Viele gläubige Muslime erachten seine Meinung über die eigene Herkunftsreligion als zu liberal und kritisch; Gegner des Islam monieren hingegen einen angeblichen Schmusekurs. Dritte wiederum folgern aus diesen unterschiedlichen Sichtweisen: Das Urteil des Mannes trifft zu!
Seine neueste Darstellung nimmt in seinem Schrifttum einen herausragenden Platz ein. Man kann sich kaum eine Publikation vorstellen, die es auf gut 300 Seiten schafft, eine äußerst komplexe Erscheinung wie den Islam nicht nur in seiner Genese fundiert darzustellen, sondern auch vielfältige Aspekte von Geschichte, Gegenwart und erwartbarer Zukunft zu verbinden. Die Thesen des Autors werden zusammen mit einer hilfreichen Zeittafel präsentiert.
Eine Tatsache ist für Abdel-Samad unstrittig: Die Probleme des Islam in der Moderne – ähnlich die der anderen beiden großen monotheistischen Weltreligionen oder besser gesagt: der jeweiligen orthodoxen Richtungen – hängen mit seiner fortdauernden Verhaftung mit historischen Ursprüngen zusammen.
Dies mag heute mehr oder weniger gelten, abhängig von Region und spezifischer Zugehörigkeit. Der von Mohammed verkündete Glaube an Allah ist im Rahmen von Familien- und Stammesfehden entstanden. Der Autor skizziert seine Ausbreitung mit den Stichworten: Entfesselung, Ausdehnung, Zivilisierung, Isolation, Selbstblockade, fehlgeschlagene Reformen und die Suche nach einem adäquaten Ort in der Gegenwart.
Seit dem frühen 7. Jahrhundert verknäuelten sich in Arabien (und bald weit darüber hinaus) missionarischer Anspruch, dynastische Politik und die Neigung, die eigenen Ziele mit kriegerischen Mitteln durchzusetzen. Ohne Einflüsse vornehmlich der byzantinischen und der persischen Kultur wäre der weltgeschichtliche Aufbruch der Söhne und Töchter Mohammeds nicht denkbar gewesen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Ist es das Schicksal dieser zahlenmäßig wachsenden Glaubensrichtung, ewig auf die Ursprungserzählungen von Wüstenbewohnern festgelegt zu sein, oder wird es gelingen, neue Mythen zu stiften? Abdel-Samad spürt kenntnisreich möglichen Antworten nach. Zu den zentralen Themenbereichen zählen neben der Geschichte und der ausführlichen Beleuchtung der einzelnen islamischen Dynastien die verschiedenen Binnenströmungen (Sufismus, Aufklärung, Orthodoxie, wichtige Konfessionen usw.).
Ebenso wird das vielschichtige Verhältnis von Islam und Moderne nicht ausgeblendet. Während extreme Laizisten wie Mustafa Kemal Pascha (»Kemal Atatürk«) und General Gamal Abdel Nasser die Errungenschaften der Moderne über den Islam stellten und somit dem Fortschritt huldigten, erwiesen sich die diversen Spielarten von Islamismus und muslimischem Traditionalismus als modernefeindlich par excellence.
Zu den vielen Paradoxien, die sich in der Gegenwart bemerkbar machen, gehört der Auszug von Teilen des radikalfundamentalistischen Islam nach Europa. Die Herrscher der klassischen Verbreitungsländer kannten zu jeder Zeit die Gefahren, die mit dieser Glaubensrichtung, insbesondere mit manchen Spielarten, verbunden waren (und sind). In Europa dominiert hingegen weithin Naivität. Die Folgen dieser Einstellung sind bei radikalen mohammedanischen Führern nicht unbemerkt geblieben.
Die Lektüre von Abdel-Samads Buch kann auch im rechten Lager zur Unterscheidung der Geister dienen: Demnach ist weder ein »Feindbild Islam«, das der Publizist Frederic Höfer unlängst als »Sackgasse« entlarvt hat, angemessen noch eine zum Teil im eigenen Lager anzutreffende pauschal islamophile Überzeugung. Diese glorifiziert mitunter verbreitete kulturelle Verhaltensmuster, etwa die klare Unterscheidung der gesellschaftlichen Rollen von Mann und Frau oder eine grundsätzlich kriegerische Haltung. Differenz ist auch hier angesagt.
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Hamed Abdel-Samad: Islam. Eine kritische Geschichte, München: dtv 2023. 320 S., 24 €
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