Sie mißt in großen wie fundierten Schritten das flüchtige Phänomen »Gegenwart« ab. Nach Ausweis fast aller Reaktionen ist dem Gelehrten, der üblicherweise dem liberalkonservativen Spektrum zugerechnet wird und unlängst die Schrift Konservativ 21.0 veröffentlicht hat, das anspruchsvolle Unterfangen durchweg gut bis hervorragend gelungen. Besonders ist dies für die Fähigkeit herauszustellen, relevante Informationen aus dem Überangebot vielfältiger Medien auszuwählen und gut lesbar zu präsentieren.
Seit rund acht Jahren hat sich die Welt in schnellem Tempo weitergedreht: Vieles, was heute bewegt, war damals höchstens von fern absehbar: Klima-Extremismus, Eskalation des Ukraine-Konflikts, deutliche Fortschritte der Künstlichen Intelligenz, um nur einige Beispiele anzuführen – alles Fortentwicklungen, die natürlich in früheren zeithistorischen Stadien angelegt sind. Auch die Gegenwart hat eine (wenn auch nicht leicht aufzuhellende) Vergangenheit.
Die große Resonanz und die weiteren Entwicklungen seit den aktualisierten Auflagen waren wohl wichtige Gründe für Rödder, auf der Basis des Publizierten eine neue Tour d’horizon zu starten. Nach den Ausgangsüberlegungen geht der Autor auf zentrale Tendenzen ein, die unser aller Leben beeinflussen: digitale Revolution, globale Ökonomie, Covid-Pandemie, grundlegende Trends der Gesellschaft wie Demographie, Identitätspolitik oder Migration, wichtige Denker des frühen 21. Jahrhunderts, »Vater Staat«, der Verlauf innerhalb der EU sowie die Veränderungen der Weltordnung von 1990 bis zu den einschneidenden Ereignissen 2022. Resümierende Anmerkungen runden die inhaltsreiche Schrift ab.
Für eine Geschichte der unmittelbaren Gegenwart ist es unerläßlich, die Faktenfülle zu einer konsistenten Erzählung zu ordnen. Rödder entscheidet sich für einen Mittelweg zwischen der Deutung, es gebe nichts Neues unter der Sonne, und jener, die besagt, die Jetztzeit sei als radikaler Bruch in jedweder Hinsicht zu interpretieren. Die Perspektive des Autors ist sicherlich als Gratwanderung zu sehen.
Die Urteile des Geschichtswissenschaftlers sind fundiert, ausgewogen und verbleiben weithin im verbindlich-üblichen Radius der zeitgeschichtlichen Forschung. Rödder argumentiert zwar jenseits des rotgrünen Hauptstromes, gilt gleichwohl als ein Mann des Establishments. Überraschende Wertungen darf man deshalb nicht erwarten und findet sie auch nicht. Kaum verwunderlich ist es deshalb, daß er sich nicht ungeschminkt zur Lage unseres Volkes äußert – ungeachtet der bekannten und zuletzt zugespitzten Krisenphänomene (Energiemangel, Massenmigration, Inflation, Bildungsverfall usw.).
Vor diesem Hintergrund ist es durchaus zu würdigen, daß Rödder in seinen Erörterungen über den »anthropogenen Klimawandel« nicht die gängigen Szenarien übernimmt, die den Anstieg der Erderwärmung in alarmistischer Weise möglichst hoch ansetzen, um politischen Aktivismus anzuregen; vielmehr bringt er die für seine Arbeit zentrale Kategorie der Ungewißheit ins Spiel. Man könnte auch die der Serendipität erwähnen.
Gemeint ist damit das Stolpern über Zufälligkeiten, die dennoch problemlösende Auswirkungen haben. Man darf vermuten, daß der emsige Chronist aktueller Tendenzen mit solchen Deutungsmustern auch konfrontiert wird, wenn er demnächst »21.2« vorbereitet.
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Andreas Rödder: 21.1. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München: C. H.Beck 2023. 510 S., 32 €
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