Andreas Rödder: 21.1. Eine kurze Geschichte der Gegenwart

von Felix Dirsch --

2015 hat der Mainzer Historiker Andreas ­Rödder, der zu den herausragenden Vertretern seiner Zunft zählt, seine Erfolgsstudie 21.0 vorgelegt.

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Sie mißt in gro­ßen wie fun­dier­ten Schrit­ten das flüch­ti­ge Phä­no­men »Gegen­wart« ab. Nach Aus­weis fast aller Reak­tio­nen ist dem Gelehr­ten, der übli­cher­wei­se dem libe­ral­kon­ser­va­ti­ven Spek­trum zuge­rech­net wird und unlängst die Schrift Kon­ser­va­tiv 21.0 ver­öf­fent­licht hat, das anspruchs­vol­le Unter­fan­gen durch­weg gut bis her­vor­ra­gend gelun­gen. Beson­ders ist dies für die Fähig­keit her­aus­zu­stel­len, rele­van­te Infor­ma­tio­nen aus dem Über­an­ge­bot viel­fäl­ti­ger Medi­en aus­zu­wäh­len und gut les­bar zu präsentieren.

Seit rund acht Jah­ren hat sich die Welt in schnel­lem Tem­po wei­ter­ge­dreht: Vie­les, was heu­te bewegt, war damals höchs­tens von fern abseh­bar: Kli­ma-Extre­mis­mus, Eska­la­ti­on des Ukrai­ne-Kon­flikts, deut­li­che Fort­schrit­te der Künst­li­chen Intel­li­genz, um nur eini­ge Bei­spie­le anzu­füh­ren – alles Fort­ent­wick­lun­gen, die natür­lich in frü­he­ren zeit­his­to­ri­schen Sta­di­en ange­legt sind. Auch die Gegen­wart hat eine (wenn auch nicht leicht auf­zu­hel­len­de) Vergangenheit.

Die gro­ße Reso­nanz und die wei­te­ren Ent­wick­lun­gen seit den aktua­li­sier­ten Auf­la­gen waren wohl wich­ti­ge Grün­de für Röd­der, auf der Basis des Publi­zier­ten eine neue Tour d’horizon zu star­ten. Nach den Aus­gangs­über­le­gun­gen geht der Autor auf zen­tra­le Ten­den­zen ein, die unser aller Leben beein­flus­sen: digi­ta­le Revo­lu­ti­on, glo­ba­le Öko­no­mie, Covid-Pan­de­mie, grund­le­gen­de Trends der Gesell­schaft wie Demo­gra­phie, Iden­ti­täts­po­li­tik oder Migra­ti­on, wich­ti­ge Den­ker des frü­hen 21. Jahr­hun­derts, »Vater Staat«, der Ver­lauf inner­halb der EU sowie die Ver­än­de­run­gen der Welt­ord­nung von 1990 bis zu den ein­schnei­den­den Ereig­nis­sen 2022. Resü­mie­ren­de Anmer­kun­gen run­den die inhalts­rei­che Schrift ab.

Für eine Geschich­te der unmit­tel­ba­ren Gegen­wart ist es uner­läß­lich, die Fak­ten­fül­le zu einer kon­sis­ten­ten Erzäh­lung zu ord­nen. Röd­der ent­schei­det sich für einen Mit­tel­weg zwi­schen der Deu­tung, es gebe nichts Neu­es unter der Son­ne, und jener, die besagt, die Jetzt­zeit sei als radi­ka­ler Bruch in jed­we­der Hin­sicht zu inter­pre­tie­ren. Die Per­spek­ti­ve des Autors ist sicher­lich als Grat­wan­de­rung zu sehen.

Die Urtei­le des Geschichts­wis­sen­schaft­lers sind fun­diert, aus­ge­wo­gen und ver­blei­ben weit­hin im ver­bind­lich-übli­chen Radi­us der zeit­ge­schicht­li­chen For­schung. Röd­der argu­men­tiert zwar jen­seits des rot­grü­nen Haupt­stro­mes, gilt gleich­wohl als ein Mann des Estab­lish­ments. Über­ra­schen­de Wer­tun­gen darf man des­halb nicht erwar­ten und fin­det sie auch nicht. Kaum ver­wun­der­lich ist es des­halb, daß er sich nicht unge­schminkt zur Lage unse­res Vol­kes äußert – unge­ach­tet der bekann­ten und zuletzt zuge­spitz­ten Kri­sen­phä­no­me­ne (Ener­gie­man­gel, Mas­sen­mi­gra­ti­on, Infla­ti­on, Bil­dungs­ver­fall usw.).

Vor die­sem Hin­ter­grund ist es durch­aus zu wür­di­gen, daß Röd­der in sei­nen Erör­te­run­gen über den »anthro­po­ge­nen Kli­ma­wan­del« nicht die gän­gi­gen Sze­na­ri­en über­nimmt, die den Anstieg der Erd­er­wär­mung in alar­mis­ti­scher Wei­se mög­lichst hoch anset­zen, um poli­ti­schen Akti­vis­mus anzu­re­gen; viel­mehr bringt er die für sei­ne Arbeit zen­tra­le Kate­go­rie der Unge­wiß­heit ins Spiel. Man könn­te auch die der Seren­di­pi­tät erwähnen.

Gemeint ist damit das Stol­pern über Zufäl­lig­kei­ten, die den­noch pro­blem­lö­sen­de Aus­wir­kun­gen haben. Man darf ver­mu­ten, daß der emsi­ge Chro­nist aktu­el­ler Ten­den­zen mit sol­chen Deu­tungs­mus­tern auch kon­fron­tiert wird, wenn er dem­nächst »21.2« vorbereitet.

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Andre­as Röd­der: 21.1. Eine kur­ze Geschich­te der Gegen­wart, Mün­chen: C. H.Beck 2023. 510 S., 32 €

 

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