Real Life: Als Christ würde ich diesen Film schauen. Als Nichtchrist sowieso.

Als Katholikin sind mir die evangelikalen Freikirchen naturgemäß eher fremd. Mir ist das (verkürzt gesagt) zuviel Pathos & Pop, zuviel subjektive Emotionalität und zu wenig Maria.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Der Film Real Life, der vom Leben und Ster­ben des (zuletzt frei­kirch­li­chen) Influen­cers Phil­ipp Micken­be­cker han­delt, hat mich den­noch gefan­gen­ge­nom­men. Es ist ein Low-Bud­get-Film, und er wird an den jewei­li­gen Spiel­or­ten oft nur weni­ge Tage gezeigt. Wer kann, soll­te ihn anschau­en; er ist mit­rei­ßend und kraß.

Phil­ipp Micken­be­cker und sein Zwil­lings­bru­der Johan­nes sind enorm erfolg­reich auf You­tube. Ihre Vide­os haben Mil­lio­nen Aufrufe.

Die bei­den, im Ver­ein mit ihrer Schwes­ter Elli, erfin­den völ­lig ver­rück­te Sachen. Sie brin­gen eine Bade­wan­ne zum Flie­gen. Sie kre­ieren Schlitt­schu­he, die mit Ket­ten­sä­gen­mo­tor lau­fen, sie ent­wi­ckeln uner­hör­te Seil­bah­nen, sie bas­teln Ach­ter­bah­nen. Schon die­ser Anspruch der „Real Life Guys“, wie sich die Oden­wäl­der Jungs nen­nen, ist beachtlich.

Mot­to: Leu­te, laßt den Bild­schirm­kon­sum! Kommt ins Freie! Das ist Peter Lus­tig reloaded.

Das tech­ni­sche Geschick der Jungs kommt vom hand­werk­lich begab­ten Vater, die See­len­ru­he von der Mut­ter. Die ers­ten vier Schul­jah­re wer­den die drei Geschwis­ter zu Hau­se beschult. Phil­ipp ist sehr dank­bar für die­se Zeit – auch wenn er (wie auch sei­ne Geschwis­ter) mit dem Glau­bens­hin­ter­grund der Eltern als Jugend­li­cher nichts anfan­gen kann.

Noch vor der Voll­jäh­rig­keit wird Phil­ipp von Krebs heim­ge­sucht – er über­win­det ihn rasch. Jah­re spä­ter, da sind die drei Geschwis­ter längst You­tube-Stars, bricht er erneut aus. Mit der dras­ti­schen Dia­gno­se besinnt sich Phil­ipp auf sei­ne Wur­zeln, auf den Glau­ben an Jesus Chris­tus – sein Zwil­lings­bru­der braucht dafür länger.

Und dann folgt ein unfaß­ba­res Unglück:  Elli, Eli­sa­beth stirbt bei einem Flug­zeug­ab­sturz. Bereits an die­ser frü­hen Stel­le (der Film dau­ert 120 Minu­ten) ist gut erkenn­bar, wie gut die Regis­seu­re den schma­len Grat zwi­schen „genau hin­schau­en“ und „nicht voy­eu­ris­tisch sein“ meistern.

Wir sehen Elli in den klei­nen Pri­vat­flie­ger stei­gen. Die Kame­ra folgt ihrem neu­gie­ri­gen, ängst­li­chen, dann irri­tier­ten Blick – dann Schnitt. Kei­ne Skandalaufnahmen.

Die tap­fe­re Mut­ter kommt zu Wort: wie sie die­se Todes­nach­richt emp­fan­gen hat. Sie sitzt hei­lig­mä­ßig da mit ihrem from­men Kopf­tuch – ein weib­li­cher Hiob.

Als Phil­ipp Micken­be­cker Ende 2020 sei­ne drit­te Krebs­dia­gno­se erhält, sind er und sein Bru­der fest im christ­li­chen Glau­ben ver­wur­zelt. Die Ärz­te geben Phil­ipp eine Lebens­span­ne zwi­schen zwei Wochen und zwei Mona­ten. Längst ist der Tumor, der zwi­schen Phil­ipps Lun­gen­flü­geln sitzt, nach außen gedrun­gen. Es sind schlim­me Bil­der. Sie wer­den nur behut­sam ange­ris­sen. Es gibt kei­ne star­ren­de Kamera.

Die Lebens­freu­de und Heils­ge­wiß­heit, die der Tod­kran­ke aus­strahlt – es sind unge­heu­er­li­che Zeug­nis­se eines uner­schüt­ter­li­chen Glau­bens. Davon pro­fi­tiert der gan­ze Film. Phil­ipp Micken­be­cker ist unglaublich.

Ich habe den Strei­fen mit mei­ner zwölf­jäh­ri­gen Toch­ter ange­schaut, nach­dem ich eini­ge Skru­pel hat­te. Kann man einem Kind einen sol­chen Todes­kampf zumu­ten? Sie hat­te wäh­rend der Vor­füh­rung eini­ge Male weg­ge­schaut und war letzt­lich extrem beeindruckt.

Wie sagt man? “Es gab Gesprächs­be­darf”. Im Kino­saal waren auch ein, zwei deut­lich jün­ge­re Kin­der – ich mei­ne, das muß man indi­vi­du­ell entscheiden.

Ein­mal ent­deckt Phil­ipp, daß durch sei­ne Tumor­wun­de Maden/Würmer wan­dern. Es wird nicht gefilmt, allein die Bot­schaft muß aus­ge­hal­ten wer­den. Beein­dru­ckend dann die Nach­richt, daß eine Freun­din tap­fer etli­che Wür­mer per Pin­zet­te ent­fernt. Der from­me, fröh­li­che Freun­des­kreis Micken­be­ckers spielt hier eine tra­gen­de und berüh­ren­de Rolle.

Die­ser Film zeigt tat­säch­lich das Ster­ben des Phil­ipp Micken­be­cker. Letzt­lich ver­blu­tet er an sei­nem durch­ge­bro­che­nen Tumor. Es ist eine gro­ße Kunst, dar­aus nichts Rei­ße­ri­sches zu machen.

Angeb­lich haben die Micken­be­ckers mitt­ler­wei­le für zahl­rei­che Kon­ver­sio­nen gesorgt. Als Christ wür­de ich die­sen Film unbe­dingt schau­en. Als Nicht­christ sowie­so. Weil er eine Her­aus­for­de­rung ist! Trau­rig der, der ohne Heils­ge­wiß­heit ster­ben muß  – aber er mag die­sen Film als Chan­ce und Opti­on ansehen!

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (47)

Gotlandfahrer

11. Oktober 2023 10:27

Danke für den interessanten Tipp. Zunächst dachte ich, es sei eine fiktive Geschichte. Aber offenbar handelt es sich um eine Dokumentation, richtig?

Kositza: Ja!

Adler und Drache

11. Oktober 2023 11:14

Mir wird schon beim Lesen mulmig ...

MarkusMagnus

11. Oktober 2023 11:28

Ein Film über das Sterben eines Menschen.
Bestimmt starker Tobak. Ich habe damals "Die Passion Christi" im Kino gehen und dieser Film ist ja auch nichts für zartbesaitete Menschen. Besonders die Geisselung ist dort sehr brutal und blutig dargestellt.

May vT

11. Oktober 2023 11:47

Möglicherweise ist Ihre Filmempfehlung sehr hilfreich, für Menschen, die eine körperliche Weltauffassung haben, wie die Frau. Dann aber ist es für den Nichtchristen (warum männlich?) nicht die sinnvolle Einstiegsluke zum chr. Glauben.Danke für Ihre Filmempfehlung.

Gimli

11. Oktober 2023 12:33

Mir wurde ein Buch der beiden Mickenbeckers von sehr katholischen Freunden geschenkt. Naturgemäß befremden solche Menschen mich. Und ich beneide sie ein wenig. Religiöses und telelogisches Denken sind mir unmöglich. Bin darin nicht geprägt, nicht geschult. Ich scheine dafür nicht gemacht. Ich unterstelle einmal, das beruht auf einer neurologischen Struktur. Wenn dem so ist, ist die VErmutung nah, dass Religiösität beinah wortwörtlich ein Hirngespinst (aus Nervenbahnen) ist. Mal schauen, was die Wissenschaft dazu mal noch zu sagen weiß. 
Lebenspraktisch: Meine Schwager (< 60J) liegt aktuell im Sterben, Erwartung von weniger als 2-4 Wochen nach Erstdiagnose im Sommer. In solchen Situation bin ich als Atheist sehr allein und sehr sprachlos. Ich weiß nicht, wie ich ihm diese Woche noch vor unserem Urlaub begegnen kann, was ich zum Abschied sagen kann. Selbst daraus leitet mein Gehirn ab, dass Religiösität in all ihren Ausprägungen (Rituale, Sprache, Formeln) eben diese Leere füllt und damit sinnvoll scheint, aber womöglich genau aus dieser Not von manchen Gerhirnen geschaffen wird. Für manche ein Segen, für mich ein Graus.  

Gracchus

11. Oktober 2023 12:44

Freikirchen sind auch nicht mein Ding - aus ähnlichen Gründen. Den Film werde ich mir aber anschauen, fall sich die Gelegenheit bietet.

Maxx

11. Oktober 2023 13:25

Als ich Ihren Beitrag las, erinnerte ich mich daran, vor einiger Zeit irgendwann abends im TV eine Doku über diese Geschwister gesehen zu haben, die mich schon beeindruckt bzw. bewegt hat, dass sie mir im Gedächtnis haften blieb. Wusste nicht, dass es auch einen Kinofilm über sie gibt.Ich glaube, es war diese Doku hier, die noch auf youtube zu sehen ist: www.youtube.com/watch?v=FzGovGDhIJA

Monika

11. Oktober 2023 13:32

Liebe Frau Kositza, ich werde diesen Film nicht schauen, aus dem einfachen Grund, da ich in jüngster Vergangenheit selbst genug Real life hatte. Mit 16, 17 Jahren hätte ich den Film auf jeden Fall geschaut und fände es auch gut, wenn er Schülern, gerade auch nichtchristlichen gezeigt würde. Daß das Leben kurz, wertvoll und kostbar ist, sollte jeder irgendwann begriffen haben und entsprechend mit seinen Nächsten  umgehen. Natürlich macht es einen Unterschied, ob ein Mensch jung oder lebenssatt stirbt. Ob eine christliche "Einbettung" ins Sterben nötig ist oder ob nicht ganz einfach Nächstenliebe genügt, sprich Zuwendung und Schmerzlinderung, hängt meiner Erfahrung nach vom einzelnen Menschen ab. Ich kannte jemanden, der wollte ausdrücklich kein religiöses Gerede am Sterbebett. Ich habe also stumm gebetet. Ganz allgemein sollte der Tod nicht verdrängt werden und wieder mehr als Teil des Lebens gesehen werden. An Gimli: Sagen Sie Ihrem Schwager genau das, dass Sie nicht wissen, was Sie sagen können, nehmen Sie seine Hände und zeigen Ihre Zuneigung. Es geht oft besser, als man denkt.

Dieter Rose

11. Oktober 2023 13:48

@Gimli
Nichts sagen, zuhause bleiben und ihm die Hand halten. Da werden Sie sich später wohler fühlen.

Rheinlaender

11. Oktober 2023 14:39

@Gimli
Tatsächlich gibt es einige neurowissenschaftliche Forschung über das Phänomen religiöser Erfahrung. Man kann die vorliegenden Erkenntnisse unterschiedlich interpretieren, aber zu diesen Erkenntnissen gehört, dass prinzipiell jeder Mensch über die neurologischen Vorraussetzungen für solche Erfahrungen verfügt. Sicherlich nicht korrekt wäre es vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse anzunehmen, dass Religiosität "aus Nervenbahnen" besteht. Ebenso unzutreffend wäre es analog dazu annehmen, dass visuelle Eindrücke auf ein "Hirngespinst" zurückgehen müssen, weil sie eine neurologische Grundlage haben. Die vorliegende Erkenntnisse lassen die Möglichkeit offen, dass religiöse Erfahrung eben keine Halluzination etc. darstellt, sondern auf eine von außen wirkende, von der Vorstellung des Menschen unabhängig exitierende Ursache zurückgeht.

Laurenz

11. Oktober 2023 15:01

@Dieter Rose @Gimli ... Nichts sagen, zuhause bleiben und ihm die Hand halten. Da werden Sie sich später wohler fühlen. ... Absolut. @Gimli ... besuchen Sie doch mal ein Hospiz & bitten darum bei einer Aufarbeitungsstunde teilnehmen zu dürfen, die in etwa alle 2 Wochen stattfindet & wo die Mitarbeiter ihre Verstorbenen ansprechen dürfen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen.
@EK ... Das ist schon ein starkes Stück. In Ihrem religiösen Egoismus wollen Sie doch nur deshalb die Ungläubigen in diesen Film schicken, weil Sie der Meinung sind, daß der gescheiterte Prophet Jesus von Nazareth irgendeinen Mehrwert für Sterbende besäße & der Film daher Ihre krankhafte christliche Sucht nach Mission unterstützte. Jeden Tag sterben in unserem Land im Schnitt über 2.500 Menschen, die alle dieses Schicksal des Todes ertragen & hinnehmen müssen. Es gehört zum Leben dazu. Welch eine unselige Arroganz liegt in Ihrem Ansinnen & Irrglauben, Christen stürben leichter. Woher wollen Sie das wissen? Es ist eine absolute Frechheit, andere zu Ihrer Scharlatanerie verführen zu wollen, zu einem kranken Gott aus Palästina.

Ein gebuertiger Hesse

11. Oktober 2023 15:10

Danke. Sie haben gut herausgestellt, was der Film angesichts des Dramas menschlich (und damit auch filmisch) anständig und verantwortungsbewußt leistet.

Maiordomus

11. Oktober 2023 16:36

@Gimli. Falls Sie nicht teleologisch denken können, sind Sie von der geistigen Konstitution her nach Hegel kein westlicher Mensch. Daran dachte ich auch, als Sie vor einiger Zeit Ihre Vorstellungen von "Naturrecht" kund taten. Dies hätte der bedeutendste deutsche Naturrechtler, Samuel Pufendorf, dessen Hauptwerk Rousseau mehrmals las, als aufgeklärter Theoretiker der Rechte und vor allem der Pflichten des Menschen nicht nur sich selber gegenüber gewiss nicht unterschrieben.
@Monika/Kositza: Bei Skepsis dieser Filmankündigung gegenüber: in meiner Jugend war auf dem Lande der "Besuch" von Toten in ihrer Stube, wo sie aufgebahrt waren oder im Sterbebett lagen, noch Alltag; noch bei mir der  Besuch der sterbenden Mutter eines Jugendfreundes. Weil dies nicht mehr der Fall ist, scheint mir der Film pädagogisch sinnvoll. Hoffentlich ist er so gut, wie ich es bei Meistern, etwa Stanley Kubrick, Tod eines Knaben in "Barry Lyndon", gesehen habe.  

Gimli

11. Oktober 2023 16:52

Hallo Rheinländer, danke. Ich frage aus ehrlicher Neugier: Quellen? Ich bilde mir ein, ich wüsste von solchen Forschungsergebnissen über "von außen wirkenden" Ursachen außerhalb (oder über?) jeglicher neuronaler Repräsentation (wenn ich Sie da richtig verstehe?). Entweder würde die eine Seite von Gottesbeweis jubeln oder die andere (Dawkins et al) würden Widerspruch einlegen. Im philosophischen Radio wäre das Thema auch schon angesprochen worden. Daher: bin neugierig skeptisch. WAs auch sonst? :-)

Rheinlaender

11. Oktober 2023 16:52

@Laurenz
Bei einer Neigung zu unkontrollierbaren, schweren Wutanfällen soll Aripiprazol gut helfen.

Maiordomus

11. Oktober 2023 16:59

@Laurenz. Dass Christen "leichter stürben" wird von der christlichen Literatur der letzten  2000 Jahre vielfach krass dementiert, nicht nur bei Hofmannsthals Geschichte vom Sterben des reichen Mannes oder von Dante. Von Heiligen wissen wir, dass sie eines schweren und grausamen Todes gestorben sind, mit Gewissensbissen, die Sie sich niemals machen werden.  Zumal die christliche Heilsgewissheit stets in Frage gestellt war von der  Frage, ob man vor Gott und seiner  Gnade wirklich genüge, was Luther jahrelang quälte. Die wichtigste These von Kierkegaard, dem modernsten christlichen Philosophen, besteht darin, "dass wir vor Gott immer Unrecht haben", womit man sich abfinden müsse, was aber längst nicht jeder Christ geschafft hat. Nach Gertrud von le Fort , der bedeutendsten christlichen Dichterin seit der Droste, sterben gemäss "Die letzte am Schafott" die anscheinend vollkommensten Mönche und Nonnen am schwersten. Reinhold Schneider schreibt von den Abgründen in den Seelen derjenigen, "die Kreuzesschild und Ordensgewand bedeckt haben." Diejenigen, die andere trösten, sterben selber am schwersten, so wie nach Paracelsus der Arzt selber sich nicht helfen kann. Dante ist und bleibt der bedeutendste christliche Dichter. Was er über die Hölle schrieb, beeindruckte Nietzsche garantiert stärker als Sie.  Auch Schopenhauer sah in Dante einen christllichen Realisten betr. das Jenseits. Dabei war aber das pädagogische Drohen mit der Hölle stets verächtlich. Hoffentlich werden Sie beim Sterben nicht vom Christentum eingeholt!  
 
 

Maiordomus

11. Oktober 2023 17:06

PS- Der Philosoph des "Mehrwerts für Sterbende" war selbstverständlich, das hat ebenfalls Nietzsche erfasst, der Pfarrerssohn, war nicht Christus, sondern Sokrates, dessen  Ausführungen über Sterben und Tod  letzte Woche bei Manesse in einer meisterhaften Neuübersetzung von Kurt Steinmann erschienen sind, auch hervorragendes Vorwort, derzeit der beste lebende Übersetzer antiker Texte. "Philosophieren heisst Sterben lernen", das ist nun mal die Lehre der Griechen, wobei Nietzsche fand, Christentum sei "Platonismus für das Volk".
 
Zum Film: Mit Vorbehalten insofern empfehlenswert, als zu meiner Jugendzeit  Sterben und Tod noch im Alltag mitzuerleben war, bei Besuch bei Sterbenden, die mit Rosenkranz begleitet wurde, ein Meditationsgebet von Weltrang, absolute  menschliche Hochkultur, und auch die  Toten in der Stube oder im Sterbebett noch besucht und angeschaut wurden, oft mit der Bemerkung, es sei "eine schöne Leiche".  

RMH

11. Oktober 2023 17:13

"was ich zum Abschied sagen kann."
@Gimli,
wie andere schon schrieben, müssen Sie nichts Großartiges sagen. Sich der Situation gefasst, ohne Trauermine stellen und zuhören, ist nach meiner (unmaßgeblichen, subjektiven) Erfahrung Wesentlich. Menschen, die wissen, dass ihre Stunden gezählt sind, aber noch reden können, freuen sich sich meist über Besuch und sehr oft wollen sie einem noch irgendwas mitteilen, einem eine kleine (oder bei engerem Verhältnis auch größere) Aufgabe mitgeben etc., da sie oft (nicht immer), ihre Sachen geregelt haben wollen oder sie fragen einen direkt nach irgendetwas. Nachdem ich auch schon plötzliche Todesfälle im Freundes- und Verwandtenkreis hatte, haben Sie die Gelegenheit, denjenigen wenigstens noch einmal zu sehen und ein paar Worte zu wechseln. Das ist dann aber auch der einzige Vorteil von bspw. Krebs. Die Menschen können noch miteinander reden, Dinge regeln etc. - also genau das machen, was Angehörige von Unfallopfern oder Suizidenten nicht machen können. Da ist der geliebte oder geschätzte Mensch einfach weg, von jetzt auf gleich, vielfach ist gerade das ein Umstand, der sehr belastend ist.

Monika

11. Oktober 2023 19:04

An Laurenz "Besitzt der gescheiterte Prophet Jesus von Nazareth  irgendeinen Mehrwert für Sterbende? Sterben Christen leichter ? Ich weiß nicht, warum Sie das Thema so umtreibt und immer wieder in Rage bringt? Ich würde nicht sagen, dass Christen pe se leichter sterben, warum sollte ein Atheist, ein Moslem, ein Buddhist nicht genauso leicht oder schwer sterben ? Ich erinnere mich, dass es Zeiten gab, wo Christen Sterbenden Schmerzmittel verweigerten oder das Leiden Christi verherrlichten. Ich las als Kind fromme Bücher von meiner Oma. Etwa das Buch von Maria Schmidtmayr "Es wird heilige Kinder geben." Dort ging es um Kinder, die früh an Knochenfrass litten  und gerne für Jesus starben. Das war schaurigschön zu lesen. Und ziemlich masochistisch. Mit solchen Büchern vom "Leiden Christi" wuchsen zahlreiche katholische Kinder auf. Ludwig Feuerbach kritisiert im "Wesen des Christentums" genau diesen leidenden Gott und macht sich über die Empfindlichkeit Jesu ( Jesus weint über den toten Lazarus) lustig, stellt ihm Sokrates gegenüber, der mit unbewegter Seele den Giftbecher leert. Ohne zu jammern ?  Aber ist das die Alternative? Ja, es wäre mal eine Studie wert, wie man  am besten stirbt. Statt Seelsorge gibt es heute z.B. eine sogenannte Spiritual Care, eine Teildisziplin der Palliativmedizin, die Schwerkranke und Sterbende begleitet.

Rheinlaender

11. Oktober 2023 20:11

@Gimli
Ich bin kein Experte auf dem Gebiet und verfolge nur die populärwissenschaftliche Berichterstattung. Dort stieß ich u.a. auf diesen Artikel, der sich mit Forschung über Wirkung der Droge DMT beschäftigt, die auch von Schamanen in einigen Naturvölkern konsumiert wird und offenbar bestimmte religiöse Erfahrungen auslöst. Teilnehmer berichten demnach übereinstimmend, dass sie nach dem Konsum bestimmte intelligente Wesen wahrnehmen würden, sie sie weitgehend identisch beschrieben. Bei einer bloßen Halluzination etc. wäre das nicht der Fall. Eine Interpretation ist, dass die Ähnlichkeit der Wahrnehmung darauf hinweist, dass sich das Wahrgenommene außerhalb des Gehirns der Wahrnehmenden befinden muss.  Dieser Artikel beschreibt die entsprechenden Wahrnehmungen näher und diskutiert sie ebenfalls, allerdings weniger wissenschaftlich. Nach einem Gespräch mit einer Person, die dies selbst ausprobiert hat, rate ich unabhängig davon dringend vom Konsum dieser Droge ab. Der Betreffende berichtete, dass man durchaus Wesen und Kräften begegnen könne, die es nicht gut mit einem meinen. Vielleicht öffnet die Droge ein Tor in die Seele des Menschen, das besser verschlossen bleibt.

Umlautkombinat

11. Oktober 2023 21:36

Was Laurenz betrifft wuerde ich nun keinen Ausbruch bekommen, aber den inhaltlichen Kern kann ich nachvollziehen. "Nichtchristen sowieso" hat auf den ersten Blick eine leichte Herablassung, erlaubt aber auch eine Interpretation als weitergehendere Unversoehnlichkeit. Der Christ als Dazulernender, aber mit schon einem Vorsprung als Eingeweihter um die Dinge. Alle anderen als un- (Atheisten) oder falsch beschriebene (andere Religionen) Blaetter.
 
Der Wunsch nach Transzendenz ist aber universal, nur gibt speziell der Unglaeubige eine andere Antwort darauf, die fuer Glaeubige meist unertraeglich ist. Letzteres sind aber solche Schicksale fuer alle Genannten. 
 
Die Frage Gimli's spielt dahingehend auch mit hinein. Auch mir ist kein materiell unterlegbares Spezifikum fuer Religiositaet im Hirn bekannt. Wenn nicht auch qualitaiv komplett anders geartet, haette sie wohl auch nicht mehr Bedeutung als ein verdickter praefrontaler Kortex eine Meditators, fuer mich zumindest.

Gracchus

11. Oktober 2023 22:05

Reisserische, sentimentale, auf Emotionalisierung setzende Missionierungsfilme mag ich überhaupt nicht. Ich verstehe EKs Rezension aber so, dass dies auf die Doku nicht zutrifft. 
Ein sehr schöner Spielfilm, wo es auch um Leben und Tod und ein Wunder geht, für mich ein sehr gelungenes oder gar das gelungenste Beispiel eines religiösen Films (von Kierkegaard inspiriert): Ordet von Carl Theodor Dreyer. Dreyer war dem Vernehmen nach Agnostiker; dasselbe gilt für Kiesloswski und seine "Dekalog"-Reihe. 
Auch siedelt "Morgen und Abend" sowie die Heptalogie des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers Jon Fosse an der Schwelle von Leben und Tod. Fosse nennt sich einen mystischen Realisten.
 

Gracchus

11. Oktober 2023 22:07

@Monika: Die Gabe der Tränen ist eine Gabe des Hl. Geistes. 

Maiordomus

11. Oktober 2023 22:34

@Umlautkombinat. Frage mich, wenn Sie sagen "der Christ", wie weit Sie da bei dieser Frage die Gesamtzusammenhänge bei der Antike, dem johanneischen Christentum, Paulus, Augustinus, auch dem Judentum, der jüdischen und christlichen Mystik mitreflektiert haben, ob Sie den Satz kennen "omnis vita sapientis est commemoratio mortis", wenn Sie nicht sehen wollen, welch gewaltiges Paradigma hier vorliegt, bei allem Respekt auch vor dem Toten- und Ahnenkult der Römer, der Chinesen und der Japaner, die ihrerseits alles andere als Atheisten und angebliche Agnostiker sind, wobei Agnostiker heute sich gerne nennt, der nicht täglich seine Sterblichkeit bzw. die Frage nach der Unsterblichkeit nach Kant sich stellt, sondern schlicht, wie Nietzsche sie nannte, "zu den Herumstehern gehört, die nicht an Gott glauben", ohne je darüber nachgedacht zu haben, was dies in den Konsequenzen bedeutet?  "O Tod, welche Bedeutung kannst du nicht dem Leben geben", vermerkte Kierkegaard, oder Augustinus, nach dem Tod eines Freundes durch Blitzschlag: Fueram mihi ipsi magna quaestio  - bin mir selber zur grossen Frage bzw. Problem geworden. Ja, das geht sogar tiefer als die Landtagswahlen in Hessen und Bayern, die ich unter gewissen Gesichtspunkten auch nicht unterschätzen würde.  

Maiordomus

11. Oktober 2023 22:43

PS. Es scheint, dass das mit den Landtagswahlen nun wirklich nicht mit der Frage nach der "Wertung" des Todes zusammenhängt, was rein politisch vordergründig richtig scheint; nicht aber unter dem Gesichtspunkt, wenn man Ihnen sagt: Sie sind nicht gemeint, ihre Stimme zählt nicht, siehe den potentiellen sozialen Tod. Unser physischer Tod ist notabene auch ein sozialer Tod. "Ruhe sanft" auf dem Grabstein hiess einst auch: kehre nicht wieder! Sowieso gilt für ein historisch existentes Volk: die Toten stimmen mit! Diese Auffassung reflektierte notabene auch der tiefsinnige britische Konservative Edmund Burke. Ein weites Feld. Ich denke beim Abstimmen über Sachfragen immer wieder auch, wie meine Vorfahren gestimmt hätten, nicht als Entscheidungsgrundlage, aber als an einen mitschwingenden Gesichtspunkt.  

Gast auf Erden

12. Oktober 2023 01:16

Liebe Frau Kositza, ich finde es bemerkenswert, daß Sie trotz Ihrer tiefen katholischen Glaubensüberzeugung sich den Zugang zu einem freikirchlichen Opus nicht haben nehmen lassen, in dem sicher manches befremdlich scheinen mag. Ich selber wiederum als "gelernter Freikirchler" hatte eigentlich immer etwas Abstand zudem "Mythos Mickenberger", der in Magazinen wie IDEA aufgebaut wurde, was natürlich nichts mit dem persönlichen Leiden und Glauben des Philipp Mickenbecker zu tun hat. Ich stelle fest, daß in einer Zeit, in der uns ein immer offensichtlicherer Kulturkampf aufgezwungen wird, Christen unterschiedlichster Coleur Allianzen bilden können und auch müssen, die ich mir in früheren frommen Wagenburgen nicht hätte träumen lassen. 

RMH

12. Oktober 2023 07:23

"...,eine leichte Herablassung, erlaubt aber auch eine Interpretation als weitergehendere Unversoehnlichkeit." @Umlautkombinat, Sie beschreiben etwas Wesentliches, was aber in der heutigen Zeit des Säkularen einen nicht mehr aus der Reserve locken kann. Jede Glaubensgemeinschaft hat im wahrsten Sinne des Wortes etwas Exklusives, etwas Ausschließendes. Und wenn man der Ansicht hat, die Wahrheit gefunden zu haben (und diesen Anspruch sollte man als Katholik haben), dann ist man per se herablassend, denn man lässt sich aus seiner Sphäre herab auf die Sphäre der Nichtteilhabenden. Als evangelisch in der Disaspora von Katholiken groß geworden, selber mit einer Katholikin verheiratet (die Kinder katholisch), kenne ich dieses milde Lächeln, die demonstrative Herzlichkeit, wenn der Priester zu Kenntnis nimmt, dass man gar kein Rechtgläubiger ist, nur allzu gut. Mich juckt es nach Jahrzehnten der Gewöhnung nicht mehr. Es ist Teil seiner "job description", also soll er. Mittlerweile bin ich aus des luth. Kirche ausgetreten. Das ich eine christliche Erziehung hatte und auch durch unseren evangelikalen Pfarrer (das gab es damals auch in der EKD), guten Einblick in die evangelikale "Szene" bekommen habe, halte ich im Nachhinein für keinen Fehler. Wenn man bspw. atheistisch groß geworden ist, dann hat man es womöglich schwerer, sich mit Christen oder Religiösen souverän auseinanderzusetzen, da man eine Ebene nicht aus eigener Erfahrung kennt, über die man sprechen will (was aber die Debatte nicht unmöglich macht). Das war jetzt nicht herablassend gemeint.

RMH

12. Oktober 2023 07:33

"und macht sich über die Empfindlichkeit Jesu ( Jesus weint über den toten Lazarus) lustig, stellt ihm Sokrates gegenüber, der mit unbewegter Seele den Giftbecher leert."
Nun ja, einen Giftbecher kann man noch diszipliniert und stoisch leeren. Aufs Blut ausgepeitscht, mit Dornen gekrönt mit Nägeln an ein Kreuz geschlagen und aufgehängt zu werden, ist da eine andere Nummer. Vermutlich hat sich jeder Christ (und auch Nichtchrist) schon gefragt, warum ausgerechnet das Folterinstrument des Kreuzes das Zeichen dieses Bekenntnisses wurde. Mein Reim darauf - vermutlich habe ich das auch nur irgendwo mal gehört, gelesen oder als Kind bei einer Predigt vernommen - ist, dass Jesus eben ein Mensch war, dem in seinem kurzen Leben all dass wiederfahren ist, was Menschen sich gegenseitig antun können und dazu zählt auch, dass er auf eine der grausamsten Arten, die sich Menschen ausdenken konnten, zu Tode gemartet wurde. Das Kreuz also immer auch als "Das bist Du! Mensch. Du folterst Deinesgleichen zu Tode, Du folterst sogar Gottes Sohn zu Tode". Mit der Auferstehung wurde das überwunden - und damit kommt dann der Glaube an ein Heilsgeschehen ins Spiel (was dann die Nichtgläubigen nicht mehr teilen).

Amos

12. Oktober 2023 07:40

Vielleicht hilft der Hinweis, dass der sich zu Chrisus Bekennende ja nach Paulinischer Lehre aus eigenen Kräften nichts vermag. Er ist eine Leerform, ein Kanal, der durch den Geist Gottes mit Leben erfüllt wird. Und dem ist wiederum ist schwer Vorschriften machen. Das Wirken der Christen in der Welt darf also getrost hinter dem Vorhang aus Gutmenschentum und Kirchentagschristentum angenommen werden. Dort ist wie im Prozess des Sterbens das Innere des Menschen beteiligt. Das freilich lässt sich weder auf Kirchentagsverlautbarungen auskippen, noch mit dem Masstab -so sterbt nun denn alle als Helden- gemessen werden. Jesus ist nicht als Philosoph gescheitert, das wäre ja komplette Verkennung seines Auftrages. Zu erwarten, sein Reich sei irgendwie doch von dieser Welt ist ja gerade der Irrtum derer, die meinen, man könne mit Seenotrettung und Sozialdemokratie etwas nachhelfen.

Maiordomus

12. Oktober 2023 07:52

Der Satz "omnis vita sapientis est commemoratio mortis"*, eingestanzt auf dem Grabstein des Schweizer Schriftstellers und Altphilologen Josef Vital Kopp in Beromünster, stammt von der Stoa und von Seneca. Wenn nun also Frau Kositza mit auch diesem mitschwingenden Hintergrund mit ihrer Tochter einen Film besucht, über den ich mir vorläufig ein Urteil vorbehalte, die Christlichen machen es nicht immer so gut wie sie es meinen, so scheint mir dies aus erzieherischer Sicht auf jeden Fall eine sinnvolle Entscheidung gewesen zu sein, die ich als Aussenstehender nicht kritisieren würde, auch an der christlichen Erziehung, wiewohl es an dieser durchaus dies und jenes historisch auszusetzen gäbe, wenngleich nicht an den Erziehungsgrundsätzen der deutschen Jesuiten von 1553 (Esslingen), die man aber kennen müsste. U.a. massive Einschränkungen von Körperstrafen. 
*Das ganze Leben des Weisen ist eine betrachtende Vergegenwärtigung  des Todes." Selber nahm ich mir am Tag meiner Erstkommunion vor, einmal täglich an die Möglichkeit meines Todes zu denken. Diese Entscheidung hinderte mich bis heute nicht an der Teilhabe der schönen und guten Seiten des Lebens, nicht zuletzt auch an der seither gepflegten Gewohnheit der täglichen Lektüre. 

Umlautkombinat

12. Oktober 2023 08:41

@Maiordomus
 
Ihre Belesenheit steht Ihnen gelegentlich im Weg (und sehen Sie bitte davon ab, sie als Dampfwalze benutzen zu wollen). Natuerlich habe ich nicht alle Ihre Beispiele reflektiert. Das ist nicht noetig um meinen Punkt darzustellen und explizit nicht dazu, das klar zu tun. Das Fass Agnostiker mache ich jetzt auch bestimmt nicht wieder auf. Es gibt viele Verzweigungen, Laurenz wuerde wahrscheinlich auch noch irgendetwas von Castaneda oder zu Familienaufstellungen anbringen :-) Andere wieder andere Dinge. 
 
@RMH
 
Sie irren sich etwas in den Voraussetzungen. Ich habe eine tiefglaeubige Frau mit einer Familie, die seit Generationen Pfarrer oder auch mal einen Probst in den Ring wirft. Herablassung ist unnoetig und sie schwindet auch - gelegentlich wie Schnee in der Sonne - in einer direkten Diskussion. Nicht immer, muss sie aber auch nicht. Ich sagte ja, mich reizt das nicht zu irgendeiner Form von Riesengereiztheit.
 

Monika

12. Oktober 2023 09:21

An Maiordomus, Danke für Ihre interessanten Ausführungen. Sterben Christen leichter ? Nein, natürlich nicht. Bringen wir es auf den skandalösen Punkt: "Der gescheiterte Prophet", nach dem wir Christen benannt sind, starb elend am Kreuz und schrie seine Gottesverlassenheit heraus. An dieser  "Torheit des Kreuzes" (Paulus) scheiden sich bis heute auch die christlichen  Geister. Für den Kritiker des Christentums Ludwig Feuerbach ist "das  Christentum die Leidensgeschichte der Menschheit", während sich" bei den Heiden das Jauchzen der sinnlichen Lust  in den Kultus der Götter mischte". Der Dichter Theodor Storm, Anhänger Feuerbachs, ist der heidnische Christ par excellence. Mit dem Kreuz konnte er nichts anfangen. In seinem Gedicht: Größer werden die Menschen nicht, heißt es: Aus dem seligen Glauben des Kreuzes Bricht ein andrer hervor, Selbstloser und größer. Dessen Gebot wird sein: Edel lebe und schön, Ohne Hoffnung künftigen Seins und ohne Vergeltung, Nur um der Schönheit des Lebens willen." Allerdings stand dem Lebensoptimismus von Storm eine beklemmende Vergänglichkeitsangst gegenüber. ff

Franz Bettinger

12. Oktober 2023 09:29

@Gimli: Reden Sie mit Ihrem Schwager über das Sterben, den Tod, das Danach. Warum? Weil ihm das durch den Kopf geht. Und weil es ihn nervt, dass alle tun, als stände dem Todgeweihten nicht das größte Abenteuer seines Lebens bevor. 

Monika

12. Oktober 2023 09:38

1/2 Trotz Lebensbejahung hatte Theodor Storm  eine fast panische Angst vor der Vergänglichkeit, vor Tod und Sterben. Sehr beklemmend ist sein Gedicht "Geh nicht hinein". Es beschreibt den Anblick eines gerade Verstorbenen, der im Nebenzimmer liegt. Darin heißt es: "Dort, wo er gelegen, Dort hinterm Wandschirm, stumm und einsam liegt Jetzt etwas - bleib! Geh nicht hinein! Es schaut Dich fremd und furchtbar an; für viele Tage Kannst du nicht leben, wenn du es erblickt." Der Tote wird zu einem "Etwas", der Tod zu einem endgültigen Ende, zum Abgrund, zum Nichts. Dagegen hat sich Storm innerlich gewehrt und nach dem Tod seiner Frau ging er wohl seufzend im Zimmer rum , vor sich hersagend: " Wenn ich doch glauben könnte." An Maiordomus : Sie erinnern an den natürlichen  Umgang  mit dem Tod, als die Menschen zuhause im Kreise ihrer Lieben starben. Ja, das kenne ich auch in einem Falle und fand es wirklich schön und beruhigend. Die Verdrängung des Todes aus dem  Leben trägt zum Kulturverfall bei. Danke an Gracchus für seinen Hinweis auf Jon Fosse und Ja, das mit den Tränen stimmt.  Also, mehr Sinnlichkeit gegen religiöse Verkopfung.

Franz Bettinger

12. Oktober 2023 11:42

@Anekdote: Doktor Lawson deutete auf den dicken Schmöker, der auf dem Tisch lag. „Gefällt Ihnen das Buch?“ „Es fesselt mich. Dieser Italiener weiß, er hat Krebs und beschreibt sein letztes Jahr. Eindringlich. Kennen Sie das Buch?“ Eric nickte: „Aber ich glaube nicht, dass unsere Sterblichkeit eine Krankheit ist.“ Jana schien nicht zu verstehen. „Sterben ist nichts, was man fürchten muss,“ sagte Eric. „Der Autor hat sich vor seinem Ende mit beinah allen Aspekten des Dilemmas beschäftigt. Nur die klassische ärztliche Kunst nahm er nicht genau unter die Lupe. Schade. Hätte er sich mehr damit beschäftigt, wäre ihm klar geworden, dass man Op, Chemo und Bestrahlung und die anderen Folter-Werkzeuge, die man an ihm ausprobiert hat, vergessen kann. Der Mann findet keine Kur gegen den Krebs, weil's keine gibt.“ „Ach, was kann man schon wirklich wissen? Ich liebe den Mann,“ sagte Jana. Eric lächelte nachsichtig. „Klar, er hat uns mit seiner Biographie beschenkt. Aber was die Frage nach dem Wissen-Können betrifft, hat er mich enttäuscht. Es ist nämlich nicht so, dass die Vernunft ein löchriges Gefäß wäre, das die Wahrheit nicht fassen könnte. Unser Intellekt macht sich nur gern zum Erfüllungsgehilfen des Glauben-Wollens. Darin liegt seine Schwäche.“ ff 

Franz Bettinger

12. Oktober 2023 11:48

ff „Was halten Sie von dem?“ Mister Lawson zeigte auf das Tagebuch einer Krebserkrankung. Das Buch lag neben dem anderen auf dem Tisch. „Kennen Sie das denn auch?“ fragte Franz. Eric sah in das tiefe Rot seines Weines und schwieg. Schließlich sagte er: „Ich kenne es. Ich kenne sogar den Autor, den Rebell. - Ehrlich gesagt, ich war enttäuscht. Ein Würstchen packt aus, was in ihm steckt. Kein 7 Gänge Menü von Bocuse. Es ist in dem Fall ganz einfach: das Enfant terrible findet heraus, dass es zerstörbar ist. Sein Sterben kommt zu früh. Er ist noch nicht fertig mit seinem Leben. Wohin jetzt mit all den gewaltigen Plänen, dem Abdruck seiner Unsterblichkeit?“ „Das ist nicht fair,“ sagte Jana. Auch sie hatte das Buch gelesen: „Warum lassen Sie ihn nicht gelten?“ Eric dachte nach. - „Wenn man allein wäre auf der Welt, würde es gehen. Wir leiden beim Sterben, wie auch beim Leben übrigens, ja nur in Relation zu anderen, Jüngeren, Schöneren, Stärkeren und Gesünderen. Stellen Sie sich vor, Sie wären allein auf der Welt. Was würden Sie noch wollen?“ Sie dachte nach. „Nicht viel,“ gab Jana zu. Erstaunlich: Die von Erik eben gestellte Frage war eine ganz entscheidende, eine entlarvende! Tat man vieles im Leben nur, um anderen zu gefallen? Würde man, wenn es keine anderen gäbe, einfach zu Hause bleiben? Der Arzt aus Boston bestellte noch eine Flasche Wein und begann dann zu erzählen… (Ende) 

Franz Bettinger

12. Oktober 2023 12:00

@Monika schreibt: "Der Tote wird zu einem Etwas." Das klingt so negativ. Ich erlebte es positiv. Onkel Pauls Leiche war zu einem Etwas geworden, stimmt, aber es war eine Erlösung für mich. Das war nicht mehr mein Onkel. Gut dass ich ihn nochmals als Toten gesehen habe. Es wäre grausam gewesen, sich diesen lebensfrohen Menschen immer noch lustig & freundlich im Grab liegend vorzustellen. Es war viel besser, dass da unter der Erde nur ein Etwas vergraben lag. Mein Onkel? Ha, der musste irgendwo anders sein. An einem viel besseren Ort. Ich trauerte kaum. 

Maiordomus

12. Oktober 2023 13:23

@Monika. Storm gehört zu den aufgeklärten Protestanten, die aus Traditionsnähe noch echte Glaubensprobleme kannten. Es stellt sich diese Konstellation bei seinem Freund Gottfried Keller sehr ähnlich.

Adler und Drache

12. Oktober 2023 13:56

Früher wurde "Herablassung" als etwas Positives verstanden. Jemand begibt sich auf meine Ebene, an meine Seite. In diesem Sinne die "gnädige Herablassung Gottes". 
Laurenz versteht das Christentum nicht aus sich heraus, nicht aus seinem mystischen Kern heraus. Sein Verständnis ist bass phänomenologisch (immerhin! - weil aber in der Phänomenologie keine Wertung liegt: persönlich wertend ... was ihm unbenommen sei!). 
Laurenz, versuchen Sie sich mal in einen Menschen hinein zuversetzen, der im Bewusstsein lebt, die größte Sache der Welt geschenkt bekommen zu haben - wäre es nicht Egoismus, dies für sich allein behalten zu wollen, und gerade kein Egoismus, dies anderen mitteilen zu wollen?
Ich weiß natürlich nicht, warum Sie derart leicht zu triggern sind und derart auf die Palme gehen - Sie werden Ihre Gründe haben. So blödes Dreinschlagen gehört sich aber nicht, es wirkt pubertär und nervt, und die Granddame geht man schon gar nicht so halbstark von der Seite an. Reißen Sie sich am Riemen!

Monika

12. Oktober 2023 14:19

Maiordomus, Bettinger
Es gibt ein Büchlein von   Karl Ernst Laage über Theodor Storm und die Religion mit dem Titel "Wenn ich doch glauben könnte". Da werden die verschiedenen Facetten von Storms Religiosität beschrieben: Er sei nicht Christ, aber doch religiös, Storm habe sich dem Gott der Liebe, dem Guten und der Verantwortung dem Nächsten gegenüber verpflichtet gefühlt. Ein aufgeklärter Protestant ? Mir sind einige Texte von  Storm immer etwas duster und gruselig vorgekommen. Mehr als Texte  von unaufgeklärten Katholiken.  Und Herr Bettinger, da haben Sie recht. Es kann beruhigen, wenn man den Toten als "Etwas" wahrnimmt. Das Eigentliche ist woanders. Ich habe als Kind meine tote Oma gesehen und trotzdem nächtelang geweint, sie in dem kalten Grab zu wissen. Reliquien in katholischen Kirchen fand ich wiederum  nicht gruselig, Edgar Alan Poe hat mir schlaflose Nächte bereitet. Das ist ein weites Feld und hier nicht mehr das Thema.

Gracchus

12. Oktober 2023 17:33

Wenn EK sich mal eine halbfreche Überschrift leistet, muss man in der Tat nicht gleich ausflippen. 
Forist Amos gibt den richtigen Hinweis, denke ich. Der Glaube ist eine Gabe des Hl. Geistes. Entweder man hat sie (empfangen) - oder nicht. Eine Möglichkeit der Reaktion ist, dass man sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, vor allem der Verstand tut das (schon damals gegenüber Paulus: Auferstehung des Fleisches - pfui! wie soll das möglich sein? - Die neuzeitliche religionskritische Aufklärung hat diesen althergebrachten Einwand nur elobariert). 

Gracchus

12. Oktober 2023 17:47

Paradox gesagt führt der Glaube als Gabe des Hl. Geistes zum Unglauben. Er reinigt von allen selbstfabrizierten Annahmen und Projektionen - vor allem jenen, die dem Ego schmeicheln - und bereitet damit den Boden für den wahren Glauben. Der westliche Nihilismus - würde ich fast behaupten - ist eine Wirkung des Hl. Geistes. Man macht nur auf halbem Weg schlapp, wenn man darin verharrt. Schon der Akt des Glaubens erfordert Hingabe und also Kontrollverlust. Es ist auch für die meisten Gläubigen ein beständiger, lebenslanger Kampf oder Krampf, denke ich.

Maiordomus

12. Oktober 2023 19:19

@Umlautkombinat. Das ist keine Dampfwalze, so wenig die existentielle Verinnerlichung der Bibel als "Dampfwalze" zu verwechseln ist. Dass  Philosophieren mit geistiger Nahrung zu tun hat, sollten sie doch zur Kenntnis nehmen. Siehe auch, was mich besonders interessiert, die Kosmologie, z.B. von Einstein und Kepler. Oder natürlich die mathematische Philosophie von Pythagoras, dem Cusaner, Frege. Das ist nicht Dampfwalze,  bloss Neugier und die Weigerung, auf einem primitiven  Niveau verharren zu wollen. Achten Sie mal, wie ein Totalmystiker wie Meister Eckhart, mindestens auf dem Niveau von Buddha, bei jeder existentiellen Betrachtung von einem Text ausging, so handhabte es auch Erasmus. Es gibt nun mal Kommunikation, die auf geistigen Bedürfnissen beruht. Vor allem unter das Niveau von Kepler und Kant sollten wir nicht unnötig gehen, wiewohl es da keineswegs um das Zitieren geht, sondern nur und ausschlieslich um das Denken.  

Maiordomus

12. Oktober 2023 20:10

@Umlautkombinat. Wollte weder Ihnen noch @Laurenz zu nahe treten, auch nicht @Kositza, von der ich nach wie vor behaupte, dass ihr Kinobesuch mit der Tochter unbeschadet was wir von jenem Film halten mögen immer noch was ganz anderes war als wenn wir Lanz oder Maybritt Illner schauen und dann etwa über solche Sendungen diskutieren, da kann jeder mitreden; grosse Anregung von @Laurenz waren für mich die jeweils verspotteten Fernsehauszüge bei Till Keller, hier sieht man, wie im Vergleich auch nur zu Storm lesen hier flächendeckend am Fernsehen Zeitverblödung stattfindet. Es ist auch niemandem peinlich, wenn Lanz zitiert wird statt Kierkegaard, Reinhold Schneider oder Heideggers Holzwege, die bei der Kürze der noch zur Verfügung stehenden Lebensspanne einem doch eher Substanzielleres zu sagen hätten; siehe, trotz der seitherigen Forschungsfortschritte, Kepler, bei dem man bei jeder Seite merkt, dass es kaum je einen klügeren und je nachdem weiseren Deutschen gab, selbstverständlich vom Abendmahl ausgeschlossen, weil er die Geistlichen überforderte, hat übrigens zu jenem Thema noch extra publiziert.   

Nath

12. Oktober 2023 23:23

@Kositza
Haetten Sie geschrieben: "Als religioeser Mensch wuerde ich diesen Film unbedingt schauen, als irreligioeser sowieso", ergaebe das noch Sinn. Mancher Materialist, der davon ueberzeugt ist, dass "danach alles aus ist", koennte, so mag man argumentieren, durch das Beispiel eines Sterbens in religioeser Zuversicht zum Nachdenken gebracht werden. Indem Sie aber nur die beiden Kategorien Christen und Nichtchristen einander gegenueberstellen, nivellieren sie einmal den Unterschied zwischen Atheisten und den Glaeubigen anderer Religionen, als ob jedem, der nicht in Christo stuerbe, die entscheidende Tiefendimendion der Todeserfahrung verschlossen bliebe. Ein Jaina oder ein Anhaenger Castanedas etwa koenne daraus lernen, dass ihm "eben doch etwas fehle", dass Christen sich aufs Sterben besser verstuenden als alle anderen. Dies religioese Ueberheblichkeit zu nennen ist nicht gaenzlich unangebracht.
Ein anderes aber wiegt noch schwerer, wohl nicht bei diesem einzelnen Menschen, aber generell, naemlich die Kehrseite der christlichen Medallie - und das g e r a d e bei den Evangelikalen - die Angst vor dem Zorn Gottes und moeglichen ewigen Qualen, die das Seelenleben zahlloser christlicher Individuen ueber Generationen heillos zerruettet hat. 
Dann waere, als Sterbehilfe, doch eher Epikurs "Anti-Unsterblichkeits-Logik" der Vorzug zu geben, welche eine solche infernal aufgeladene Panik prinzipiell unmoeglich macht: "Wenn ich bin, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, bin ich nicht da." 
 

Maiordomus

13. Oktober 2023 03:52

@Umlautkombinat. Hier wird nicht mit der Dampfwalze zitiert, sondern hier beobachten Sie, vgl. den Strang der Debatte mit dem prima Text von Lichtmesz, dass gelegentlich die Toten mitdiskutieren. Z.B. wenn ein Kollege sich auf Platon berief: "Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehn." Das ist nicht Lanz, sondern der hier sich unterhaltende Untergrund. Die würden nie dorthin eingeladen, sie zähle nicht mal, wenn sie im Parlament sitzen. Sobald jene dort übrigens zählen, sind sie dort angekommen, wo wir hier das Privileg geniessen, noch einen Diskurs ausserhalb führen zu können.
Jeder zählt, sogar diejenigen, die nicht, wie ich versehentlich geschrieben habe, "Till Keller" zitieren, er heisst bekanntlich nicht so. Jünger hat bekanntlich noch etwas stärker in die Tiefe gesehen, gewiss auch Clausewitz und zumal Thukydides. Aber am Ende muss man zu dem stehen, was einem einleuchtet, was man auch von der eigenen Erfahrung her bestätigen könnte. Darum las Bismarck bekanntlich die Bibel, sogar deren "Losungen", was übrigens mit zu den freikirchlichen Traditionen gehört. 

Maiordomus

13. Oktober 2023 08:37

@Platon. Da ich die Stelle bei Platon mittlerweile nicht ausmachen konnte, erkundigte ich mich heute morgen früh beim heute führenden Übersetzer bei den Verlagen Reclam, Insel und Manesse: danach handelt es sish um eine pseudoplatonische Überlieferung. Immerhin gehört der Neuplatonismus zu den bedeutendsten und einflussreichsten Richtungen der Geistesgeschichte. 

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