ter Zeit durch den Han­del mit sel­te­nen und begehr­ten Waren und Roh­stof­fen Aus­tausch zwi­schen den Kul­tu­ren, ohne daß sich damit der Unter­schied zwi­schen ihnen ver­wischt hätte.

Letzt­end­lich muß Wen­grow zuge­ben, daß es bedeu­ten­de Unter­schie­de zwi­schen bei­den Hoch­kul­tu­ren gab, die sich vor allem in den ver­schie­de­nen Vor­stel­lun­gen vom sakra­len König­tum und dem durch den Toten­kult unter­schied­lich ent­wi­ckel­ten urba­nen Leben nie­der­schlu­gen. Dort, wo es zu Über­nah­men von zen­tra­len Ideen und Prak­ti­ken kam, waren die »inter­nen Anfor­de­run­gen der auf­stre­ben­den Eli­ten« dafür ver­ant­wort­lich. Ein durch­aus übli­ches Mus­ter, das gera­de nicht geeig­net ist, Hun­ting­tons The­se von der man­geln­den Inter­ak­ti­on der frü­hen Hoch­kul­tu­ren zu widerlegen.

War­um sich Wen­grow den­noch der Mühe unter­zo­gen hat, kann man anhand des zwei­ten Teils des Buches (»Das Ver­ges­sen des Anci­en régime«) ver­mu­ten. Es geht um die Recht­fer­ti­gung gegen­wär­ti­ger poli­ti­scher Zie­le durch Ver­wei­se auf die Ver­gan­gen­heit. Alt­ori­en­ta­li­sche Über­lie­fe­rung soll­te zeit­ge­mä­ßes Han­deln legi­ti­mie­ren. Die Alter­tums­for­schung sei also aus dem Bedürf­nis her­aus ent­stan­den, die Ver­fas­sungs­kri­sen des 15. und 16. Jahr­hun­derts durch Anlei­hen bei der Ver­gan­gen­heit in den Griff zu bekommen.

Das mün­de­te schließ­lich in die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on, die eine für das nach­an­ti­ke Euro­pa völ­lig neue Regie­rungs­form mit sich brach­te und das Ende des dynas­ti­schen Rei­ches, das sei­nen Ursprung in Ägyp­ten hat­te, bedeu­te­te. Ent­spre­chend sei Napo­le­ons Mis­si­on nach Ägyp­ten zu ver­ste­hen, die auch dort, am Ursprung des König­tums, das Zeit­al­ter der Demo­kra­tie ein­läu­ten woll­te. Daß Wen­grow die Tat­sa­che, daß sich Napo­le­on wenig spä­ter zum Kai­ser der Fran­zo­sen krön­te und dabei auf anti­ke For­men zurück­griff, nicht in ähn­li­cher Wei­se the­ma­ti­siert, zeigt die Wirk­sam­keit der ideo­lo­gi­schen Bril­le, die der Autor trägt.

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David Wen­grow: Was ist Zivi­li­sa­ti­on? Die Zukunft des Wes­tens und der alte Ori­ent, Stutt­gart: Klett-Cot­ta 2023. 236 S., 25 €

 

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Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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