Wenn in einem englischsprachigen Buch der Begriff »Zivilisation« vorkommt, sind Irritationen bei den deutschen Lesern vorprogrammiert; zumindest dann, wenn sie die im Ersten Weltkrieg kultivierte und von Spengler populär gemachte Unterscheidung von Zivilisation und Kultur im Kopf haben.
Demnach ist Zivilisation eine äußerliche, inhaltlich entleerte Schwundstufe von Kultur. Deswegen spricht man im Deutschen auch von den frühen Hochkulturen, wenn, wie im vorliegenden Buch, von Ägypten und Mesopotamien die Rede ist.
Wengrow, der im letzten Jahr durch sein gemeinsam mit dem Linksanarchisten David Graeber verfaßtes Buch Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit bekannt wurde, ist ein Archäologe, der sich einer kämpferischen Wissenschaft verschrieben hat. Ihm geht es zwar vordergründig darum, darzustellen, »wie es gewesen ist«. Grundsätzlich verfolgt er mit seinem Buch aber das Ziel, den gegenwärtigen Entwicklungsprozeß unserer Zivilisation zu beeinflussen: »Revolutionäres Denken erfordert zu allen Zeiten und an allen Orten ein Gespür sowohl für die Natürlichkeit der eigenen Ziele als auch für die Unnatürlichkeit dessen, was es umstürzen will.«
Einleitend hat er sich keinen Geringeren als Samuel Huntington und dessen These vom Kampf der Zivilisationen als Gegner ausgesucht. Der war bekanntlich der Meinung, daß wir das Entstehen eines neuen Stammesdenkens, einer neuen Bedeutung der Identität erleben und gerade nicht – wie Fukuyama behauptet hatte – auf dem Weg in einen liberalen Weltstaat sind. Die Gegenwart hat Huntington zweifellos recht gegeben. Wengrow will aber zeigen, daß dieser gegenwärtige Zustand keine Entsprechung bei den frühen Hochkulturen hat, was Huntington am Rande seiner Argumentation behauptet hatte. Mit anderen Worten: Wir erleben gerade keine Rückkehr des Natürlichen.
Wengrow arbeitet im ersten Teil des Buches anhand verschiedener archäologischer Funde zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens heraus. Beide seien in einem frühen »Kessel der Zivilisationen« entstanden. Gemeinsame Rituale und Vorlieben dienen ihm dazu als Beleg (inwieweit es sich dabei um anthropologische Konstanten handelt, wird nicht näher erörtert). Tatsächlich gab es schon in frühester Zeit durch den Handel mit seltenen und begehrten Waren und Rohstoffen Austausch zwischen den Kulturen, ohne daß sich damit der Unterschied zwischen ihnen verwischt hätte.
Letztendlich muß Wengrow zugeben, daß es bedeutende Unterschiede zwischen beiden Hochkulturen gab, die sich vor allem in den verschiedenen Vorstellungen vom sakralen Königtum und dem durch den Totenkult unterschiedlich entwickelten urbanen Leben niederschlugen. Dort, wo es zu Übernahmen von zentralen Ideen und Praktiken kam, waren die »internen Anforderungen der aufstrebenden Eliten« dafür verantwortlich. Ein durchaus übliches Muster, das gerade nicht geeignet ist, Huntingtons These von der mangelnden Interaktion der frühen Hochkulturen zu widerlegen.
Warum sich Wengrow dennoch der Mühe unterzogen hat, kann man anhand des zweiten Teils des Buches (»Das Vergessen des Ancien régime«) vermuten. Es geht um die Rechtfertigung gegenwärtiger politischer Ziele durch Verweise auf die Vergangenheit. Altorientalische Überlieferung sollte zeitgemäßes Handeln legitimieren. Die Altertumsforschung sei also aus dem Bedürfnis heraus entstanden, die Verfassungskrisen des 15. und 16. Jahrhunderts durch Anleihen bei der Vergangenheit in den Griff zu bekommen.
Das mündete schließlich in die Französische Revolution, die eine für das nachantike Europa völlig neue Regierungsform mit sich brachte und das Ende des dynastischen Reiches, das seinen Ursprung in Ägypten hatte, bedeutete. Entsprechend sei Napoleons Mission nach Ägypten zu verstehen, die auch dort, am Ursprung des Königtums, das Zeitalter der Demokratie einläuten wollte. Daß Wengrow die Tatsache, daß sich Napoleon wenig später zum Kaiser der Franzosen krönte und dabei auf antike Formen zurückgriff, nicht in ähnlicher Weise thematisiert, zeigt die Wirksamkeit der ideologischen Brille, die der Autor trägt.
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David Wengrow: Was ist Zivilisation? Die Zukunft des Westens und der alte Orient, Stuttgart: Klett-Cotta 2023. 236 S., 25 €
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