Das liegt nicht nur daran, daß gelenkte Freude gegenüber ungezügelter Begeisterung stets wirkt wie eine freiwillige Übergabe neben einem aufgerammten Burgtor.
Es ist aber noch etwas anderes: Am 3. Oktober schwante es den Bürgern der DDR längst, daß von ihrer Art zu wirtschaften und zu gewichten kaum etwas übrig bleiben würde. Und mehr: daß es dem Westen wohl gestattet sei, dem Osten etwas vorzumachen, und zwar im doppelten Wortsinne.
Es gibt mittlerweile eine Reihe erhellender Bücher zum Thema einer eigenständigen und mehr und mehr selbstbewußten Ostidentität. Von diesem Selbstbewußtsein konnte am 3. Oktober 1990 keine Rede sein. Ich verweise immer wieder auf das Buch Das Licht, das erlosch von Stephen Holmes und Ivan Krastev. Dieses wichtige Werk ist vor fünf Jahren erschienen, und seine Thesen sind natürlich längst weitergedacht worden. Zu nennen wäre Posttraumatische Souveränität aus der Feder von Kuisz und Wigura – ich habe es für die 121. Sezession rezensiert.
Man kann den Hauptgedanken von Holmes und Krastev auf zwei Begriffe bringen: Aus der Nachahmungsbegeisterung derjenigen, die für die Wende gestritten hatten, wurde nach rund anderthalb Jahrzehnten ein Nachahmungsverbot – implizit ausgesprochen und explizit umgesetzt von denjenigen, die in den Ländern des ehemaligen Ostblocks verblieben waren und nun daran gingen, für diejenigen Politik zu machen, die sich Mühe gegeben hatten und enttäuscht worden waren.
Ich werde in einer Woche wieder über Identitätsfragen referieren und dabei genau auf diese Abläufe Bezug nehmen: wie also aus einer ehrlichen Nachahmungsbegeisterung eine aussichtslose Nachahmungsanstrengung, dann eine erste Nachahmungsskepsis und ein manifester Nachahmungsunmut geworden sind, und wie das am Ende umschlug in eine Bestandsaufnahme dessen, was diejenigen, die system-moralisch ohne eigenes Verdienst in der Vorhand waren, eigentlich alles nicht begriffen haben – seit bald 35 Jahren nicht begriffen.
Aus dieser Bestandsaufnahme leiten sich ein Oststolz, eine Ostidentität ab, die Lehnert und ich lieber die Identität der deutschen Mitte nennen. Sie ist immer deutlicher wahrnehmbar. Sie verschaffte sich zuletzt sichtbar Ausdruck in den Ergebnissen der drei Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg.
Als ich heute am Vormittag für eine halbe Stunde in der Laube eines Nachbarn saß, um für jedes Bein einen Vodka zu kippen, stießen wir nicht auf die Wende an, sondern auf “das janze Deutschland” und auf “Högge”. Alle stießen an, keiner fand’s komisch, keiner hat Das Licht, das erlosch gelesen, aber alle wissen sehr genau, was mit Nachahmungsunmut gemeint ist und sagen ohne Fußnoten dasselbe, was die Autoren kompliziert ausdrücken: daß nämlich das, was wir in den vergangenen Jahren beschert bekamen, nicht erhofft wurde, als man die Mauer einriß und sich dem Westen anschloß.
Wer von der Arroganz, von der hier die Rede ist, das Neueste vernehmen will, kann im Folgenden bei Minute 11.45 einsteigen und ein bißchen zuhören. Solche Reden sind für das ost‑, das mitteldeutsche Gemüt geradezu Identitätstorpedos:
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(Ergänzungen, Fundstücke und kritische Anmerkungen richten Sie bitte an [email protected]. Ich werde ausbreiten, was sich ansammelt.)
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Freitag, 23. August
Gestern Abend war ich mit meinem Sohn im Landtagsgebäude in Erfurt. Simon Kaupert (Filmkunstkollektiv) präsentierte dort seinen Film über Björn Höcke. Er dauert 100 Minuten und trägt den Titel “Der lange Anlauf”. Kaupert, von dem Initiative, Drehbuch und Schnitt stammen, durfte Höcke anderthalb Jahre lang begleiten und auf Archivmaterial aus der Frühzeit der AfD und von den Auftritten Höckes aus dieser Zeit zugreifen.
Fünf Weggefährten und politische Publizisten äußern sich innerhalb einer besonderen Versuchsanordnung über Höcke als Persönlichkeit und Politiker, über den Weg der AfD und die Auseinandersetzungen um Höcke, über seine Aufgabe und die Hoffnung, die man mit ihm verknüpft. Zu Wort kommen Daniel Haseloff (der in den Thüringer Landtag einziehen wird), Benedikt Kaiser, Stefan Möller (Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Fraktion in Thüringen), Robert Teske (Büroleiter Höckes) und ich selbst.
Diese Stellungnahmen, Erzählungen und Einschätzungen durchziehen den Film als zweite von vier Erzählebenen. (Die erste, die Grundlage, bilden natürlich die Aufnahmen, die Höcke als Politiker, Redner, Moderator, Denker zeigen.)
Die dritte Ebene besteht aus Annäherungsaufnahmen am Kyffhäuser: Sie zeigen den schlafenden Barbarossa und das aus dem Berg reitende Pferd mit Kaiser Wilhelm im Sattel, und sie suggerieren, daß wir auf etwas warten könnten, nämlich durchaus auf “den Mann, der hilft” (Stefan George).
Das ist stimmig: Kaupert greift auf, was zugleich viele erwarten und etliche verstört, wenn sie an Höcke denken. Robert Teske bringt das gegen Ende des Films auf den Punkt, wenn er von der überbordenden Heilserwartung spricht, die Höcke entgegengebracht wird von Anhängern und Wählern, und er berichtet, wie wichtig es sei, diese Leute zu bremsen und ihnen den Unterschied zwischen Guru und Politiker zu verdeutlichen.
Dieses Raunende wird deshalb von einer vierten Ebene abgefangen und interpretiert: Wir sehen in mehreren Abschnitten die Entstehung eines Ölgemäldes, das sehr zögerlich, dann aber bestimmt angegangen und fertiggestellt wird.
Kaupert und sein Filmkunstkollektiv hatten den Abend als Kinoabend inszeniert, mit Eintrittskarten, Filmplakaten, mit Popcorn und Getränken, und es war wirklich großes Kino. Der Film strahlt in seiner Machart und alleine schon durch sein Vorhandensein nach anstrengenden Monaten Selbstbewußtsein aus.
Die Zugänge zu Parteitagen, Bürgerdialogen und Vorträgen sind aus der Perspektive der Mitarbeiter und Begleiter gefilmt, das Laute, Umringte, Begeisterte, Anstrengende, Demütigende (in Halle, vor Gericht) und Professionelle – das alles kommt ins Bild, und das ist eine besondere Form des bildlichen Erzählens, denn es gibt im Film keinen übergeordneten Sprecher, keinen Redakteur. Und: Kaum je hat jemand Höcke bei der Arbeit im Garten, am Holz, in seinem Büro und unterwegs auf Feldwegen filmen und zeigen dürfen.
Höcke dankte nach der Aufführung dem Filmemacher Kaupert, und ich will das verstärken: Kaupert ist ein seltener Vogel. Er verfügt über die mittlerweile rare Eigenschaft der Begeisterungsfähigkeit für eine Sache, die aus der Idee zur Form finden muß und deren Verwirklichung weit wichtiger ist, als die Frage danach, ob am Ende materiell etwas dabei herausspringt. Kaupert wollte diesen Film machen, punkt.
Ist der Film zu lang? Welche Rolle spielen die musikalischen Untertöne? Versteht, wer nicht so eng dran ist an Höcke, worum es jeweils geht und warum das nun wichtig ist und zum Gesamtbild gehört, das von diesem Mann und Menschen gezeichnet wird?
Ich sprach mit manchem Zuschauer über diese Punkte, hatte den Film ja auch schon gesehen, in einer vorläufigen Fassung, und selbst manches angemerkt. Und ich kann nur sagen: Schauen Sie sich diese Arbeit an, ganz, Details noch einmal, und dann notieren Sie bitte, was Sie zu sagen haben, und schicken es mir zu: [email protected], denn ich will sammeln und ordnen und veröffentlichen, und zwar etwas von dem, das diese Leistung würdigt und aus der Distanz zu erkennen glaubt, was man anders sieht, als ich es sah und aufschrieb.
Und Lob, Leute, Lob. Denn: Gab es so etwas schon einmal, so ganz ohne Staatsgeld und fettes Team? Eben. Deshalb noch dies: Unterstützen kann man das Filmkunstkollektiv, indem man projektbezogen überweist oder – noch besser – eine Dauerförderung abschließt, also monatlich einen Betrag überweist. Für beides gibt es hier Formulare und Knöpfchen. Und nun: Film ab!
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Mittwoch, 14. August
Jetzt sitzen wir alle vor den Bildschirmen und verschaffen uns einen Überblick zur Aufhebung des Compact-Verbots, nicht wahr? Wir sollen feiern, schreibt Martin Sellner. Er übernimmt diesen Aufruf von Jürgen Elsässer, dem Gründer und Chefredakteur des Compact-Magazins, den man hier mit seiner Frau und einem seiner Mitarbeiter bodenständig auf einem Sofa sitzen sieht, froh darüber, daß es nun zunächst weitergehen darf mit seinem Heft.
Elsässer hat allen Grund, sich zu freuen und sehr erleichtert zu sein. Vermutlich kann sich das Ausmaß dieser Erleichterung, dieser Freude über die Möglichkeit, nun doch noch weitermachen zu dürfen, nur derjenige vorstellen, der ebenfalls eine Zeitschrift oder einen Verlag gründete und ihn als Lebenswerk begreift und lebt.
Ich war in den vergangenen Wochen mehr als verärgert über Stimmen aus unseren Reihen, die ihren Äußerungen über die Aushebelung der Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit eine Distanzierungsnote voranstellten. Ist es nicht genau das, was solch ein Verbot bezweckte, unter anderem: die Sortierung der Szene in feinsinnig und schmierig, differenzierter und gröber durch die Szene selbst?
Als ob nur das eine zu einem irgendwie gearteten Erfolg führen könne, sogar besser ohne das andere! Als ob es einen Grund in Elsässers Schreib- und Redaktionsweise gäbe, der ein Verbot rechtfertigen oder wenigstens nahelegen würde!
Symbolpolitische Akte, Übergriffe, Strafaktionen können zwar nicht jeden, aber doch nicht wenige von uns treffen. Daß in solchen Momenten vorbehaltslose Verteidigung der eigenen Linie die einzig richtige Reaktion sein muß, sollte längst gelernt worden sein. Aber wir sahen und merkten uns, daß es so nicht war und ist.
Feiern also? Nein, Leute. Elsässer soll feiern, er wird es mit einem Schauer tun, der ihm über den Rücken läuft, wenn er daran denkt, was wäre, hätte er das Eilverfahren auf ganzer Linie verloren. Es ist doch eine dieser Entweder-oder-Lagen, in die man als älterer Herr nicht mehr kommen möchte: weitermachen dürfen oder eben nicht. Also, feiert dort!
Wir feiern nicht, wir haben eine Grußnachricht geschickt, und nun schauen wir uns das Ganze an und denken darüber nach. Eine erste juristische Einschätzung hat Alexander Wallasch auf seiner Seite veröffentlicht, und zwar von Ulrich Vosgerau, der zum Anwaltsteam gehört. Vosgerau spricht von einem “ambivalenten Sieg”, was er darunter versteht und warum ihn die Urteilsbegründung des Oberverwaltungsgerichts überrascht hat, kann man hier nachlesen.
Das hat alles seine Berechtigung und ist unter den gegebenen Umständen ein Maximum. Aber es darf uns nicht dazu verleiten, den “Rechtsstaat” zu feiern und in ihm einen Garant dafür zu sehen, daß letztlich doch alles nach demokratischen Spielregeln und mit einklagbarer Fairneß ablaufe.
Es ist nicht so.
1. In Thüringen, Sachsen und Brandenburg kämpft eine tapfere Partei gegen die in Anschlag gebrachten Staatsmittel um jede Stimme; der Verfassungsschutz ist mit tausenden Mitarbeitern zu einer Spitzelinstitution aufgebaut worden, die Ergebnisse liefern muß. Alle Einstufungen, Markierungen, Infiltrierungen und Verleumdungen durch diese Behörde sind weiterhin in Kraft, in Planung, in vollem Gange, systemisch vorgezeichnet. Dazu hat ja Mathias Brodkorb alles gesagt.
2. Nancy Faeser wird nicht zurücktreten, sie wird im kommenden Jahr abgewählt werden, das ist alles, was ihr widerfahren wird. Sie wird nicht als Pfuscherin, als antifaschistische Erfüllungsgehilfin in die Geschichte der BRD eingehen, sondern gar nicht. Ein Niemand wird in Biographien eingegriffen und unter guten Leuten Verheerungen angerichtet haben, ohne jemals dafür zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. So ist unser ganzer Staat: ein Paradebeispiel für die Banalität der Funktionäre, die selbst juristische Klatschen schulterzuckend hinnehmen und sich selbst nie infrage stellen.
3. Es bleibt auch nach dem Teilsieg im Eilverfahren die gruselige Übertragung des Vereinsrechts auf ein privates Unternehmen. Das Gericht stellte ausdrücklich fest, daß es den Vereinscharakter der GmbH Elsässers ebenfalls erkenne. Eine solche Auffassung wäre, wenn sie im Hauptsacheverfahren bestätigt würde, ein ähnlicher Dammbruch wie die Bewertung des ethnischen Volksbegriffs als verfassungsfeindliche Meinung.
4. Und die großen Blätter und öffentlich-rechtlichen Häusern sind auf Faeser-Linie, immer noch. Erinnern wir uns an das Jubelgewitter, das sich entlud, als Faeser verkündete, was diese da alle erhofft hatten: endlich ohne anstrengenden Argumente einfach verbieten können! Nun geht es vielleicht doch nicht so einfach, aber das führt nicht zu Bescheidenheit, sondern nur zu Unwillen gegenüber den Stümpern, die das verbockten.
5. So auch die Politiker, die nicht der AfD angehören: Sie greifen die Teilrevision des Compact-Verbots auf, um Faeser zu kritisieren, aber natürlich nicht, um die eben aufgelisteten, grundsätzlichen Fragen zu stellen. Ihnen geht es allein darum, daß man das, was man tat, einfach besser hätte abdichten sollen. Faesers Dilettantismus habe dem Kampf gegen rechts einen Bärendienst erwiesen.
Was also bleibt, wenn die Grußnachricht an Elsässer verschickt und sich das wenige an Genugtuung verflüchtigt hat? Es bleibt das miese Wissen darum, daß Männer und Frauen, die für Deutschlands Zukunft um etwas besseres kämpfen als das, was gerade und seit Jahrzehnten regiert, jederzeit abhängig werden können von den Entscheidungen eines Systems, das in der Hand der Gegner ist.
(Schrieb ich Gegner? Noch immer Gegner?)
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Sonntag, 21. Juli
Wie schreibt man und was schreibt man, wenn alles gesagt ist? Wie führt man ein Tagebuch, wenn man deswegen nicht dazu kommt, weil man Brände auszutreten und seine Siebensachen zu ordnen hat, aus dem schlichten Grund, weil morgen die Uhr anders gestellt sein könnte?
Viele Zuschriften und viele Gespräche, es waren auch Klugscheißer darunter, und die Antwort, die mir ein hoher (also sehr hoher) Staatsbeamter auf meine Frage gab, die ich seit fünf Tagen stelle, wenn ich Expertise erwarte (nämlich, ob es vorstellbar sei, daß auch wir verboten würden), ist mein neuer Lieblingssatz: “Was dachten Sie denn?”
Tja, dachte ich da, ich dachte mir das schon anders, damals, als wir mitten in der Nachwende-Depression ein ehemaliges Rittergut erwarben, das sonst keiner, also wirklich keiner haben wollte, und mit der Renovierung und dem Aufbau des Verlags, des Instituts und der Zeitschrift begannen.
Seit Dienstag vergangener Woche fechten nun die Juristen aus, ob Leute wie wir uns das hätten denken können, daß es nun so weit gekommen sei mit der Achtung der Politik vor dem Recht und vor allem vor dem Gründungsmythos der deutschen Demokratie: der im Vormärz erfochtenen Pressefreiheit.
Ich verfolge diese Fechtübungen mit großem Nichtjuristenverstand, weil sie sich wie etwas existentiell Interessantes lesen. Unser Blog hat sich mit Texten von Maximilian Krah direkt und von Thor v. Waldstein grundsätzlich an diesen Übungen beteiligt.
Das online-Format Freiburger Standard hat umfassend und niederschmetternd auf Krah geantwortet.
Mathias Brodkorb, Verfasser des so klugen, aber wahrscheinlich wiederum wirkungslosen Buches Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? hat in der Berliner Zeitung einer Politik, die ihre Macht ausspiele, weil sie politisch am Ende sei, ein sehr schlechtes Zeugnis ausgestellt (hier lesen). Er schreibt als zum Publizisten gewordener ehemaliger Minister mit dem Unmut dessen, der den Abbruch der Auseinandersetzung für falsch hält und der ein anderes Kaliber von Gegner wäre, würde er noch Politiker sein.
Am Ende ist der interessierte, existentiell interessierte Verleger nicht klüger als zuvor, schaut, daß er zurechtkommt und zieht sich auf die Ausgangsthese zurück, daß, wer im Compact-Verbot ein Problem des Rechtsstaats sehe, den Begriff des Politischen verkenne.
Ansonsten Gemütszustand daseinsgelassen. Wenn einmal klar ist, daß klare Kriterien nicht mehr vorhanden sind, dann gilt der innere Kompaß. Haben wir uns etwas vorzuwerfen? Aber nein!
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Der Vortrag, den ich vor genau einer Woche zum Abschluß unseres Sommerfestes hielt, ist auf YouTube verfügbar. Er wird in der Wahrnehmung zugespitzt auf die Aussage, daß unser Volk ein Kältebad dringend nötig habe und daß der Solidarische Patriotismus nur mit einem erzogenen, bis in die einfachsten Arbeitsbereiche hinein fleißigen Volk umzusetzen sei.
Ich bin ganz dafür, mit denen, die es nicht mehr aus eigener Kraft schaffen, solidarisch zu sein und ihr Lebensnotwendiges würdig abzusichern. Jedoch ist die abschüssige Bahn bis dorthin, wo es gar nicht mehr geht, eine ordentlich lange Strecke.
Thor v. Waldstein notierte in seinen oben bereits verlinkten Thesen zum Rechtsstaat folgende Sätze:
Seit den 1960er Jahren wurde die Idee des Rechtsstaats allmählich überlagert durch das Dogma eines paternalistischen Sozialstaats, dessen Lebenselixier darin besteht, den einen zu nehmen, um den anderen zu geben.
Die Herrschaft eines solchen Umverteilungsstaats gründet darauf, einer in die Millionen gehenden Zahl von Alimenteempfängern die Eigenverantwortung für ihr Leben abzunehmen.
Waldstein paraphrasiert Ernst Forsthoff:
Es gebe einen gefährlichen Zusammenhang zwischen der Geberlaune von „Vater Staat“ und dessen Machtavancen gegenüber einer Schar von Kindern, von denen er sich wünscht, daß sie nie erwachsen werden.
Dieser Befund ist stimmig für jeden, der wahrnehmen kann und an einem Werktag während der Arbeitszeit in einer beliebigen deutschen Stadt eine Strecke mit der U‑Bahn fährt oder Einblick in die “Lebensentwürfe” in einigen beliebigen Dörfern nimmt. Auch Statistiken reichen hin, natürlich, bloß sind sie nicht so augenscheinlich frech.
Ein erzogenes Volk hinter geschlossenen Grenzen kann solidarisch sein und eine Lebenssicherheit verbreiten, die der Traum von Generationen war. Ein in immer weiteren Teilen unerzogenes Volk, das aufgrund offener Grenzen überrannt wird, darf gar nichts mehr umverteilen. Es muß in ein Kältebad, und dieses Bad muß das erste sein, in das hineinplumpst, wer den Schritt über die Grenze setzt. Entweder – oder.
Indes: Der Vortrag war viel mehr als nur diese Debatte.
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In diesem Zusammenhang will ich kurz auf James David Vance hinweisen, den Trump vor ein paar Tagen zu seinem Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten ernannt hat. Ich las die längst weltberühmte Hillbilly Elegie von Vance gleich nach ihrem Erscheinen, 2016, rezensierte sie aber nicht, seltsamerweise.
Ich erinnere mich dunkel, daß ich schon damals mit Benedikt Kaiser über den Sozialismus und solidarpatriotische Konzepte sprach und in manchem dezidiert widersprach, immer aus der Warte dessen heraus, der das Wort “unterprivilegiert” ebenso für eine Begriffsvernebelung hält wie “relative Armut”. Das hinderte uns beide nicht daran, den Solidarischen Patriotismus als wirklich durchdachten Entwurf bei Antaios zu veröffentlichen – Benedikt als Autor, ich als Verleger und Lektor, der dadurch viel gelernt hat.
Ich rezensierte Vance wohl nicht, weil ich Material sammelte, um in einem großen Beitrag vor den fehlenden Grundlagen eines Solidarischen Patriotismus zu warnen. Ich schrieb diesen Beitrag nicht.
Vance: Er wuchs genau in dieser Kälte auf, die ich oben meine und über die ich in meinem kurzen Vortrag sage, daß sie natürlich eine harte und ungerechte Sache sei, daß es aber anders wohl nicht mehr gehe. Vance, der buchstäblich im Müll aufwuchs, in Verhältnissen, die in Deutschland so nicht vorstellbar sind, zog sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf.
Er absolvierte die harte Schule des US Marine Corps, studierte mit diesem Schliff im Rücken und schloß in mehreren Fächern ab. Nebenbei arbeitete er natürlich, um sich das teure Studium überhaupt leisten zu können. Er ist Katholik, ist jetzt 39 Jahre alt und vertritt die Überzeugung, daß Härte. Disziplin, Fleiß und der Verzicht auf die Gouvernante Staat Männer und Frauen zu selbständigen, kreativen und hart arbeitenden Bürgern mache, die sich eine Mündigkeit erlauben könnten, von der zynische und infantile Sozialhilfeempfänger und Gewerkschaftsfunktionäre nur träumen könnten.
Aber mehr: Vance ist, das ist auch meine Meinung, der Auffassung, man müsse die gigantische Marktmacht der Superkonzerne beschränken, müsse sie zerschlagen, müsse den kleineren und mittleren Selbständigen zu Konkurrenzfähigkeit verhelfen und die Gemeinwesen durch eine lebendige Innenstadt beleben und dafür sorgen, daß das Geld wieder innerhalb dieser Strukturen zu kreisen beginne.
In der Hillbilly Elegie steht darüber noch nichts, und natürlich ist der Weg und die Lebensleistung von Vance außergewöhnlich. Aber es reichte doch schon hin, wenn klar wäre: Jeder junge Mensch hat eine Ausbildung anzutreten und abzuschließen, wenn er nicht ohne alles und für sehr lange bei Papa und Mama unterkriechen wollte. Denn niemand würde ihm sein faules Leben bezahlen. (Mittlerweile ist auch ganz Süd-Sachsen-Anhalt eine einzige Markt- und Ausbildungslücke.)
Vance lesen (scheint aber derzeit vergriffen zu sein). Es den Jugendlichen zu lesen geben, dazu – als Komplementärfarbe – von Packer Die Abwicklung. Das ist schon eine andere Stimmung, wenn man in einem Land zurechtzukommen hat, das einem sehr wenig dabei hilft. Hier in Deutschland wars mal deutlich besser. Aber der Umweg über “Amerika” muß wohl sein, wenn es wieder deutscher werden soll.
(George Packer: Die Abwicklung – hier bestellen; Benedikt Kaiser: Solidarischer Patriotismus – hier bestellen.)
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Dienstag, 18. Juni
Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, hat heute in einer Pressekonferenz bekanntgegeben, daß der Verlag Antaios nun vom Verdachtsfall zur gesichert rechtsextremistischen Bestrebung heraufgestuft worden sei. Das hat mich überrascht. Ich dachte, wir seien das längst.
Jedenfalls kann nun der Dienst alles, was wir verlegen, mit erweiterten nachrichtendienstlichen Mitteln lesen und auswerten. Man wird auf noch mehr Palimpseste stoßen – und zuvor dieses Wort nachschlagen müssen.
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In der vergangenen Woche war ich kaum Verleger. Zwischen den Telefongesprächen und Mails hier und da ein wenig Redaktion und ein paar Entwürfe – Freude sogar, über die 120. Sezession, die wieder ein gutes Heft geworden ist, wie ich meine; aber alles das lag wenig beachtet auf meinem Schreibtisch, hinter dem sitzend ich herauszufinden versuchte, was eigentlich gespielt würde.
Dies klingt dramatisch. Vielleicht haben diejenigen unserer Leser und Freunde recht, die sagen, daß die AfD am Ende nicht anders sei als jede Organisation, die sich auswachse und ihre Reihen fülle mit Leuten, die sich nicht mehr auf den Kampf um den angemessenen Platz ihrer Partei, sondern auf den Betrieb innerhalb ihrer Strukturen und ihre eigene Position darin konzentrierten.
Aber so einfach ist das nicht. Denn nichts davon, was in einer reiferen Partei geschieht, kann das erklären, was in der Basis der AfD einen Schock ausgelöst und ihre Wähler verärgert hat, vor allem im Osten: nämlich daß man am Tag nach einer gewonnenen Wahl selbst dafür sorgte, nicht mehr als Sieger, sondern als ein in sich zerrissenes Projekt Thema zu sein.
Niemand kann nachvollziehbar erklären, warum sich die AfD-Delegation bereits am Tag nach der Wahl gründen mußte und warum man nicht abwarten wollte. Man kann im EU-Parlament Sondierungsgespräche sowohl mit der ID-Fraktion (aus der man gerade geflogen war) als auch mit kleineren Parteien über eine eigene Fraktion führen, ohne schon als Delegation aufzutreten, wochenlang.
Warum drängte Hans Neuhoff auf die Gründung der Delegation? Warum drängte er darauf, Maximilian Krah unmittelbar danach aus dieser Delegation auszuschließen? Warum ließ man es auf eine “geheime” Abstimmung ankommen, nachdem Krah mitgeteilt hatte, daß er freiwillig nicht austreten werde? Warum sprach die Bundesführung nicht spätestens dann ein Machtwort – ganz simpel mit dem Verweis darauf, daß der Osten in drei Bundesländern vollständig, in den beiden anderen fast flächendeckend die AfD zur stärksten Kraft gewählt habe, gegen den geballten, schäbigen, skrupellosen Widerstand der anderen Parteien und der von ihnen erbeuteten und eingesetzten Staatsmittel.
Es ist völlig unerheblich, ob man Krah mag oder nicht. Es ist völlig egal, ob man gegenüber dem Verfassungsschutz Erfüllungspolitik betreiben oder über ihn in schallendes Gelächter ausbrechen will. Und es spielt keine Rolle, ob der Westen den Osten in jeder Lage versteht oder nicht: die politische Lage, die Gefechtslage, die (professionell ausgedrückt) Situation der “Marke AfD” legte so glasklar und banal ein anderes Verhalten nahe, daß ich für das, was seit Monaten falsch gemacht wird, das richtige Wort nicht finde.
Ein Scherbenhaufen. Natürlich wirkt das Bild der Spitzen aus den Ostverbänden, die sich am Samstag trafen, beruhigend. Bloß: das Momentum war der Montag, und Aufräumarbeiten oder ein Gruppenbild vor zerschlagenem Porzellan ist nichts, was zieht. Es kittet, es beruhigt, mehr nicht.
Es stehen drei Ostwahlen an. Sie sind wichtiger als die Wahl zum EU-Parlament. Aber die heutige Umfrage aus Thüringen zeigt, wie sehr die vermeintliche Alternative zur Alternative zu ziehen beginnt: zwar 28 Prozent für die AfD, aber schon 21 für das BSW und noch immer 23 für die CDU.
Strahlt nicht der MDR genau jetzt einen sechsteiligen Podcast über den Kampf Sahra Wagenknechts aus, über ihren tapferen Werdegang, ihre Intelligenz, “Trotz und Treue”, Ostversteherin? Und ihre Ausgründung? Unzerstritten, unzerschossen, nicht vernarbt, nicht – müde?
Ich zitierte wiederholt den PR-Berater, der ganz aus der Sicht der Markentechnik (nicht zu verwechseln mit “Marketing”) analysiert, ob die AfD das, was die weltweit auf höchstem Niveau agierende PR längst über die menschliche Psyche und das propagandistische Handwerk weiß, verstanden hat oder nicht. Seine Bilanz ist für die Partei verheerend: Sie weiß mit sich selbst nicht umzugehen. Er notierte:
Das, was sich am Wahlsonntag im Osten ereignete, geschah, obwohl die AfD schwach geführt wird und als Organisation nicht zusammensteht. Man schnitt, marginalisierte, beschwieg ohne Not den Mann, der an der Spitze des Wahlkampfs stand. Man signalisierte Unsicherheit, sandte das Signal aus, man wisse selbst nicht genau, ob man diejenige Kraft sei, die wisse, was sie wolle.
So etwas wirkt verheerend. Denn ob man Krah mag oder nicht, ob man die Spitzenkandidatur im Nachhinein für einen Fehler hält: alles egal. Für die Massenpsyche zählt nur, ob man sie unterhält und beeindruckt, ob man ihr vor-logisch mitteilt, dass man es anders und besser könne als die Konkurrenz – in unserem Fall also diejenigen, die das Land ruinieren.
Steilvorlage nach Steilvorlage, in ganzen Regionen wirken die Propagandamittel der Gegenseite nicht mehr. Um wieviel größer und stabiler hätte der Schritt werden können mit erwachsenem Verhalten der Partei und sauberer Koordination! Das muss die kritische, die zentrale These sein. Und die Frage lautet natürlich: Ist den Parteispitzen klar, was sie anrichten?
Auf diese Frage habe ich auch nach einer guten Woche, einer schlechten, zerredeten, unehrlichen Woche keine Antwort. Denn mit dem jeweils kleinen Ich ist das, was geschah und geschieht, nicht zu erklären. Womit aber dann? Vermutlich muß die Frage nach dem cui bono der Zersetzungstendenz von Innen mit mehr Phantasie gestellt werden.
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Pfingstsonntag, 19. Mai
Morgen, am Montag, den 20. Mai, bin ich als Redner bei Pegida vorgesehen. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zum letzten Mal in der Öffentlichkeit eine Rede hielt. Es ist Jahre her. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Der wichtigste ist, daß ich den Populismus und das Ressentiment nicht mag. Beides ist notwendig, aber es ist nicht das Geschäft eines Verlegers anspruchsvoller Bücher. Ich probierte das aus, als Pegida zu laufen begann, wir waren wirklich Montag für Montag dort, oft mit der ganzen Familie. Ich sprach bei Legida und bei Pegida, und immer war es so, daß ich eines zu vermitteln versuchte:
Es gibt wuchtige, klassische, literarische Bilder und Metaphern für das, was uns widerfährt und zugemutet wird. Und zweitens: Wir müssen besser sein als die anderen, nicht lauter, sondern besser.
Morgen also wieder, nach langer Zeit, um 18.30 Uhr auf dem Neumarkt in Dresden, vor der Frauenkirche. Würde mich freuen, den ein oder anderen Leser aus der Umgebung zu sehen.
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Anonymität und Radikalität gehen oft Hand in Hand. Wir hatten in der 39. Folge unseres Podcasts “Am Rand der Gesellschaft” die Influencer “Charlotte Corday” und “Shlomo” zu Gast. Beide verbergen ihre Identität hinter Pseudonymen, aber in unterschiedlicher Stufung: Während Corday ihr Gesicht zeigt, aber unter Künstlernamen agiert, influenct Shlomo ganz im Verborgenen: Kaum jemand weiß, wie er aussieht.
Im Podcast antwortete er auf Ellen Kositzas Frage, warum er das so handhabe, mit einem Katalog von Koranschändungen, die er ausgeführt habe und für die er – wohlweislich damals schon hinter falschem Namen und Maske verborgen – dutzendfach mit dem Tode bedroht worden sei. Ich selbst war so perplex über diese Auskunft, daß es mir tatsächlich die Sprache verschlug. Dann leitete ich zu einem anderen Thema über.
Mein Standpunkt ist natürlich derjenige, daß es in jedem Falle geschmacklos und unstatthaft sei, das heilige Buch egal welcher Glaubensausrichtung zu schänden. Es ist – im Falle des Korans – einer Milliarde Menschen Grundlage ihres Glaubens. Dieses Buch mag für uns völlig uninteressant und als religiöse Offenbarung irrelevant sein, es mag verheerende Folgen bei seinen Lesern auslösen und die Grundlage der Unterdrückung und der Unterwerfungsforderung sein, die in Siebenmeilenstiefeln auf uns zuspringen. Aber es ist das Buch einer Glaubensgemeinschaft.
Daß ich das im Podcast nicht klarstellte, liegt an einem Wahrnehmungsliberalismus, der sich etwa auf einen Ernst Jünger zugeschriebenen, lapidaren Satz stützt: “Dies alles gibt es also.” Im Gespräch die Person sich ausbreiten, sich ganz zeigen lassen – das ist der Ansatz. er taugt nicht für Politiker, und bekleidete ich in der AfD ein hohes Amt oder säße auf einem wichtigen Mandat, hätte das Dossier über mich nun eine Seite mehr. Aber ich bin Verleger und Publizist und nehme zunächst wirklich erst einmal wahr.
Erik Lehnert, mit dem ich über die Frage telefonierte, ist da strenger als ich. Er hält Pseudonyme und Stimmen aus dem Off für Ausschlußkriterien, wenn es um Gespräche für die Öffentlichkeit geht. Woran liegt es, daß wir nie entgleisten, daß wir keine Leichen im Keller haben und noch immer jeden Satz, den wir äußerten, unterschreiben können?
Es liegt auch daran, daß derjenige, der mit Namen und Gesicht kämpft und nicht in die Anonymität zurücktauchen kann, sehr genau seine linke und seine rechte Grenze kennt. Und anders herum: Wer diese Grenzen kennt, mag keinen Grund mehr sehen, sich nicht ganz zu zeigen und seinen Namen darunterzuschreiben.
Im Podcast, der ein wirklich gutes Gespräch mit den beiden Influencern präsentiert, füllt die krasse Shlomo-Erklärung eine knappe Minute. Sie prägt den Austausch nicht, aber sie ist ein besonderer Moment und verlangte nach diesem Nachtrag. Hier ist der Podcast:
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Allen freudige Pfingsttage! Der Geist ist unser Begleiter, er ist Maßstab, Auftrag und stiftet Mut.
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(Ergänzungen, Fundstücke und kritische Anmerkungen richten Sie bitte an [email protected]. Ich werde ausbreiten, was sich ansammelt.)
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Dienstag, 30. April
Vor gut zwei Monaten begleitete ich einen Moslem zum Freitagsgebet. Ich hatte ihn im Zug kennengelernt, er las ein Buch, ich las ein Buch, er kannte mein Buch und sprach mich an.
Ich begleitete ihn, weil ich erleben wollte, wie es sei, wenn sich entwurzelte Männer treffen, um eine der Wurzeln zu gießen, die sie mit sich tragen und die in der Fremde entweder Halt zu bieten vermag oder vertrocknet.
Ich traf zur angegebenen Zeit am bezeichneten Ort ein, also kurz nach Mittag vor dem Kulturzentrum des Stadtteils. Ein großer Raum darin, Mehrzweck, mit niedriger Decke und Sprossenwänden, verschiebbaren Raumteilern und fadem Linoleum – wir würden ihn als Verlag, als Szene nie und nimmer anmieten können, um darin eine Buchmesse zu veranstalten oder ein Fest. Die Moslems aber besitzen einen Vertrag bis Ende des Jahres, Freitag für Freitag, stets für einen halben Tag.
Mahmud entdeckte und begrüßte mich, es war die typische Geste: Er griff mit beiden Händen nach meiner rechten Hand und hatte zuvor beide Handflächen kurz an seine Brust gedrückt. Wir betraten die flache Halle. Im Vorraum hunderte paar Schuhe. Ich ließ meine an und rückte einen Stuhl ganz nach hinten an die Wand, setzte mich und schaute zu, wie Männer, keine Frauen, nur Männer in die Halle drängten.
Es waren vor allem junge Männer, und es waren Männer aus aller Herren Länder: viele Araber, viele Syrer und Afghanen, manchmal Brüder, das sah man, wenige ältere Väter mit ihren Söhnen; kleine stämmige Tschetschenen, magere schwarze Riesen unter Tuch, Tschad, Mauretanien, Hirtenaura jedenfalls, und ganz sicher noch nicht “angekommen” wie die Türken und Albaner, die in Trainingshosen erschienen, alle vom selben Barbier entlassen, ölig, à la Neukölln, irgendwie längst im Geschäft.
Alle Stühle waren zusammengeschoben und weggestapelt, denn es wurden Teppiche entrollt, Teppiche in allen Farben und Größen, längs, quer, auch Isomatten und Rettungsdecken, Hauptsache irgendetwas, nie der nackte Boden. Ich nahm wahr, wie Unterlagen gedreht wurden, damit der Nachbar Platz darauf fand. Einladende Zeichen, aber auch schon innere Sammlung bei manchem, der Vorgebete verrichtete und sich vom Gerücke und Gerede nicht stören ließ.
Die Reihen rückten auf mich zu, der Raum füllte sich. Ich wurde gemustert und begrüßt, man bot mir Platz auf einem Teppich an, aber ich verwies stumm auf meinen Stuhl und blieb auch dann sitzen, als ein Vorsänger anstimmte, das Gemurmel verstummte und die Beter sich ausrichteten, mit Blicken nach links und rechts und letztem Geruckel.
Der Sänger kam zum Ende. Neben ihm erhob sich ein noch recht junger Mann und setzte an. Die Stimme war die eines Offiziers: klar, selbstbewußt, auch in den Pausen, überlegt und überlegen, begleitet von sparsamer Gestik.
Anrufungen, Verbeugungen aus knieender Haltung heraus, vorgebeugt verharrend, dann Entspannung und Predigt. Das war keine Kontaktaufnahme mit nachaufklärerischen Glaubensskeptikern, kein Abholen, keine liturgische Gefälligkeit. Es war ordnender Ton, Glaubensaufforderung und eine Ansage, ein warmes und verbindliches, befehlendes und versprechendes Arabisch.
Ich verstand natürlich kein Wort und wanderte ab, dachte zurück an den Gottesdienst, in dem wir neulich waren: der Priester als Erklärbär, ohne Autorität, unsicher, fast verlegen über die alten Riten; viel Ich, viel absurdes Liedgut, Unverbindlichkeit und ein mit alter, gebrochener, schwacher Hand angesetzter Leberhaken gegen rechts, der mir nicht wehtat, mir aber alles vergällte, was hätte sein sollen: Vertikalität, sakraler Raum, Gottesdienst.
Dann war das Freitagsgebet zuende. Ich habe so etwas unter Christen noch nie erlebt. Mahmud holte mich ab. Die Männer standen in Gruppen vor dem Kulturzentrum, die nächsten zweihundert, dreihundert jungen Männer drängten in den Saal, mitten in einer ostdeutschen Stadt, alle bereit, an einem Freitagnachmittag sich auszurichten.
Warum sind das so viele? – Ganz klar, sagte Mahmud, weil der Glaube wichtig ist und weil er uns alle verbindet. – Ist das stärker als in der Heimat? – Auf jeden Fall, vor allem jetzt, wo wir uns durchsetzen müssen. – Gegen wen? – Gegen das, was Euer System aus uns machen will. – Was will es denn aus Euch machen? – Kein Glaube, Konsum, Alkohol, kein Respekt, keine Ehre, nur Amerika und die Juden und schwache Menschen, überall. – Aber das ist unser Land, das ist unsere Geschichte, wir sind so geworden, wir waren anders, wir haben härter gekämpft als Ihr je. – Dann kämpfe wieder. Aber glaub mir: keine Chance.
(Unter den dreihundert jungen Männern der ersten Gebetsschicht waren vielleicht zwanzig, dreißig deutsche Konvertiten. Man erkannte sie an den Genen, am Phänotyp, am Versuch, alles so zu machen, wie es im Buche steht. Sie sind wohl zum ersten Mal in ihrem Leben unter Männern, nur unter Männern, klar ausgerichtet, eingemeindet, beauftragt.
Ich bin mir sicher: Wir laufen in diesem Bereich auf eine Katastrophe zu, auf einen Konversionsdruck, der auf die Bereitschaft eines Teils unserer Leute trifft, das Angebot der Unterordnung, der Unterwerfung anzunehmen. Denn es gibt Männer, junge Männer, die vor allem unter Männern sein wollen, in starken Gruppen, im Einsatz. Wenn dagegen kein Kraut wächst, verlieren wir sie.)
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Dienstag, 16. April
Der Umzugsunternehmer Sven Ebert hat in der Nacht auf den gestrigen Montag durch einen Brandanschlag Teile seines Fuhrparks verloren. Ebert sitzt für die AfD im Gemeinderat von Schkopau, seine Firma war in den vergangenen Jahren immer wieder mit Farbbeuteln und Schmierereien attackiert worden.
Nun muß Ebert den Schaden auf mehrere hunderttausend Euro beziffern, und damit gehört dieser Anschlag zu den größeren, die bisher gegen AfD-Politiker, Unterstützer und Akteure der nationalen Opposition verübt wurden.
Das schreibt sich so. Aber was bedeutet das eigentlich? Es bedeutet, daß es keinen Schutz gibt, keine abschreckenden Maßnahmen, die “der Staat” ergreifen würde. Er könnte es. Jedoch sprechen die Signale, die er aussendet, eine andere Sprache.
Sven Ebert: Er wohnt eine gute halbe Stunde entfernt von uns am Stadtrand von Halle in Hohenschönweiden. Sein Haus ist der Landsitz eines Schotten: Ebert hat vor zwei Jahrzehnten einen eigenen Clan gegründet, tritt im Kilt auf, serviert Whisky, bläst die Lure und war als Veranstalter der Highland-Games in Halle eine Größe.
Alles an Ebert ist stabil, schwer, kräftig, begeistertes Machen und nicht ohne Selbstironie. Er ist ein Alleinunterhalter, eine exzentrische Figur, der frühvergreisten Mandatsträgervernunft seiner eigenen Partei unheimlich oder peinlich oder beides. Seine Metaphern und Wortsalven sind ungeschützt, direkt, manchmal schief, immer laut, immer von Herzen. Als Unternehmer ist er ein extrem erfolgreicher Stratege.
Wir lernten ihn kennen, als er in Halle Plakatwände mit dem Konterfei Pirinccis und dem Cover von dessen Bestseller Umvolkung vollhängte und für Lesungen warb. Damals war Ebert noch Mitglied der grünen Partei, ein Urgrüner – einer also, dessen Grillfleisch von wirklich glücklichen Tieren stammt und bis auf die letzte Gabel verzehrt werden muß, wenn man bei ihm am Tische sitzt.
Ebert organisierte hochkarätige Lesungen und Diskussionen, Patzelt war bei ihm, volles Haus, offene Gespräche, und immer ein großzügiges Buffet und Getränke und ein schottischer Ausklang.
Bärenkraft, Mut, kein Mann für Fraktionszwänge und Netzwerker-Nettigkeiten, offenes Visier, Klarname, ganzer Einsatz: Und so einem fackeln die den Fuhrpark ab. Das ist ja noch nicht einmal Rotfront oder SA. Das sind kleine, feige, anonyme Arschlöcher.
Ebert hatte von denen mal ein paar erwischt, die gerade dabei waren, AfD-Plakate zu zerstören. Er hat mit denen noch nicht einmal Highland-Games veranstaltet, also Baumstammwerfen oder so, bloß gestellt hat er sie, bis die Büttel kamen. Aber angezeigt wurde natürlich er.
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Wo wir gerade bei der Anonymität sind: Nach Höckes Fernsehduell gegen seinen CDU-Herausforderer Voigt war gleich das Netz voll mit Bewertungen, Analysen und Kritik – letztere auch von rechts, letztere fast immer mit sprechenden, also eitlen Pseudonymen, die das natürlich alles besser gemacht hätten, weil sie es besser wissen, immer.
Bloß: Bescheidwisserei ist noch kein Machen. Die Versuchsanordnung war also folgende:
- Höcke gegen Voigt, zwei Moderatoren, also Höcke gegen Voigt und zwei Moderatoren;
- hängende Verfahren, also Sorge, wieder ein Wort zu sagen, eine Wendung zu verwenden, aus denen man Stricke drehen könnte;
- überhaupt: der Nackengriff der Demokratie – dieses verschwiemelte Suggerieren, Unterstellen, Verdächtigen;
- ein Millionenpublikum, das mit den Propagandamitteln einer antideutschen Staatsidee beharkt werden würde, währenddessen und danach.
- der Druck, diese Show und Chance zu verhauen;
- wissen, daß man hinterher “kommentiert” wird, daß man der Gesellschaft des Spektakels eine Show lieferte, liefern mußte.
Sich in eine solche Situation zu stellen – das macht nicht jeder, das besteht längst nicht jeder. Höcke muß das alles machen, er muß bestehen, denn Politik ist Zehnkampf, für Spitzenpolitiker befohlener Zehnkampf, sozusagen. Egal, ob man hier Stärken und dort Schwächen hat: Zehnkämpfer können keine einzige Disziplin abwählen, sondern müssen antreten, immer. Die Summe macht’s. Höcke und andere seines Kalibers stehen im Training, müssen sich messen – und schlagen sich gut!
Von Höcke und Ebert weiß man, wo sie wohnen, wo man sie findet, daß sie Frau und Kinder und einen Ort haben. Sie sind ausgesetzt, sie fechten nicht unter Pseudonym, sie haben keine zweite Existenz.
Anders ausgedrückt: Suchte man unter den Schlaubergern einen, der selbst in den Ring steigen würde, weil gerade kein Höcke verfügbar wäre, käme es zu einer Drängelbewegung nach hinten …
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Eben schrieb ein Leser, man könne noch erwähnen, daß unsere Arbeit hier in eine kleine, miese CDU-Patrone umgegossen und gegen Höcke abgefeuert wurde: ob er seine “Ideen aus dem Nazischloss in Schnellroda” beziehe. Tatsächlich nahm ich’s wahr, vergaß es aber sofort wieder – wie immer, wenn einer verbal am Ende ist und aus uns Nazis macht, die Bücher verlegen …
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Sonntag, 7. April
Das Schwierige am Beruf des Verlegers und Publizisten ist, daß man es sagen muß, wenn man sprachlos ist. Als ich gestern Spiegel-online aufsuchte, um zu schauen, was das Leitmedium unserer Transformationsregierung derzeit auf die Agenda setzen und in die Köpfe befördern möchte, war ich geneigt zu schweigen, nachdem ich das etwas weiter unten dokumentierte Bild gesehen hatte:
Es scheint, daß dann, wenn die Guten gegen die Bösen Krieg führen oder wenn es eben der Spiegel ist, der etwas formuliert (und sei es nur eine Überschrift) – daß dann also alles sagbar und ganz logisch ist, weswegen uns der Verfassungsschutz seit Jahren die Haut abzuziehen versucht.
Ich kann auf den im screenshot sichtbaren Familienbildern der ukrainischen Genpool-Rettungsstelle beim besten Willen keinen Neu-Ukrainer ausmachen, also einen aus Afghanistan, Nigeria, Syrien oder so. (Neben den weißen Kindern, Eltern, Frauen sehe ich bloß ein paar Ikonen, also ist das alles gesegnet, sogar.)
Ich will meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, daß ehemalige Ost-Polen darunter sind, oder Ruthenen und Bessarabiendeutsche. Aber das wäre ja alles durch das gedeckt, was wir sagen, seit wir uns politisch artikulieren können: Ukrainer ist, wer ukrainische Eltern hat (Genpool!). Ukrainer ist aber auch, wer Ukrainer werden will und die Sache der Ukraine ganz und gar zu seiner Sache macht (Assimilation!).
Ersetze “Ukrainer” durch “Deutscher” – dann bist du ein Fall für den VS. Dreh es wieder um, dann darfst du ein Röhrchen füllen, damit der Genpool nicht ausdünnt, denn wir alle wissen, daß es die Besten sind, die fallen, also die Besten, die das Volk aufzubieten hat, das Kollektiv, das wahrnehmbar anders ist als andere und sein So-und-nicht-anders-sein verteidigen und WEITERGEBEN will. Punkt.
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Während ich dies schrieb, entfiel mir, worüber ich noch schreiben wollte. War es die Attacke eines Syrers, der in Wangen im Allgäu eine Vierjährige niederstach? Wangen – das gehört zu meiner Heimat, das war mit dem Fahrrad erreichbar, dorthin radelten wir manchmal am Wochenende, denn es gab dort eine ausgezeichnete Buchhandlung und ein alternatives Kino, und ins humanistische Spohngymnasium in Ravensburg (Latein, Griechisch) pendelten die fernsten externen Schüler aus Wangen an, jeden Morgen sehr früh schon unterwegs.
Habe ich je notiert, daß Klaus Schwab, also der Davos-Schwab, der Weltwirtschaftsforum-Schwab, an ebendiesem Gymnasium das Abitur abgelegt hat, also ordentlich vor meiner Zeit? Ich selbst schriebs 1990, in Deutsch, Mathematik, Geschichte und Altgriechisch, und jetzt kommts: Auf Wikipedia sind im Anschluß an die Geschichte der Schule und die Liste der Rektoren sogenannte “Persönlichkeiten” aus der Schülerschaft aufgeführt.
Natürlich Klaus Schwab, aber eben auch ich. Das ist doch mal fair. Von dem Kirchenmusiker Reiner Schuhenn an kenne ich sie alle noch persönlich, die reüssierten mit ihrem Können schon während der Schulzeit. Ich war auch bereits damals in meiner Branche unterwegs: vier Jahre lang Chefredakteur der Schülerzeitung, “spohntan” hieß sie. (Erst vor einem Jahr sandte mir ein fünf Jahre jüngerer Schulkamerad alle von mir verantworteten Ausgaben gescannt zu – so richtig schöne Fingerübungen.)
Aber weiter: Johannes Braig beispielsweise steht auch auf der Liste. Er ist der Sohn des Schulrektors, über den ich im Vorwort zum Gesprächsband Unsere Zeit kommt (mit Karlheinz Weißmann) schrieb: Der alte Braig hatte mich ins Rektorat gerufen, als die Mauer fiel, 1989, denn ich war Schülersprecher und kam sehr gut mit diesem strengen, fairen, unfaßbar gebildeten und von einer seltsamen Melancholie umgebenen Mann aus.
Sein Sohn nun, Johannes Braig, hielt den Schulrekord über 3000 Meter. Johannes lief mit offenen Schnürsenkeln, sie waren sehr lang, und er sagte mir, daß er das mache, um seine Schrittlänge zu halten. Er gewann als Abiturient einen Kunstpreis, weil er aus Ton eine Vase zu formen in der Lage war, die als perfekt galt. Als ich selber an der Töpferscheibe im Kunstraum eine Vase zu gestalten versuchte, begriff ich, daß er den Preis zurecht verliehen bekommen hatte. Ich vermisse diesen Ernst.
Was erzähle ich da? Ich könnte noch viel mehr erzählen, zu jedem aufgeführten Schüler, auch etwas über die Lehrer, von denen zumindest einer sich meldete, als Schnellroda so sehr bekannt wurde und in den Focus geriet. Er meldete sich und lobte unsere Arbeit. Aber er fügte hinzu, daß ich nie vergessen sollte, was er immer im Unterricht gesagt hatte, wenn es um Hobbes und den Leviathan ging: Der Mensch ist dem Menschen ein Mensch, und das sei zugleich besser und schlimmer als wenn der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. (Als ob man so etwas vergessen könnte!)
Jedenfalls: So fädelte sich gestern, beim Kartoffelnlegen, ein Gedanke an den anderen, ausgehend von Wangen und dem niedergestochenen Mädchen – und beim Lehrer noch längst nicht zuende. Dieses Fädeln ist ein Ordnen, ein Aufrufen, ein Ablegen und eine Einbettung. Genpool, jaja – aber eben auch Prägung, vor allem Prägung, ein Dünger aus Erinnerung und warmem, sattem, nährendem Bild. (Und dann biegt ein Klaus Schwab so ganz anders ab! Tsts …)
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Mittlerweile: 320 Anmeldungen fürs Sommerfest – 180 freie Plätze noch.
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Freitag, 22. März
Der Schriftsatz, mit dem die Potsdamer Ausländerbehörde, Fachbereich Ordnung und Sicherheit, den “Verlust des Freizügigkeitsrechts in der Bundesrepublik Deutschland” gegen Martin Sellner feststellt, für zunächst drei Jahre, ist: Zirkelschluß, Unterstellung, logischer Offenbarungseid, Maßstabslosigkeit, ein Dokument der “Herrschaft des Verdachts” und das eines begriffswirren Sprachregimes.
Leute wie Armin Pfahl-Traughber, Matthias Quent, Anetta Kahane, Andreas Speit, Georg Restle und Volker Weiß haben ganze Arbeit geleistet: Sie haben Wörter ins Schwammige umgedeutet, mit einer gerichtsfesten Aura versehen und die Technik der Unterstellung in den Rang einer wissenschaftlichen Methode erhoben.
Behörden schreiben von agitierender Publizistik und “Wissenschaft” ab. So ist im Schriftsatz das “hetzerische, gewaltbejahende und menschenverachtende Potenzial” Sellners ebenso Thema wie der Umstand, daß Ethnopluralismus nichts anderes bedeute als “ausgrenzenden Nationalismus” und “Fremdenfeindlichkeit”. Selbst eine Forderung nach “weitgehender Wahrung der Homogenität der Bevölkerung” sei bereits verfassungsfeindlich, und nicht erst dann, “wenn Homogenität in ihrer Absolutheit gefordert wird”, undsoweiter.
Die zuständige Behörde schreibt sogar, sie gehe “in der Summe meiner Feststellungen” davon aus, daß Sellner durch sein Agieren “die historische Verpflichtung Deutschlands für den Holocaust als Grundlage unseres Staatswesens negiere”. Nicht nur die in diesem Satz geäußerte Unterstellung, sondern seine ganze Konstruktion ist abenteuerlich.
Martin Lichtmesz wird sich zu Sellners Fall ausführlich äußern und den Schriftsatz so genüßlich zerlegen, wie nur er es kann. Aber das Genüßliche wird Sellner nicht weiterhelfen, es rückt nur unseren Blick auf diese Farce zurecht und kann uns helfen, den Humor nicht zu verlieren.
Aber könnte, nein sollte der Ansatz, unser Ansatz nicht wenigstens parallel zu den Kommentierungen der Macht, die in den Händen der Feinde liegt, ein ganz anderer sein? Vielleicht haben wir zuviel Zeit damit vergeudet, auf Argumente der Gegner und Feinde einzugehen – also dort noch immer auf die Macht des Arguments zu setzen, wo es nur noch um Macht geht, die ohne Argumente auskommt.
Unser Ton, der nie weinerlich ist, hat bereits aufgrund dieser Versuchsanordnung etwas Bittendes, einen Verständnis heischenden Grundton. Davon müssen wir uns lösen, in diesem Punkt waren wir früher schon weiter: Wir werden diejenigen nicht überzeugen, die den Einsatz ihrer Machtmittel nur noch dürftig kaschieren. Aber wir werden diejenigen begeistern, die ebenso angriffslustig, radikal, verblüffend, kreativ, schonungslos, rabiat, tatsächlich begabt für den Sprung ins Offene auf die Zumutung unserer Zeit antworten möchten wie wir.
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Ein Leserbrief zur Debatte um den Film “Zone of Interest” über das Alltagsleben der Familie Höß neben Auschwitz. Ich bringe ihn in voller Länge. Der Verfasser nennt sich sprenkler@… , aber was er schreibt, klingt nicht nach Wasserdüse und Rasenfläche, ganz und gar nicht:
Ich las gerade die Filmbesprechung über “Zone of Interest” auf Ihrem Blog. Interessant, wie unterschiedlich man aus derselben Ecke auf Dinge blicken kann. Es stimmt schon, der Anfang setzt die Meßlatte hoch, vieles danach kommt aber darunter zu liegen. Nicht optisch, die Bilder waren durchgehend stark: jedoch hört der Film spätestens zur Hälfte hin auf, nur zu zeigen und beginnt zu erzählen, ist dabei nicht nur einmal aufdringlich und plump.
Hedwig spaziert samt Mutter durch den Garten und redet versonnen über Blumen und Schwimmbecken, während man im Hintergrund Schüsse hört? Bitte, diese Botschaft kann man auch eleganter herüberbringen.
Rudolf verkündet seine Versetzung, Hedwig fürchtet, das wundervolle Grundstück neben Ausschwitz I zu verlieren und läßt die Wut an den anderen aus? Verstehe, deutsche Frauen schießen nicht, deutsche Frauen sind verdammt gemein zu polnischen Dienstmädchen und denken nur an die Azaleen, nicht an das Grauen hinter der Mauer.
So tritt also jeder auf seine Weise nach unten, während man den Blick stehts aufs Ziel gerichtet hat, Volk und Blumenbeet.
Dieser Film hat keine Ausdauer. Immer wieder versucht er, wirklich ungewöhnlich und nicht direkt zu sein und jedes Mal aufs Neue hält er nicht durch, als würde ihm plötzlich die Ungeheuerlichkeit seiner eigenen Botschaft bewußt werden. Also gleich nochmal das Gezeigte, aber sicherheitshalber unverschleiert diesmal, nur, damit keine Mißverständnisse aufkommen. Nie wieder.
Das polnische Mädchen im Negativ wirft beim ersten Mal Fragen auf, beim zweiten Mal leuchten die Äpfel weiß hinter schwarzen Schaufeln, und man versteht plötzlich, was sie tut. Warum hier noch weitererzählen? Warum ihr auf dem Weg nach Hause folgen, den Filter lüften und so mit der unwirklichen Stimmung brechen? Warum wieder direkt? Jetzt weiß man, sie ist Polin, im Widerstand und spielt Klavier. Silesia Film im Abspann, und man denkt sich zum zehnten Mal, wie faul und feig die Themenwahl ist.
Zugegeben, die Wut aufs Publikum half nicht: Almanknechte und Michelfressen, alle mit hängenden Schultern. Plötzlich war sich jeder bewußt, Vorfahren zu haben, plötzlich nicht mehr zufällig auf diesen Flecken Erde geworfen, stattdessen blutige Hände und Zähne unter den Sohlen. Und jeder dieser Vorfahren war Lagerleiter im Osten. Wir müssen alles besser machen. Viel besser.
Samstags, nach der Vorstellung, ging es mit diesem Besser gleich gut weiter: Martin Sellner wurde aus der Schweiz abgeschoben. Ein Anfang, immerhin.
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Es ist der Demokratie nicht zuträglich, daß alle zum Bekenntnis derselben Meinung genötigt werden. Das Bild stammt von der Eröffnungsveranstaltung zur Leipziger Buchmesse, die noch bis Sonntag läuft. Ich würde gern diejenigen zu einem Abendessen in einer guten Leipziger Gaststätte einladen, die den “Welle”-Effekt, den Gleichschritt unterliefen und kein Schild in die Höhe hielten.
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Samstag, 9. März
Warum ich mich, immerhin gedient und sogar einsatzerfahren, nicht ausführlich zur Causa jener vier hochrangigen Offiziere äußerte, deren lässiges Gespräch über den Einsatz von Lenkraketen geleakt worden ist? So fragte nicht nur einer.
Ganz einfach: Es ist irrelevant, was ich dazu zu sagen habe. Detailwissen, kenntnisreiche Spekulation, was haben wir (wir?) falsch gemacht, was können wir besser machen – alles völlig egal.
Mein Einwurf würde aus dieser Armee nicht wieder meine, unsere Armee machen. Diese Zeiten sind vorbei. Das sage ich nicht als beleidigte Leberwurst, sondern als jemand, der zu viele gute Soldaten frustriert hat aufgeben und zu viele gute Männer erst gar nicht zum Zuge hat kommen sehen. Der Substanzverlust ist brutal, die Auslese absurd, darüber täuschen ein paar gute Bataillone nicht hinweg.
Wozu also kommentieren, wenn wir gar keinen Standpunkt mehr einnehmen müssen? Man staunt darüber, was auf Karriereleitern ganz oben angekrabbelt kommt. Man will niemals von solchen Männern geführt werden.
Und im nächsten Moment wird einem speiübel, denn die Strack-Zimmermann faselt und wettert wieder einmal, gestern gegen des Papstes sanften Vorschlag, man solle der Realität ins Auge sehen und der Ukraine empfehlen, sich dringend mit Rußland an den Verhandlungstisch zu begeben. Da kehrt also ein liberaldemokratischer Doppelname, eine katholische Bürste, die männlichen Reste ukrainischer Jahrgänge an die Front.
Das sind wir, das ist das, was das Ausland sieht. Und mithört. Das war’s, oder?
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Höcke rief an. Wir wollen bald wieder ein Stück wandern und in Ruhe sprechen. Aber deswegen rief er nicht an. Er teilte nur kurz mit, daß seine “Immunität”, die ihn als Teil der Legislative vor der Willkür der Exekutive schützen sollte, nun zum achten Mal aufgehoben würde. Das ist in der Geschichte des Parlamentarismus in der BRD einsame Spitze.
Vor allem aber ist es nicht lustig, überhaupt nicht sogar. Zwar wird jedes Schwert zum schartigen Küchenmesserchen, wenn man es zu oft und am falschen Material einsetzt – der drohende Klang der Schlagzeile “Verlust der Immunität” hat sein Potential längst verspielt; aber das ist es ja gerade: Woher soll denn noch Respekt vor staatlicher Institution kommen, wenn ihr Mißbrauch zutage liegt und ihre Kraft verschleudert wurde?
Höcke wird sich mitten im Wahlkampf in drei Gerichtsprozessen gegen die Unterstellung zur Wehr setzen müssen, Meinungsdelikte begangen zu haben. Gerade in seinem Fall liegt der Argumentationskringel, der Selbstbestätigungskreisel aus politischem Gegner, denunziatorischem Journalismus und Inlandsgeheimdienst offen zu Tage: Medienvertreter recherchieren etwas, das für den Verfassungsschutz relevant sein könnte und schreiben später, daß man das beim “Dienst” ebenfalls so sehe.
Was Höcke schmerzt, ist nicht die Aufhebung seiner Immunität – er ist sowieso für die Abschaffung dieses Nicht-Schutzes: Er diene mittlerweile nur noch dazu, aufgehoben zu werden und beim ersten Mal den Bürger in jedem von uns zu erschrecken. Aber selbst an die Aufhebung der Immunität könne man sich gewöhnen. Sagte es – und lachte dann doch.
Was ihn wirklich schmerzt, ist der Zeitverlust. Sich mit Grotesken beschäftigen zu müssen, während sein Bundesland vor der Wahl steht – das ist schwer zu ertragen.
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Die Sellner-Festspiele sind auf ihrem Höhepunkt angelangt. Zwar war gestern Sonntag, aber auch der Tag des Herrn sah Sellner im unermüdlichen Einsatz mit dem Vorschlaghammer: Sellner drischt den Begriff “Remigration” in die Köpfe, diesmal auf dem Balkon des Gebäudes der EU-Agentur in Wien, mit riesigen Bannern (man beachte das Flugzeug im “R”) und einer Megaphon-Ansprache.
Als ich ihn ans Telefon kriegte, war er gerade vom Gebäude runter und hatte den Polizisten seine Personalien angegeben. Er war sehr zufrieden, denn mit etwas Laufschritt und günstiger Ampelschaltung würde er es noch rechtzeitig zu einem Essen schaffen, zu dem seine Familie eingeladen war. Andere würden sich feiern lassen, trügen ihre Schützengrabengeschichte wochenlang vor, zuletzt vermutlich in Reimen – so nicht Sellner.
Er ist der Pop-Star der Szene, wir haben ihn unter Vertrag. Die 1. Auflage seines Buches Remigration. Ein Vorschlag, 8500 Exemplare, wird Ende März vergriffen sein. Auch die 5. Auflage von Sellners Regime Change von rechts schmilzt ab, und der mit Martin Lichtmesz geführte Disput Bevölkerungsaustausch und Great Reset wird bereits nachgedruckt – er ist seit Wochen vergriffen.
Für uns als Verlag interessant ist das wiederkehrende Problem des Papiermangels. Wir drucken auf hochwertigem Offset-Papier, gelblichweiß, 80 oder 90 Gramm, nichts Ungewöhnliches für die Lieferanten unserer Druckereien, sogar sehr gängig für jeden Verlag, der in Deutschland drucken läßt. Aber die Lage ist derzeit wieder so kritisch, daß wir mit der 2. Auflage das gesamte rasch verfügbare Kontingent ausreizen werden, obwohl selbst damit nicht die gewünschte Stückzahl wird realisiert werden können. Eine Entspannung der Lage ist erst für April signalisiert worden.
Sellner, dessen Twitter-Account gestern wieder freigestellt worden ist, hat sich übrigens sehr über die Druckqualität und die Farbgebung seines neuen Buches gefreut. Er hat es seit Freitag auf dem Tisch und signiert derzeit 200 Exemplare für einen ganz besonderen Kunden. Das ist eine große Ausnahme, ich bitte darum, von Nachfragen abzusehen!
Aber wir planen natürlich mit Sellner als Gast auf unserem diesjährigen Sommerfest. (Den Termin sollten Sie sich vormerken, wir werden wiederum nur 500 Gästen Platz bieten können: Wir feiern am 13. und 14. Juli – aber bitte: Melden Sie sich NOCH NICHT an. Wir geben den Startschuß nach Ostern!)
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(Ergänzungen, Fundstücke und kritische Anmerkungen richten Sie bitte an [email protected]. Ich werde ausbreiten, was sich ansammelt.)
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Samstag, 24. Februar
Moskau war die erste Stadt, in der man mit sogenanntem Face Pay die U‑Bahn benutzen konnte. Filipp Fomitschow, ein junger russischer Wissenschaftler, der vor einer Woche im Rahmen unserer Winterakademie zum Thema “Die ideologische Landschaft Rußlands” referierte, erklärte es mir: Man hält sein Gesicht in eine Kamera, nur für eine Sekunde, dann geht die Schranke auf, man hat bezahlt und kann fahren.
Ich habe nachgeschaut, es stimmt: Seit Oktober 2021 funktioniert dieses System an 240 U‑Bahnhöfen Moskaus. Fomitschow selbst nutzt Face Pay nicht, aber er berichtete, daß sehr viele Moskauer diesen Dienst nutzten und nichts dabei fänden. Überhaupt habe es ihn gewundert, daß es in Deutschland noch immer etliche Geschäfte gebe, in denen man Bargeld akzeptiere oder sogar ausschließlich annehme. Zwar sei in Rußland der Unterschied zwischen Moskau und Provinz enorm; jedoch bargeldlos bezahlen: Das könne man in jedem Kiosk.
Aus dieser Schilderung heraus entwickelte sich ein Gespräch über die Technik und die Moderne, konservative Kulturkritik und das Nebeneinander von Spitzentechnologie und Folklore, Weltformat und Eigentlichkeit, Messerschmidt Me 262 und Braunhemden-Auftanz, Face Pay und Stellungskrieg wie vor über hundert Jahren.
Warum erzähle ich das heute? Vor zwei Jahren griff Rußland die Ukraine an. Unsere Rußland-Akademie kam und unsere Rußland-Sezession kommt jedoch ohne eine Zeile über diesen Krieg aus. Grund ist die tiefere Absicht hinter Akademie und Heft: Wir wollten erstens Rußland entromantisieren und ein ambivalentes, uneinheitliches, disparates Bild von dieser Weltmacht vermitteln. Zweitens sollte aber der geistige Raum dieses großen und großartigen Landes geöffnet werden.
Beides ist geglückt, wirklich. Fomitschow trug entscheidend dazu bei, aber auch Lehnert mit seinem Vortrag über die Deutschen und die Russen und ihre Nahferne, Dušan Dostanić mit der schwierigen und leider oft bloß pauschal erzählten Geschichte zwischen Serbien und Rußland und natürlich Ivor Claire, der eine geostrategische Skizze zeichnete und alle Knabenmorgenblütenträume mit Verweisen auf Machtlosigkeit und Wunschdenken wegwischte und die Verantwortungslosigkeit Verantwortungslosigkeit nannte.
Gucklöcher nannte Peter Handke das, was uns vorgestanzt auf Länder, auf Schuld und Glanz blicken läßt, und mindestens hinterfragen sollten wir stets, wer der Stanzer war. Besser noch: weg mit der Bretterwand, freier Blick, mit denen reden, die schonungslos schauen. Das haben wir getan, ein langes Wochenende und 80 Heftseiten lang, und es hat mir sehr gut getan, sehr.
Auch deswegen: An einem Abend, also jetzt gerade vor genau einer Woche, versammelten sich von den hundertfünfzig Teilnehmern zwanzig in unserer Bibliothek und hörten einem Sprecher zu, wie er eine Stunde lang auswendig russische Lyrik rezitierte, übersetzt natürlich. Alexander Puschkin, Michail Lermontow, Iwan Turgenjew, Alexander Block, Nikolaj Gumiljow und Anna Achmatowa – ich sagte zu Lehnert, als wir danach wieder nach vorn in den Gasthof pilgerten, daß alleine so etwas die Arbeit von zwanzig Jahren lohne und daß so etwas die linken Penner, die morgen demonstrieren würden, sicherlich nicht für möglich hielten und ganz sicher noch nie erlebt hätten.
Eine Woche ist es erst her, und heute kam Post von einem, der auf ukrainischer Seite an der Front steht. Ich kann ihn ganz verstehen, auch, wie sehr der Loyalitätsraum auf die Kameradschaft zusammenschnurrt – eine Erfahrung, die unsere jungen Männer allesamt nicht mehr machen können, die ihnen vorenthalten wird, denn erfahrbar ist sie schon, wo man mal zwei Wochen am Stück in einem naßkalten Waldstück liegt und das übt, was nun an der schrecklichen Ostfront wieder gekonnt werden muß.
Und wir haben in unseren Youtube-Kanal den anderthalb Jahre alten Vortrag von Professor Neuhoff (AfD NRW, Europalistenplatz weit vorn) wieder eingestellt – er handelt vom Konflikt und vom Krieg in der Ukraine, paßt also zum heutigen Datum. Neuhoffs Vortrag erscheint erneut und just dann, wenn er sich heute und morgen inmitten der nordrhein-westfälische AfD über der Frage, ob man sich von der JA distanzieren solle, zu positionieren hat. Man benimmt sich dort, als hätte man nichts gelernt und nichts kapiert.
Das sind jetzt Fetzen, Stückchen, daraus kann die Politik kaum etwas ableiten, und vehement redete ich, wie auf jeder Akademie, gegen zuviel Theorie und vor allem gegen Jargon und geschlossene Gebäude an. Wir stochern uns voran, stecken erkundete Stücke ab, das ist viel. Der Standpunkt ist dabei immer Deutschland, wen wundert’s.
(Das Rußland-Heft der Sezession gibt’s hier und Neuhoffs Vortrag da.)
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Donnerstag, 15. Februar
Vor Jahren war ich mit der Familie am Monte Cassino, südlich von Rom. Wir waren dort nicht der wiederaufgebauten Gründungsabtei des Benediktinerordens wegen, sondern um den deutschen Soldatenfriedhof zu besuchen, auf dem rund 20 000 Gefallene beerdigt sind. Dieser Friedhof ist einer der schönsten und würdigsten, die ich kenne.
Die Deutschen verteidigten 1944 die sogenannte Gustav-Linie vier Monate lang gegen die Vielvölker-Armee, die unter US-amerikanischer Führung von Süditalien her anrannte: Neuseeländer, Engländer, Inder, Exilpolen, sogar Brasilianer. Die Monte-Cassino-Schlacht gilt als eine der längsten und für beide Seiten verlustreichsten Schlachten des II. Weltkriegs. Sie wird von der Militärgeschichtsschreibung in vier Abschnitte aufgeteilt.
Mich interessiert heute, daß die Deutschen auf Befehl des Oberbefehlshabers Feldmarschall Albert Kesselring das Kloster auf dem Monte Cassino nicht zur Festung ausbauten: Zu wertvoll sei dieses Kulturgut. Der Abt des Klosters bestätigte nach dem Krieg, daß sich die deutschen Stellungen gemäß Befehl 300 Meter vom Kloster entfernt befanden – und daß kein deutscher Soldat diesen Befehl unterlief.
Kesselring hatte den Alliierten diese Maßnahme zur Kenntnis gebracht, und die Gegner fanden im Verlauf der ersten Schlacht um die Gustav-Linie keinen Beleg dafür, daß die Deutschen nur eine Kriegslist angewendet hätten.
Die zweite Schlacht sah einen alliierten Angriff auf die Cassino-Stellungen der deutschen Fallschirmjäger vor. Sie begann am 15. Februar 1944, also vor 80 Jahren, mit erheblichen Verlusten für die Angreifer. Daraufhin bat der neuseeländische General Freyberg um Luftunterstützung und um die Bombardierung des gesamten Berges.
225 Bomber luden rund 500 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf das Kloster ab. Es wurde vollständig zerstört, etwa 400 Mönche und Zivilisten kamen um, aber kein einziger deutscher Soldat. Denn erst nach der Zerstörung richteten sich die Deutschen in den Trümmern ein und bauten die Ruinen zu einer praktisch uneinnehmbaren Festung aus.
Kunstschätze, die unfaßbar wertvolle Bibliothek und die Gebeine des Ordensgründers, Benedikt von Nursia, waren zuvor unter Mithilfe von Truppen der Fallschirm-Panzer-Division Hermann Göring in die Engelsburg in Rom ausgelagert worden.
Da unsere Familie eine besondere Beziehung zum Orden der Benediktiner pflegt, ist der 15. Februar nicht nur der letzten Angriffswelle auf Dresden wegen ein schwarzer Tag.
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Mittwoch, 7. Februar
Sechs Tage lang war Martin Sellners noch nicht erschienenes Buch Remigration. Ein Vorschlag beim Internet-Riesen Amazon auf Platz 1 der bestverkauften Bücher.
Telefonate ergeben ein Volumen von bisher rund 7000 vorbestellten Exemplaren allein über diesen einen Anbieter. Jedoch will Amazon den Inhalt des Buchs zunächst prüfen. Nun diskutieren wir mit Sellner und erfahrenen Buchhändlern darüber, wie wir damit umgehen sollten.
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Die Lage der nationalen Opposition in Deutschland, der wir angehören, hat sich weiter verschärft: Die Jugendorganisation der AfD, die Junge Alternative (JA), hat ein Eilverfahren gegen ihre Einstufung als “gesichert rechtsextremistisch” verloren. Ein Verwaltungsgericht in Köln hält diese Einstufung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz für rechtmäßig: Die JA vertrete einen an der Abstammung ausgerichteten, also ethnischen Volksbegriff und verstoße damit gegen das Prinzip der Menschenwürde, weil sie Abstammungsdeutsche von Paßdeutschen unterscheide und Wert darauf lege, daß erstere in der deutlichen Mehrheit blieben.
Die JA vertritt also einen Volksbegriff, wie er von der überwältigenden Mehrheit aller Nationen und Völker weltweit als Selbstverständlichkeit angesehen wird und wie ihn auch Deutschland etwa im Rahmen der Definition und der privilegierten Behandlung deutschstämmiger Rücksiedler aus ehemaligen Auswanderergruppen zugrundelegt.
Aber es ist wie längst schon: Die Verteidigung der Normalität wird kriminalisiert von Leuten, die im Sinne machthabender Altparteien agieren und Begriffe verbiegen, weil sie von eben diesen Altparteien zum Schutz des Altparteienstaates eingesetzt worden sind.
Gefährlich ist dieses Affentheater für die JA, weil sie als Verein organisiert ist – wie übrigens jede Parteijugend. Vereine kann das Bundesinnenministerium mit einem Federstrich verbieten, sofern das, was der Verein tut, gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt und/oder sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet.
(Auch hier wieder das Wort “Völker”: Welche wie verfaßten sind gemeint? Diejenigen, die ethnokulturell als unterschieden von anderen wahrnehmbar sind, soll es ja gar nicht mehr geben.)
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Wir alle rechneten für das so wichtige Wahljahr 2024 (Europaparlament und drei Landtage im Osten) mit massiven Störungen und Verzerrungen des in geordneten Bahnen vorgesehenen Wettbewerbs um Stimmenanteile. Die vergangenen Wochen und jetzt die massiv aufkeimenden Verbotsdiskussionen, die auf den Partei-Rückraum, auf die Vereinsstrukturen des Vorfelds zielen, haben gezeigt: Unsere Vermutung war und ist begründet.
Nicht, daß nicht zuvor schon unlauter agiert worden wäre von Seiten derer, die an der Macht sind: Aber die Unverfrorenheit, mit der ein „Geheimtreffen in Potsdam“ nicht nur erfunden, sondern mit toxischem Inhalt aufgeladen und begrifflich in die Nähe nationalsozialistischer Eliminierungsbeschlüsse gerückt wurde, hat selbst uns überrascht.
Schockierender noch als die Erfindung und Platzierung dieser Kampagne an sich ist der Umstand, daß ihre Absicht medial nicht hinterfragt, sondern unterstützt wurde und daß diese Unterstützung sich auf wiederum stark staatlich geförderte Massendemonstrationen gegen die AfD ausdehnte, obwohl das Demonstrationsrecht nicht dafür gedacht ist, daß Regierungsparteien, also Machthaber, es für sich in Anspruch nehmen, um damit gegen die Opposition zu agitieren.
Wie stets weiß niemand von uns, ob wir uns durch unseren Widerstand und die erneute Straffung der Oppositionsarbeit genau dorthin begeben, wo uns der Gegner haben möchte.
Jedenfalls hat die verlogene Kampagne für Tage und Wochen fast alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie hat sie dadurch von anderen Ereignissen und Themen abgelenkt. Ganz sicher waren und sind diese anderen Themen wichtiger als die Tatsache, daß sich ein paar Leute in Potsdam trafen, um über ein Thema zu sprechen, das zum Kern jeder nationalen Opposition gehört: über die notwendige Schubumkehr von Migrationsströmen. Es sollte sich also lohnen, zusammenzustellen, was unter den Tisch fiel. (Natürlich die Bauern- und Handwerkerproteste, aber auch sie sind eher ein Kräuseln an der Oberfläche.)
Und noch dies: Es hat sich in den vergangenen Wochen – wie stets in kritischen Phasen – herausgeschält, wer sich nicht nur an die politische Front wählen ließ, sondern fronttauglich ist und seinen Sold zurecht einstreicht. Der Weg zur Gestaltungsmacht und zu Deutungsanteilen im vorpolitischen Raum ist kein Ponyreiten, und vielleicht ist das, was seit Mitte Januar aufgeführt wird, nur eine Fingerübung.
Mag sein, daß dies nicht jedem klar war, der sich exponierte. Aber jetzt muß es jedem klar sein, und jeder sollte begriffen haben, daß auch in diesem Staat (oder gerade in diesem) keiner von denen, die seit Jahrzehnten die Macht haben, bereit ist, Macht kampflos abzugeben und daß diese Gegner den Kampf dreckig führen werden. Ein sicheres Indiz dafür ist stets die Behauptung, man habe die Demokratie zu verteidigen gegen die Feinde der Demokratie.
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Freitag, 2. Februar
Mal ein wenig Werkstattbericht: Seit drei Tagen wird Martin Sellners Buch Remigration. Ein Vorschlag im deutschen Buchsortiment des Online-Riesen amazon auf Platz 1 geführt. Wir hielten diese Plazierung schon einmal, im Sommer und Herbst 2017, als das Kaplaken-Bändchen Finis Germania von Rolf Peter Sieferle zum Skandalbuch der Buchmesse in Frankfurt wurde.
Das Feuilleton hatte damals schockiert reagiert und Sieferles Nachtgedanken von der Spiegel-Bestsellerliste entfernt – ein bis dato einmaliger Vorgang in der BRD. (Die Bestenliste, die der NDR und die Süddeutsche Zeitung gemeinsam erstellt hatten, wurde gleich ganz aufgegeben. Sie existiert heute in geänderter Form wieder.)
Aber zurück zu Sellners Remigration (das Buch kann hier vorbestellt werden): Platz 1 bei amazon bedeutet 250 bis 1000 verkaufte Exemplare pro Tag. Man kann das nicht so genau sagen, denn es kommt auf den Druck an, den die Plazierung von hinten erfährt. Finden sich dort – im Januar wahrscheinlicher als im Weihnachtsgeschäft – eher ruhige Titel ein, kann man ganz vorn landen, ohne harte Konkurrenz abhängen zu müssen.
Auch das im letzten Sommer erschienene Buch von Sellner, Regime Change von rechts, wird hervorragend angenommen und reitet auf einer zweiten Welle: Wir liefern seit gestern die 4. Auflage aus und haben gleichzeitig die 5. in Druck gegeben. Politik von rechts von Maximilian Krah wird mitgezogen: Es lief in den Monaten davor etwas stärker als Sellners Regime Change, ist nun aber eingeholt worden. Die 5. Auflage wird ebenfalls gerade gedruckt.
In der Zeit ist aus der Feder von Mariam Lau übrigens eine ganze Seite über die Theorie-Produktion unseres Verlags erschienen. Sie hat sich neben Sellners und Krahs Büchern auch die vor gut sechs Jahren erschienenen Bände Das andere Deutschland (von Erik Lehnert und Wiggo Mann) und das legendäre Mit Linken leben (leider vergriffen) von Martin Lichtmesz und Caroline Sommerfeld vorgenommen und einen Punkt getroffen: Damals übten wir uns noch in “breite Brust”, heute haben wir sie.
Noch im Windschatten segelt ein anderer Coup. Roberto Vannacci, General der italienischen Spezialstreitkräfte, hat im vergangenen Sommer ein Brevier des gesunden Menschenverstands vorgelegt. Das Buch wurde im rechtskonservativen, also normalen Italien zum Buch des Jahres, Vannacci zunächst beurlaubt. Im Dezember aber wurde er zum Chef des Generalstabs der italienischen Landstreitkräfte ernannt – ein Skandal für deutsche Zivilgehirne, die davon ausgehen, daß Gesinnung Können ersetze.
Jedenfalls: General Vannaccis Buch wird unter dem Titel Verdrehte Welt. Eine Bestandsaufnahme zusammen mit Sellners Remigrationsvorschlag bei Antaios erscheinen. Natürlich werden wir Vannacci zu unserem Sommerfest einladen. Es könnte dann etwas luftiger im Vortragssaal zugehen, denn vielleicht werden wir zu dieser Lesung nur Gediente zulassen (und solche, die gerne gedient hätten) …
Werden sehen, wie Lage und Stimmung sich bis dahin entwickeln.
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Montag, 29. Januar
Gemeinsam mit Maximilian Krah war ich zu Vorträgen und Gesprächen in Wien und in Budapest. Reise und Programm hatten wir bereits im Dezember festgelegt. Aber ihre Aufladung erhielten die Besuche erst in den vergangenen vierzehn Tagen.
Denn in Österreich und in Ungarn, vor allem dort, interessiert man sich nun dafür, wie es möglich sei, aus einer privaten Gesprächsrunde von CDU- und AfD-Leuten ein “Geheimtreffen” zu konstruieren und es semantisch und emotional mit der Wannseekonferenz von 1942 zu verknüpfen.
In Wien waren Krah und ich zu Gast in den Räumen der Österreichischen Landsmannschaft, ÖLM. Aufgabe dieses 1880 gegründeten Vereins ist die Betreuung und Unterstützung deutschsprachiger Minderheiten im Ausland in allen Belangen. Ich hatte im Saal der ÖLM schon im vergangenen November vorgetragen, damals (es kommt einem vor wie “damals”!) zu Ray Bradburys Roman Fahrenheit 451.
Das Format war diesmal ein anderes, wir trugen nicht einfach vor, sondern antworteten stets beide auf Fragen zur Lage und zu den Hintergründen der Kampagne. Das war lebendig, man ergänzte sich und kam in Fahrt, vor allem, weil man einander nicht ausstechen wollte, sondern gemeinsam an der Lagefeststellung arbeitete.
In Budapest war es anders. Wir waren zu Gast im Institut Imre Kertész, einer aufwendig renovierten und hervorragend ausgestatteten Jugendstilvilla. Ich trug dort zehn Thesen zur “Lage der nationalen Opposition in Deutschland” vor, Krah sprach über das Europakonzept der AfD und gab danach fünf oder sechs Interviews, wobei neben regierungsnäheren auch oppositionelle Medienvertreter zum Zuge kamen (etwa hier).
Ich war im Apartement “Arthur Koestler” untergebracht, und das Gespräch mit dem Leiter des Instituts drehte sich gleich um die “Tetralogie der Schicksallosigkeit” von Kertész (von der ich nur den Band Roman eines Schicksallosen gelesen habe) und über Koestlers Sonnenfinsternis. Die Diskussion entwickelte sich in Richtung verschiedener Liberalismusbegriffe und Demokratietheorien, und ich fragte mich, als ich in der freien Stunde einiges notierte, welcher andere AfD-Politiker in der Lage gewesen wäre, auf Deutsch und Englisch über solche Themen so zu sprechen, daß es sich ins Bild vom Menschen ausweitete.
Mit Gastgeberin Mária Schmidt sprachen wir in kleinen Runden über andere Dinge. Erfreulich ist jedes Mal wieder die Offenheit und Direktheit der Leute: Dort regiert man längst, dort setzt man um, alles klug und auf Jahre hinaus entworfen. Ich habe wieder viel gelernt und konnte ungeschützt nachfragen und nachbohren. (Währenddessen löffelte ich das Mark aus aufgeschnittenen Knochen und streute Meerrettichkäse darüber – auch das mag ich so sehr an diesen Ländern, ostwärts: das Ausgebreitete.)
Das alles vor den Vorträgen. Wir hielten sie nach den Hintergrundgesprächen am späten Nachmittag. Ich werde dieser Tage meine Thesen zusammenfassen und auf Punkte konzentrieren, die meiner Meinung nach über den Tag hinausweisen und wiederum Teile dessen beinhalten, was am Vortag in Wien, in der Woche zuvor in Dortmund und im Castell Aurora in Steyregg bei Linz schon zur Sprache gekommen war.
Und ich werde diese Thesen an weiteren Orten vortragen, vor allem im Westen.
Die Lage ist surreal. Der Kandidat der AfD für das Landratsamt im Saale-Orla-Kreis holt auf dem Höhepunkt der Anti-AfD-Kampagne und unter dem Dauerfeuer eines enthemmten politischen Gegners 48 Prozent der Stimmen – gegen alle anderen zusammen; die AfD selbst verzeichnet seit zwei Wochen eine Eintrittswelle; wir selbst sammeln am laufenden Band Neuabonnenten und Erstleser ein und arbeiten im absurden Trubel wie mit Scheuklappen an den Satzfahnen der neuen Bücher von Martin Sellner (Remigration. Ein Vorschlag) und Roberto Vanacci (Verdrehte Welt. Eine Bestandsaufnahme).
Derweil vertieft der Komplex aus Staat, Parteien, Zivilgesellschaft und Kirchen den Riß bis zur Unüberbrückbarkeit. Denn das ist das Ziel der laufenden Kampagne: die Leute aufeinanderzuhetzen und dadurch Herrschaftssicherung zu betreiben. Daß dies mittels einer Verleumdung geschieht, die vom genannten Komplex durchgetragen wird, ohne nennenswerten Widerspruch, ist ein Offenbarungseid. Und es ist das, was mich am meisten erschreckt.
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Montag, 22. Januar
Das schrieb ich mal, ist vielleicht dreieinhalb Jahre her. Leser haben es ausgegraben und mir zugeschickt. Man muß also ab und an an sich selbst erinnert werden. Und “ausgraben” stimmt schon: Es ist in diesen dreieinhalb Jahren soviel an Substanz und Dreck drübergehäuft worden, daß man wirklich schachten muß. Also:
Jeder weiß doch, daß gerade eine Demokratie wie die unsere zwar ständig behauptet, nichts und niemanden zu unterdrücken, aber trotzdem nur denjenigen Abweichler akzeptiert, der sich seinen Platz machtvoll nahm oder mit einer ihm zugewiesenen Rolle zufrieden ist.
Die AfD ist mittlerweile eine starke Partei, ihr Siegeszug wirklich ein Triumph. Aber sie scheint immer dann an sich selbst irre zu werden, wenn es nach dem Triumphzug, nach den schockierenden Siegen um den Aufbau belastbarer Strukturen geht – um Disziplin und Kärrnerarbeit, nicht mehr um den Rausch der großen Protestwellen und den Zauber des Anfangs.
Die AfD – die geschnittene Partei, die von den “demokratischen Parteien” zum undemokratischen Irrläufer gebrandmarkte Partei, die einzige Oppositionspartei, der einzige Poller, an dem unser Land auf parlamentarischem Weg Haltetaue gegen seinen Untergang festlegen kann;
die AfD – zugleich Träger und Profiteur einer ungeheuren Hoffnung, gerade für den fleißigen, nicht global agierenden, nicht ortlosen, sondern verantwortungsbewußten und dadurch per se sozial eingestellten Teil unseres Volkes;
die AfD – eine Alternative für Deutschland, nicht eine für zu kurz gekommene Überläufer aus den Altparteien oder für Leute, die im Parlament oder in Abgeordnetenbüros nach einer Alternative zu ihrem bisherigen Berufsleben suchen …;
die AfD – der erträgliche Abweichler, der angekommene Gesprächspartner, der oppositionelle Teil des Spektakels: was für eine Horrorvorstellung;
die AfD – als echte Opposition, als tatsächlich alternativer Machtfaktor, als Gegenentwurf zur Altparteienverkrustung: Dafür lohnt es sich, immer wieder.
Es muß in diesem Gegenentwurf vor allem darum gehen, Widerstandstugenden vorzustellen und auszubilden:
1. Durchhaltevermögen: Deutschland braucht eine politische Alternative, das ist heute so richtig wie bei Gründung der AfD. Diese Alternative ist etwas fundamental anderes als eine Ergänzung des Altparteiensystems. Darauf, daß die AfD als Alternative gebraucht wird, muß sie vertrauen.
2. Unbedingter Zusammenhalt: Die Gegner (Parteien, Zivilgesellschaft, Medien, Staat) werden immer etwas Skandalöses finden, um die AfD zu diskreditieren – wenn beim einen nicht, dann beim nächsten.
3. Nachahmungsverbot: die Dinge anders angehen als die anderen Parteien, andere Vokabeln verwenden, den Korrumpierungskräften von Parlament und Lobbyismus ausweichen, die eigene Daseinsberechtigung daraus ableiten, daß man nicht dazugehört.
4. Beratungsresistenz: Staatlichen Institutionen wie dem Verfassungsschutz, aber auch vermeintlichen Abwägungsinstanzen keinerlei Recht einräumen, die AfD nach kompatibel und inkompatibel auseinanderzusortieren. Sich vom Gegner nicht erklären lassen, wie man für ihn akzeptabel wäre.
5. Eindeutigkeit: Wenn die AfD sich zerfasert, streitet sie. Wieso öffentlicher Richtungsstreit? Es hört doch sowieso keiner zu, es pflichtet doch den besten Vorschlägen keiner bei. Theoriearbeit, Maßnahmenkataloge: ja, für die Schublade, für später. Für jetzt nur ein Mantra: Wir leisten Widerstand gegen die vermeintliche Zwangsläufigkeit “alternativloser” Politik. Wir sind eindeutig anders als die andern. Bereits dieser Ruf reicht für Millionen Wähler.
Und zuletzt: Roger Köppel, Weltwoche, hat in einer Analyse zur Lage der AfD einmal das Bild verwendet von Pech und Schwefel, das auf diejenigen ausgegossen werde, die als Erste die Leiter hinaufkletterten, um die Burg zu erobern.
Es ist schäbig von denen, die hinterherklettern, dieser ersten Reihe die verklebten Haare und die besudelte Weste vorzuwerfen. Bloß: Den Anstand, das nicht zu tun, haben viele der Nachzügler nicht. Wer bringt ihn ihnen bei? Und wo ist die breite Brust, die sich vor diejenigen stellt, die gekämpft haben und die zurecht und mit sehr gute Argumenten verlangen können, daß die Alternative ihren Weg als Alternative weitergeht?
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Mittwoch, 3. Januar
Heute nur ein kurzer Hinweis: Ich warb zwischen den Jahren um Abonnements der Sezession und verwies auf Exemplare der Dezember-Ausgabe, die wir zusätzlich zur Buch-Prämie beilegen würden.
Dem Aufruf, die wichtigste rechte Zeitschrift deutscher Zunge zu abonnieren, folgten über 90 neue Leser – genau gesagt: 93 seit dem 28. Dezember. Das ist sehr erfreulich und ganz richtig so. Bloß bringt es uns in folgende Verlegenheit: 50 Exemplare der 117. Sezession sind beiseitegelegt, die ersten 50 Neu-Abonnenten kriegen sie, aber 43 weitere werden leer ausgehen.
Also: nicht ganz leer. Wir legen ältere Hefte bei, aber eben nicht die 117 – ältere Hefte und vielleicht noch eine Zusatzüberraschung. Ich weiß, ich weiß, eigentlich wäre das nicht nötig, jedoch ist’s ein Ereignis: Denn der Schwabe gibt gern, aber selten. Und jetzt ist gerade einer dieser Momente.
Ernsthaft: Dank allen, die nun gezeichnet haben. Wir arbeiten bereits an der 118. Sezession, Thema Rußland, das wird ein feines Heft.
Und während ich’s schreibe, fällt mir ein: Die Winterakademie, Thema Rußland, ist voll, ist überbucht. 200 Anmeldungen auf 130 Plätze – Gott bewahre, daß nun ein Neuabonnent das Heft 117 nicht kriegt UND keinen Platz auf der Akademie. Nicht, daß eine hoffnungsvolle rechtsintellektuelle Karriere mit zwei Dämpfern beginnt …
Ich wundere mich übrigens nicht, nicht die Bohne. Wäre ich jung, wäre ich Abonnent und Akademie-Teilnehmer. Ich habe das neulich im Halbschlaf ernsthaft geprüft: Es wäre so.
Wir haben ja damals Monat für Monat auf die JoteF gewartet wie auf eine Befehlsausgabe und saßen auf Burschenhäusern zwischen Besoffenen, um dem Proseminarsgestammel eines armen Füchsleins beizuwohnen oder einem von Hegel einkassierten Renegaten dabei zuzuschauen, wie er die Weltformel auflöste – ohne Rest.
Wie schreibt (oder schrieb) man auf Twitter? “Danke für 4000 Follower! (Herzchen, betende Hände, Herzchen)”. Also: Danke für 4000 Abos, und bitte machen Sie sich klar: 4000 Abonnenten für eine anspruchsvolle Zeitschrift – das ist eine andere Ansage als 4000 “Freunde”, die sich durch Profile scrollen.
Wer dazustoßen möchte: hier abonnieren, ABER ohne Aussicht auf Heft 117! Wer lieber Einzelhefte abgreift, von Mal zu Mal, dem sei die frohe Botschaft zugerufen: Wir drucken ab der 118 ein bißchen mehr, damit die Bestände länger als einen Monat reichen.
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Dienstag, 2. Januar
Das neue Jahr ist abgenabelt und schon den zweiten Tag alt, aber so recht eigentlich steht die Zeit noch still, gerade noch so. Natürlich werden wir an den Durchbrüchen beteiligt sein in diesem Jahr – die Marschroute ist klar, die Arbeit wartet und die Zuversicht ist ein heller Ton.
Aber jetzt soll’s noch nicht losgehen. Jetzt muß noch ein wenig Ruhe sein. Zunächst will ich nämlich allen Lesern und Freunden, Gästen und Autoren ein tatenfrohes und gedankenschweres Jahr 2024 wünschen – eines, das uns vorstoßen und tieferbohren sieht, aber nie abheben und spinnen.
(Es sei denn, dies wäre unsere Rolle: der Schabernack, das Spektakel, die verrückte Stunde, wenn alle bierernst meinen, daß jedes Prozent Rettung bedeute; wenn also jemand kommen muß und sagen: recht so, und wichtig und fein ist das alles. Aber denkt mal scharf und kraß und hemmungslos nach, denn wir haben es mit einer Zerstörung zu tun, für die man sich zwei Generationen lang Zeit ließ, um sie gründlich zu erledigen.)
Ich habe die tiefen, dunklen Tage und Nächte genutzt, um zu lesen und zu hören. Übers Lesen schrieb ich oft, übers Hören selten. Ich spiele die Geige und kann als bündisch Geprägter zweihundert Lieder klampfen, aber trotzdem kann ich vom Hören nur schreiben wie der Einäugige vom Raumgefühl.
Ich habe vor Monaten einen Kanal entdeckt, den, das ist meine Vermutung, jemand füllt, den ich einmal kannte, bloß schriftlich, aber eben doch. Diese Bekanntschaft, ein deutlich jüngerer Mann, war begeisternd, weil er, Experte, etwas eintrug, das ich nicht selbst hätte zusammenstellen können. Er hatte Zugänge zu Archiven.
Das alles ist völlig unpolitisch, es ist kultureller und künstlerischer Boden, und wenn man sich was drauf einbildet, Bruckner durchgehört zu haben, so, daß man ihn an ein paar Takten erkennen mag, Wagner und Richard Strauß, Schostakovitsch und Schumann, und vom Ozean Bach schippernd ein paar Küstenstreifen kennt – dann findet man plötzlich den abgelegenen Strand, das Nebental und die kleine Hütte und fragt sich, warum davon nicht Tag für Tag etwas aufgeführt wird, so phantastisch ist das.
Ich teile nun aus diesem Kanal drei Stück. Es ist ein Zufall, daß diese Werke alle 1934 uraufgeführt wurden. Sie sind alle gleichermaßen klassisch und modern, und vor allem sind sie so einprägsam, daß man, wenn man ein Ohr für derlei hat, nach dem zweiten Hören denkt, man kennte sie schon lange. Also:
vom Slowenen Blaz Arnic (1901–1970) das symphonische Gedicht “Memento Mori”,
vom Japaner Koichi Kishi (1909–1937) die Symphonie “Buddah” (die Entdeckung der vergangenen Tage)
und vom Deutschen Heinrich Kaminski (1886–1946) das Orchesterwerk “Dorische Musik”;
Man findet von diesen Werken aus leicht zu den Kanälen, die der Musik-Gräber aus Archiven geschürft haben muß. Ich denke, daß Lehnert und ich mit unseren Literaturgesprächen über fast vergessene Schriftsteller auf literarischem Felde ähnlich arbeiten. Kulturelles Gedächtnis, Saatgutregale, Gen-Bank. Wir müssen’s aufbewahren. Alles.
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Donnerstag, 14. Dezember
In einer Mischung aus Erstaunen und Gereiztheit schrieb mir ein Leser auf mein abendliches Sinnieren über die Schlachtfelder des Donbas:
In Ihrem Tagebucheintrag vom 9. Dezember weisen Sie junge Männer an, ihr Mütchen zu kühlen mittels Videoschau. Anlass und Angelpunkt des Eintrags scheint Ihre jüngste Videoerfahrung zu sein. Zur Erinnerung: Der Videoraum ist der Erfahrungsraum junger Männer die hierzulande aufwachsen, miteinbegriffen das Videospiel. Angenommen Sie würden in dieser Generation eine Umfrage nach schönsten Kindheitserinnerungen machen: Man würde Sie mit Computerspielanekdoten überhäufen.
Dieser Erfahrungsraum hat sich in den vergangenen Jahren erweitert um ein Genre, das einen massiven Zuwachs erfährt: Warporn. Nein, kein Rechtschreibfehler. Man redet so, da man irgendwo weiß, womit man es zu tun hat. Instinktiv und ohne Ihre theoretische Vorbildung wird die Nennung als Beschwörung angesehen. Eine Beschwörung von solchem, über das man nicht verfügt.
Jene jungen Männer insbesondere, die sich in Ihre Tagungen und Veranstaltungen verlaufen, sind Söhne der Pornographie, vom Sonderschüler zum Bestabiturienten, vom Wortführer zum Ordner. Was das heißt, wissen sie zumeist nicht. Schlimmer noch, daß auch Sie sich darüber nicht im Klaren zu sein scheinen.
Das Leben dieser Jungen ist geprägt von offenen Wunden. Und nein, damit ist nicht das Spektakel des Octagons gemeint, das sich in den letzten zehn Jahren fest etabliert hat und dem das Kriegsspektakel nun den Rang abzulaufen beginnt. Beides sind Fußnoten zu jenem Wundgeschäft, das Ihre Zöglinge zu einer Ausnahmeerscheinung macht. Denn es gab selten einzelne, und nie zuvor eine Generation, die, durch das, was ihnen von früh an zu Gesicht kam, so schwer verwundet wurde.
Sie kennen Ihr Publikum kaum. Wissen nicht, was mittlerweile unterhält.
Als ich Ellen Kositza beim Abendbrot diese Zeilen referierte und mit einem Abschnitt aus Sloterdijks Regeln für den Menschenpark verknüpfte, sagte sie spontan, daß der Mann Recht habe: Ich hätte wohl tatsächlich keine Vorstellung davon, wie sehr sich die Sehgewohnheiten und der Abstumpfungslevel junger Leute von dem unterscheide, was ich so für gang und gäbe hielte.
(Mich ärgerte das, man will ja nicht der altbackene Dachs sein, und wie stets in solch argumentativ aussichtslosen Lagen brachte mich das Geräusch des Brotkauens der beiden jungen Damen auf, die ihre Beine noch unter meinen Tisch stellen. Ich verbot augenblicklich den Handy-Konsum für den weiteren Abend und sammelte die Geräte ab.)
Aber natürlich war mir später, als ich nur noch mich selbst Wein schlucken hörte, klar, daß Kositza recht hatte und daß es Zeit werden könnte, ein junges, abgestumpftes, Warporn-angefülltes Köpfchen an der Planung von Akademien und Heften zu beteiligen – irgendeinen depressiven Hedonisten oder Inceller, der auf Leveln kämpfte, von deren Existenz ich nicht die leiseste Ahnung habe.
Aber es ist ja für zynisches Gescherze viel zu ernst, das alles.
Daher nun Sloterdijks Sätze zu Bestialisierung, 1999 geschrieben, und sein Essay wird – wie ich im Editorial der just versandten Sezession 117 notierte – im kommenden Jahr ein thematischer Schwerpunkt nicht nur des Sommerfests, sondern auch der August-Ausgabe sein. Aus Regeln für den Menschenpark, edition suhrkamp, S. 17ff:
Zum Credo des Humanismus gehört die Überzeugung, daß Menschen “Tiere unter Einfluß” sind und daß es deswegen unerläßlich sei, ihnen die richtige Art von Beeinflussung zukommen zu lassen. Das Etikett Humanismus erinnert – in falscher Harmlosigkeit – an die fortwährende Schlacht um den Menschen, die sich als Ringen zwischen bestialisierenden und zähmenden Tendenzen vollzieht. (…)
Was die bestialisierenden Einflüsse angeht, so hatten die Römer mit ihren Amphitheatern, ihren Tierhetzen, ihren Kampfspielen bis zum Tode und ihren Hinrichtungsspektakeln das erfolgreichste massenmediale Netz der alten Welt installiert. In den tobenden Stadien rund ums Mittelmeer kam der enthemmte homo inhumanus wie kaum je zuvor und selten danach auf seine Kosten. Erst mit dem Genre der Chain Saw Massacre Movies ist der Anschluß der modernen Massenkultur an das Niveau des antiken Bestialitätenkonsums vollzogen. (…)
Danach folgt eine Absage an das Konzept der Abhärtung durch Aussetzung, und Sloterdijk schlußfolgert,
daß Menschlichkeit darin besteht, zur Entwicklung der eigenen Natur die zähmenden Medien zu wählen und auf die enthemmenden zu verzichten. Der Sinn dieser Medienwahl liegt darin, sich der eigenen möglichen Bestialität zu entwöhnen und Abstand zu legen zwischen sich und die entmenschende Eskalation der theatralischen Brüllmeute.
(Merkt noch jemand, wie die hilflose Kulturkritik sich in Schale wirft – ein Vorgang, den schon Gehlen müde belächelte?)
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Ergänzung nach Mittag. Gerade schrieb ein Leser noch dies:
Kürzlich machte ich wieder einmal den Fehler, in das 4chan-Forum politically incorrect reinzuschauen. Dort hatte ein User das von Ihnen thematisierte Video mit dem sterbenden russischen Soldaten reingestellt mit dem Kommentar, “Why is it so satisfying watching ziggers suffering?”, also “Warum ist es so befriedigend, dabei zuzusehen, wie Zigger leiden?”
“Zigger” ist die abwertende Bezeichnung für Russen. Das “Z” bezieht sich auf das taktische Zeichen, das die russischen Militärfahrzeuge in der Ukraine tragen, und “igger” bezieht sich auf “Nigger”.
Andere User machten sich ebenfalls über die Todesqualen des Soldaten lustig. Einer machte den Vorschlag, das Video jede Nacht in das Schlafzimmer der Mutter des Soldaten zu projezieren.
Auf 4chan werden ständig solche Bilder und Videos veröffentlicht, und zwar von beiden Seiten, also auch von Usern, die mit der russischen Seite sympathisieren. Von denen werden dann eben entsprechend Videos und Bilder von verletzten oder getöteten ukrainischen Soldaten gepostet.
Das bei Ernst Jünger so bedrohlich wie magische Sprechen von “Räumen” und “Zonen” (man denke nur an “Köppelsbleek” aus den Marmorklippen) ist ins vom Gamer-Sessel aus Begehbare ausgeweitet.
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Samstag, 9. Dezember
Seit die kalten Novemberregen eingesetzt und die Frostnächte Einzug gehalten haben, denke ich viel an die Soldaten in einem Krieg, der hinter dem Nahost-Konflikt zu einem zweitrangigen Schauplatz geworden ist, aber mit grausamer Härte geführt wird. Im Ukraine-Krieg sind nun Kälte und Nässe entsetzliche Gegner.
Wer als Soldat auch nur ein paar Wochen bei widrigem Wetter und eisiger Temperatur im Freien verbringen mußte, weiß, wovon ich spreche.
Wir alle waren nie im Krieg. Aber in meinem Fall waren diese Wochen in der Winterkampfschule in Balderschwang zu absolvieren, und die Nächte, die um kurz nach fünf begannen, waren so eisig, daß wir in Bewegung blieben, um nicht zu erstarren. (Im Ohr Fetzen des Skrewdriver-Lieds “The Snow fell”). Ski mit Steigfellen, Wintertarn, willenlose Stunden, und das alles war nur Übung. Kein Tod, keine Todesangst, absehbares Ende, zwei Wochen eben.
Entlang der Front im Donbas liegen sich die Soldaten im zweiten Kriegswinter gegenüber, und wer die Bilder von den Unterständen sieht, in denen die Soldaten kauern, muß mitbedenken, daß es nicht um Arbeitstage mit abendlichem Saunagang geht, wie auf den Winterbaustellen im Freien. Es geht um Tage, Wochen und Monate ohne Ende.
Aber zu diesem Leid, zu diesen Szenarien, die an die Stellungsschilderungen Ernst Jüngers aus dem I. Weltkrieg erinnern und an die Kriegsbriefe aus Stalingrad, gesellt sich ein Grauen, das vor über hundert und vor achtzig Jahren noch nicht über den Schlachtfeldern kreiste.
In einem Vortrag über Ray Bradburys Roman Fahrenheit 451, den ich vor Wochen in Wien hielt, hatte ich es angedeutet: das Grauen, das einen packt, wenn der Mensch von der Maschine verfolgt und zur Strecke gebracht wird. Ich bezog mich auf den “mechanischen Hund” im Roman, dessen Injektionsnadel den Staatsfeind zur Strecke bringt, nachdem die unfehlbare Nase ihn aufgespürt hat.
Als Beispiel unserer Zeit führte ich die Jagd an, die im Ukraine-Krieg mit bewaffneten Drohnen auf Bodentruppen gemacht wird. Im Netz gibt es hunderte Videos, die ahnungslose oder verzweifelt davonkriechende Soldaten zeigen, deren Bewegungen aus der Luft gefilmt und deren Leben mit einer wie in einem Computerspiel abgeworfenen Granate beendet wird.
Ich stieß heute, als ich den Frontverlauf einmal wieder nachvollziehen wollte, auf einen Telegramkanal, der solche entsetzlichen Videos präsentiert. Ich kann mich nur an wenige Wahrnehmungsmomente in meinem Leben erinnern, in denen ich innerlich vor Entsetzen so erstarrte wie heute Abend.
Das eine Mal liegt über vierzig Jahre zurück – als mir ein Antikriegsbuch aus dem Bestand meines Großvaters in die Hände fiel. In diesem Buch waren Gesichter Kriegsversehrter aus dem I. Weltkrieg abgebildet, durch die Geschosse gefahren waren und die aus großen Augen ohne Nase und Kiefer und aus Mündern ohne Stirn, aber mit gräßlichen Zähnen bestanden. Die Erschütterung wirkte über Tage.
Das zweite Mal ergriff mich diese Erstarrung, als ich begann, in der Dokumentation zu lesen, die das deutsche Bundesarchiv mit Augenzeugenberichten über die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten gefüllt hatte. Ich schaffte den Band über Böhmen zur Hälfte, die anderen Teile stehen unangetastet im Bücherschrank. Ausweglosigkeit und Leid sind so entsetzlich, daß jede weitere Lektüre zumindest mein Gemüt auf lebensverändernde Weise berühren würde.
Vielleicht ein Drittes: die Hebung eines Massengrabs in Bosnien, der ich als junger Offizier beiwohnte; und ein Viertes: der von einem Mob totgeprügelte Mann in einer Kleinstadt im Süden Kameruns, dem man Hexerei nachgesagt hatte. Als ich dem Geschrei nachging, anlangte und ihn als den Anlaß der Zusammenrottung zwischen den Gaffern erspähte, tasteten er noch mit einem verrenkten Finger nach etwas im nassen Lehm, bevor ihm ein grober Betonklotz auf den Kopf gerollt wurde.
Und heute: Das Filmchen einer ukrainischen Drohneneinheit, das mit einer rührseligen russischen Melodie anhebt und dann in einen Gitarren-Trash umkippt, während man von oben einzelne russische Soldaten heranzoomt, die bereits verwundet und hilflos in einem zersplitterten Waldstück liegen, unter Ästen, mit offenen Brüchen, in sich gekrümmt, embryonal, bedürftig, schutzlos.
Während die Drohne zoomt, fallen Granaten gezielt auf und dicht neben diese Männer. Die Genfer Konvention ist einen Dreck wert, und wenn im Staatsfunk von Lieferschwierigkeiten für Drohnenbauteile an der polnisch-ukrainischen Grenze die Rede ist, dann sprechen wir über Ersatzteile für Kampfmittel, aus denen solche Filme entstehen.
Der letzte russische Soldat, der erledigt wird, liegt verwundet unter Geäst. Die Drohne läßt ihre Granate dicht vor seinen Rumpf fallen. Dann zoomt die Kamera auf eine entsetzliche Wunde und auf einen stummen Schrei und eine tastende Hand, die versucht, das zerfetzte Auge, den abgerissenen Kiefer und den Knochenbrei dorthin zurückzuschieben, wo einmal ein Gesicht war, rundlich, schon etwas älter.
Das heile Auge sucht den Himmel ab, dann stirbt dieser Mensch.
Ich möchte, daß sich jeder martialisch gestimmte junge Mann dieses Video anschaut, jeder Kriegstheoretiker auch und natürlich jede grüne Kriegstreiberseele, die von einer von ihr so nicht vorgesehenen Kriegsmüdigkeit der Deutschen faselt und weitere “Anstrengungen” fordert.
(Man möchte dort Zelte errichten und mit großen weißen Bannern und roten Kreuzen in solche Wälder gehen, um jeden, der nicht mehr kann, ins Warme zu holen und ins Leben zu retten. Ich bete nun den großen orthodoxen Abendhymnos für beide Seiten – wohl auch für mich, um die Erstarrung zu lösen.)
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Dienstag, 28. November
Randnotiz 1: Der schwule türkischstämmige Exmoslem Ali Utlu und die jesidische Gattin des AfD-Bundestagsabgeordneten Martin Sichert, Ronai Chaker, behaupten seit Tagen auf allen ihnen zur Verfügung stehenden Kanälen, daß wir “Schnellrodaer” nur heterosexuelle, nationalistische Deutsche ohne Migrationshintergrund in der AfD sehen wollten und alle anderen Anwärter zu verhindern wüßten.
An dieser Unterstellung stimmt vor allem eines nicht: Keiner von uns ist Parteimitglied und dort in Lohn und Brot, wo es um die Aufnahme neuer Mitglieder geht. Keiner von uns kann etwas “verhindern”.
Herr Utlu veröffentlichte zuletzt eine Karikatur, auf der ein ihn würgendes Schnellroda seinen Traum von der AfD-Mitgliedschaft zerplatzen läßt. Er will nun eine eigene Internet-Seite gründen, um auf ihr den angeblichen Haß aus unserer Richtung gegen ihn zu dokumentieren.
Frau Chaker-Sichert wiederum schrieb gestern über einen unserer Autoren:
Lichtmesz ist für mich im übrigen ein lupenreiner Antisemit, denn er hat sich in einer Diskussion mit mir, vor Jahren schon hinter die Hamas gestellt und deren Vorgehen befürwortet.
Ich riet Lichtmesz ab, juristisch vorzugehen. Man bietet Bühnen und verliert Zeit.
Aber über diesen Haß hätten wir sehr gern ein sehr gründliches Gespräch mit sowohl Frau Chaker-Sichert als auch Herrn Utlu geführt, um zu ergründen, wie ernst es ihnen mit der deutschen Sache sei und warum sie davon ausgingen, daß wir jeden, der es wirklich ernst meine, auf seine Herkunft abklopften und in sein Schlafzimmer spähten, um dann den Daumen zu senken oder zu heben.
Ich habe Frau Chaker-Sichert vor einigen Wochen und Herrn Utlu vor fünf Tagen Gesprächsanfragen zukommen lassen und beiden jeweils freigestellt, ob solch ein Gespräch öffentlich oder im stillen Kämmerlein geführt werden solle. Im Falle von Frau Chaker erfolgte die Anfrage auch über ihren Gatten.
Wie stets ging es mir, uns darum, aus dem Schwarz-Weiß des Gezeters die Abschattierung der politischen Realität abzuleiten. Weder Herr Utlu noch Frau Chaker-Sichert haben geantwortet.
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Randnotiz 2: Der Jungeuropa-Verlag hat heute die Fortsetzung des skurrilen Prozesses um seinen Namen erlebt. Der Europa Verlag klagte vor einem Jahr, weil er Verwechslungsgefahr und damit einen Vorteil für die Jungeuropäer wähnte, denen das hunderte, wenn nicht tausende Leser quasi ins Fangnetz spülen würde.
Schon in erster Instanz entschieden die Richter, daß von einer Verwechslungsgefahr keine Rede sein könne. Diese Einschätzung wurde heute bestätigt, die Urteilsverkündung ist am 15. Dezember.
Dem Jungeuropa-Verlag zu diesem juristischen Erfolg zu gratulieren, wäre so, als klopfte man jemandem auf die Schulter, der die Zigarette richtig herum im Mundwinkel hat … (Na klar, Jungs: Glückwunsch!)
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Freitag, 24. November
Der ungarische Staatspräsident Viktor Orbán hat zum 90. Geburtstag der Schweizer Weltwoche den Festvortrag gehalten. Ich empfehle ihn, denn Orbán spricht klar und schnörkellos und kommt von der Kritik an Europa und am westlichen Modell her auf den politischen Ansatz seines eigenen Landes zu sprechen.
Die Kernaussagen der Bestandsaufnahme lauten: Europa habe seine strategische Souveränität seit langem eingebüßt; in Brüssel werde keine europäische Politik gemacht, sondern die Herrschaft der Bürokraten über die Politik vorgeführt; die hinter Demokratiedurchsetzung und Staatsbefreiung verborgene US-Außenpolitik werde mittlerweile weltweit als das durchschaut, was sie sei: knallharte Interessenspolitik; Europa und namentlich Deutschland werde als Vasall eines Hegemons auf Abstieg verarmen, wenn es sich nicht befreie.
Gegenmaßnahmen skizziert Orbán als Konzept der Selbstrettung der Nation. Das halte ich für entscheidend: Orbán, der mit dem feinen Witz des geübten Redners und an Goldwaagen gewöhnten Politikers spricht, ist grundehrlich, wenn er das Gewicht Ungarns als zu leicht dafür beschreibt, in Europa aufzutrumpfen.
Es geht im zweiten Teil also ausschließlich um den Versuch Ungarns, mit dem, was aufgebürdet wird, zurechtzukommen und die Folgen für Volk und Nation abzufedern. Orbán weiß um die Verführungsmacht der auch in Ungarn omnipräsenten amerikanischen Kulturhoheit, um ihre Prägekraft in der Alltagskultur, dem Freizeitverhalten und für die “Narrativen” gerade jüngerer Generationen.
Orbán stellt kurz das “Work-First-Modell” vor, das nachweislich als unattraktiv für Einwanderer, also vor allem: für Asylbewerber gilt. Staatliche Absicherung gebe es nur für diejenigen, die arbeiteten. Er bezeichnet dieses Modell sogar als “kalt” im Vergleich zu dem, was etwa Deutschland macht. Das ist es: auf die Robustheit der eigenen Leute bauen, um die Beutemacher von außen abzuwehren.
Außerdem streicht Orbán die ungarische Familienpolitik heraus, von der er – wiederum sehr ehrlich – sagt, daß sie noch keine demographische Wende herbeigeführt habe, aber immerhin das für Familien attraktivste Modell Europas sei, bereits Früchte trage und damit die Chance für eine Stabilisierung des Volks aus eigener Kraft biete.
Ich will das noch einmal betonen: Analyse auf europäischer, Maßnahmen auf nationaler Ebene. Wer nachlesen möchte, wie Ungarn dieses politische Projekt zivilgesellschaftlich abzusichern versucht, kann zum Bändchen Nationaler Block von Márton Békés greifen. Orbans Rede gibt es hier zu sehen.
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Im Verlag ist das Weihnachtsgeschäft angelaufen. (Wir berechnen bis Ende des Jahres 1.50 € für Sendungen im Inland und liefern ab 70 € portofrei.) Es ist Jahr für Jahr schön zu sehen, wie das Buch doch Teil der Geschenkkultur bleibt, obwohl ihm vom mobilen Geschnipsel und Geglotze so sehr zugesetzt wird.
Bei uns rechtzeitig eingetroffen sind Nachdrucke der Essay-Reihe Kaplaken. Ich liste die Nachdrucke mal auf, es sind Sammlerstücke darunter und länger vergriffenes. 65 Bändchen sind insgesamt lieferbar, und es gibt immer wieder Leser, die uns gerade erst entdeckt haben, sozusagen aus dem Mainstream herüberstolpernd, und die Gesamtabnahme zeichnen. (Recht haben sie! Die Reihe Kaplaken ist doch so etwas wie das Kernholz der Szene …).
Hier also das, was nun wieder erhältlich ist:
Bd 79 – Stefan Scheil: Der deutsche Donner
Bd 67 – Armin Mohler: Der faschistische Stil
Bd 70 – Sophie Liebnitz: Antiordnung
Bd 53 – Thor v. Waldstein: Macht und Öffentlichkeit
Bd 47 – Martin Sellner, Walter Spatz: Gelassen in den Widerstand
Bd 41 – Jean Raspail: Der letzte Franzose
Bd 29 – Henry de Montherlant: Nutzloses Dienen
Bd 15 – Karlheinz Weißmann: Post-Demokratie
Hier sind alle 65 lieferbaren Bändchen aufgelistet - so viele waren es noch nie. Und: Stefan Scheils Viererpaket “II. Weltkrieg” ist auch wieder vollständig lieferbar.
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Samstag, 18. November
Also: Wie war das gestern vor und auf der Rampe (Treppe) der Universität Wien? Wir mußten uns prügeln, dann gab’s die Kundgebung und für den Abzug wurde eigens für uns eine Straßenbahn requiriert, eine “Bim”. Irgendwie und immer wieder irre, das Ganze. Dabei ging es doch bloß um ein Buch.
Die Versuchsanordnung habe ich vor zwei Wochen beschrieben: Der Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) hatte zu einem öffentlichen Vortrag in einen der Hörsäle der Universität eingeladen. Ich sollte über den Roman Fahrenheit 451 von Ray Bradbury sprechen. Das Recht zu solchen Veranstaltungen hat der RFS, aber es wurde ihm verwehrt, und eine juristische Durchsetzung mißlang.
Die bisher noch nicht öffentlich agierende Gruppe namens “Aktion 451” meldete daraufhin eine Kundgebung auf der Treppe zum Haupteingang der Universität an. Kositza und ich kamen mit ein paar Leuten kurz vor drei an – da war auf beiden Seiten schon Antifa versammelt, und als sie uns sahen, begann’s zu summen wie in einem Wespennest.
Beim Überqueren der Straße zur Treppe hin wurden wir angegriffen, sehr plötzlich und massiv. Das letzte Mal, daß mir so etwas passierte, ist fast zehn Jahre her. Damals waren wir auf dem Weg zum Leipziger Ableger von PEGIDA. Die Polizei hatte den Opernplatz abgeriegelt und uns nur schmale Durchgänge eingeräumt, die mitten durch Pulks vermummter Antifa führten. Man wurde mit Schlägen eingedeckt, während man durchlief.
Gestern war es direkter, und gut ist es, mit den richtigen Jungs unterwegs zu sein, wenn so etwas passiert. Die Polizei war völlig überrascht, aber bis sie eingriff, hatten wir uns schon Luft verschafft, nichts abgekriegt, aber ausgeteilt. (Schön zu sehen, wie sich junge Männer in Dreschflegel verwandeln, wenn es sein muß.)
Danach die Kundgebung war gut organisiert, ich sagte auch ein paar Worte, kaum zu Fahrenheit 451, mehr zu den Umständen. Ich verstehe ja nicht, wie die Universität und die Linke an sich immer wieder so blöd sein können, den Wirbel und die Aufmerksamkeit durch ihren Hygienefimmel erst zu erzeugen.
Denn: Fahrenheit 451 ist kein rechtes Buch. Es ist auch kein linkes Buch. Es ist kulturkritisch, steht in der Tradition hilfloser Technik- und Gesellschaftskritik und kann vereinnahmt und als Chiffre besetzt werden. Das haben wir zwei Jahrzehnte lang gemacht, aber erst seit gestern ist es ganz klar, daß die Ziffer 451 und Feuerwehrmann Montag als Gestalt, als Typ, nun uns gehören.
Wäre ich im Besitz der Veranstaltungsmacht, hätte ich mich zugelassen und ein Podium gefordert, um mir die Deutungshoheit über Fahrenheit 451 zu entreißen. Aber der Schatten ist zu breit, die Linke und die Mitte können nicht mehr über ihn springen.
Den Vortrag hielt ich dann später in den Räumen der Österreichischen Landsmannschaft. Er ist aufgezeichnet worden, wir veröffentlichen ihn bald. Das wird diejenigen nicht beeindrucken, denen egal ist, worüber wir reden, Hauptsache wir reden nicht. Aber es wird die Vereinnahmung verstärken und der Aktion 451 ein wenig Theorie liefern.
Der Abzug von der Treppe und die Verlegung zur Landsmannschaft war dann noch ein Spektakel. Die Polizei räumte das akademische Proletariat beiseite, damit wir zur Straßenbahn kämen. Die wurde extra aufgehalten, und während wir durch die Stadt zuppelten, eskortierte die Polizei im Laufschritt. Surreal, so etwas, aber in der Situation ganz logisch und plastisch und absurd. Aber auch: ein Erlebnis.
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Dienstag, 14. November
Heute kommt Band 5 der Antaios-Romanreihe aus dem Druck. Er ist Abonnenten der Gesamtreihe vorbehalten, das war von vornherein abgemacht, davon rücken wir nicht ab.
Die ersten vier Bände der Reihe sind sehr gut aufgenommen worden, kaum kritisch, oft begeistert. Jedenfalls hat sich bestätigt, was schon frühere belletristische und exklusive Verlagsprojekte einbrachten (Reihe Mäander!): Es schreiben ganz andere Leser ihre Eindrücke und Fragen auf als diejenigen, die im Blog kommentieren oder auf unser politisches Programm reagieren. Es ist, als stieße man mit solchen Büchern auf einen Kern der Leserschaft vor, der zu den Stillen im Lande gehört (wie Jochen Klepper das einmal ausdrückte).
Autor und Titel des fünften Bandes verraten wir nicht. Das ist eine der sprichwörtlichen Katzen im Sack, bloß kann ich sagen, daß es bei uns keine triefnasigen und schieläugigen Tierchen gibt. Es gehört schlicht zu den Verlegerfreuden, um das Vertrauen der Leser auf das Verlegerhändchen zu wissen.
Die berührendsten Briefe erhielt ich zu Hasemanns Gefangenschaftsroman Nasses Brot. Die Lektüre ist zäh wie die endlos langsam verstreichende Zeit in einem Viehwagon auf der Fahrt nach Osten, auf einer klirrend kalten Baustelle in der Steppe und im Durchgangslager auf dem Weg in die Heimat, auf dem noch an den letzten Stationen ohne Begründung Gefangene aus dem Zug gefischt und zurück ins Endlose geschickt werden.
Leser schrieben von Tagebüchern ihrer Väter und Großväter, schilderten den Abbruch der Lektüre und die Wiederaufnahme nach Tagen der inneren Kräftigung. Einer schrieb, ob es sein müsse, solche Tore aufzustoßen. Ich meine: ja, und zwar dann, wenn jemand wie Hasemann das Tor aufstößt. Er schrieb ja nur drei Bücher, danach hatte er etwas erledigt. Lehnert und ich werden über ihn eine Literatursendung machen.
Wir haben von den Gesamtabnahmen der Roman-Reihe noch etwa 100 Pakete zu vergeben. Im Weihnachtsprospekt, der nebenan gerade versandfertig gemacht wird, sind diese Pakete noch einmal und abschließend im Angebot.
Hier kann man eines davon bestellen.
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Zweimal Björn Höcke, einmal er selbst, das andere Mal diejenigen über ihn, die ihn nicht kennen, aber so tun, als wüßten sie Bescheid.
Vorab aber Folgendes: Ich gehöre zu denen, die Höcke am besten kennen. Wir haben über unser politisches Denken, die Suche nach Gestaltungsmöglichkeiten und die Kritik an Hinterzimmer, Eskapismus, politischer Melancholie und substanzloser Karriereabsicht bereits gesprochen und gestritten, als wir alle noch in kleinen Zirkeln unter der großen Bleidecke saßen und Dehnungsübungen machten.
Es war im Oktober 2013, als ich mit einigen meiner Kinder an den Fuß des Hansteins fuhr, um am Auftakt zur 100-Jahr-Feier des damals richtungsweisenden jugend- und reformbewegten Meißnertreffens teilzunehmen. Die Nacht verbrachte ich mit der Jüngsten, die mir beim Wandern noch auf den Schultern saß, bei Höcke in Bornhagen.
Als es im Hause ruhig war, setzten wir uns zum Bier zusammen, um über die noch sehr junge Partei und über Höckes Engagement darin zu sprechen, das ihn bereits an die Landesspitze Thüringens gebracht hatte. Er war voller Optimismus und berichtete von Versammlungen, Zustrom und ersten Richtungsentscheidungen.
Ich war skeptisch, fast spöttisch, denn unser beider Erfahrung mit den vielen Kleinst- und Splitterparteien von rechts war ernüchternd. Wir hatten deren Gehversuche schriftlich und in Gesprächen beschrieben und analysiert, uns aber nie beteiligt. “Die Freiheit” war zuletzt schon als junges Pflänzchen verdorrt, und wir streiften sie nur, weil die Empfehlung ihrer Bundesspitze, der AfD beizutreten, entweder kurz bevorstand oder schon erfolgt war (ich weiß es nicht mehr).
Spät in der Nacht jedenfalls hatte mich Höcke mit seiner Zuversicht doch unsicher gemacht. Im Unterschied zu allen anderen Parteigründungen war die AfD nicht von rechts, sondern aus der enttäuschten und alarmierten Mitte der CDU heraus initiiert worden. Nur ein einziges Mal hatte es etwas Derartiges bisher gegeben: Der Hamburger Richter Ronald Schill war auf Anhieb mit einer eigenen Liste in die Bürgerschaft eingezogen, weil auch er den Duft desjenigen verströmte, dessen politische Herkunft kein abgebrannter Rand war.
Höcke beendete damals unser Gespräch mit den Worten, daß wir mal sehen müßten, inwieweit die Herrschaften aus der Mitte für genuin rechte Themen offen wären. (Der Rest ist bekannt – samt Bernd Luckes politischem Salto Mortale.)
Wenn ich darüber nachdenke, wie sehr das liberalkonservative AfD-Lager uns und vor allem Höcke die Schuld zuschob, daß man die für ihren politischen Mut bekannte bürgerliche Mitte verloren und eines der hoffnungsvollsten Parteiprojekte aller Zeiten an den Rand des Abgrunds und darüber hinaus geschoben hätte!
Höcke gehörte zu denjenigen, die sich unter dem Eindruck dieser Kritik aus den vermeintlich eigenen Reihen nicht zu Landsknechtsnaturen wandelten und sengend durch die Partei zogen. (Solche Kandidaten gab es.) Was seine parteiinternen Gegner unterschätzten und bis heute unterschätzen, ist die Macht der Begegnung und die Überzeugungskraft der Persönlichkeit.
Ich habe Parteiveranstaltungen erlebt, die feilschenden Basaren glichen, bis zur Rücksichtslosigkeit laut und geschwätzig, obwohl vorn einer am Pult stand und sprach – und die zu Räumen wurden, in denen man noch den Letzten zur Ruhe zischte, weil Höcke ans Mikrofon trat.
Ich kenne etliche Parteileute, die, aufgeladen nicht nur von der Lückenpresse, sondern von den eigenen Leuten, in Höcke den dumpfen, rücksichtslosen Sprücheklopfer sahen – und im Gespräch ihr Feindbild nicht fanden, sondern in einer Mischung aus Verwirrung und Erleichterung kein schlechtes Wort mehr über diesen Mann hören wollten, sondern seinen Weg akzeptierten.
Warum notiere ich das alles noch einmal, wo ich es schon hier und da beschrieben und in ungezählten Gesprächen innerhalb und außerhalb der AfD erzählt habe? Der Anlaß ist bald zwei Wochen alt. Ich hörte beim Holzschichten im Kontrafunk die Sonntagsrunde mit Burkhard Müller-Ulrich und seinen Gästen, und es ging um Höcke.
Zu Gast war erstens Vera Lengsfeld. Sie lag mir schon vor sieben Jahren, als ich sie in Sondershausen besuchte, damit in den Ohren, daß in Thüringen eine feine Regierung aus CDU und AfD sofort möglich sei, wenn Höcke zurückträte und den Weg frei machte für einen Konservativliberalen in der AfD. Aber schon damals begriff sie nicht, daß sich inmitten der Lawine aus Krisen, Dysfunktionalität, Überfremdung und Vasallenglück die feinsinnige Unterscheidung zwischen der Volksfront von Judäa und der Judäischen Volksfront als irrelevant erweisen müsse, und zwar mit jedem Tag mehr. Sie begriffs wirklich nicht, das habe ich jetzt gehört, denn im Kontrafunk wiederholte sie ihren alten Sermon, obwohl die AfD auch rund um Sondershausen bei über 30 Prozent steht.
Dann Ingo Langner, fleischgewordene BRD, bis weit in die 2000er Jahre mitten im Kulturbetrieb (dafür muß man sich ja fast schon verantworten, finde ich) und nun neuer Chefredakteur bei CATO, dem Magazin fürs Wartezimmer. Er äußerte sich am schäbigsten über Höcke und gab dabei zu, diesen Mann erstens gar nicht persönlich zu kennen, zweitens dessen Gesprächsband Nie zweimal in denselben Fluß gar nicht gelesen, sondern drittens sein Wissen über Höcke einer Rezension dieses Buches aus der Feder Dieter Steins entnommen zu haben. Das nenne ich Augenhöhe!
Peter J. Brenner zuletzt: Autor unter anderem bei Tumult, bekannt durch das Abfassen von Offenen Briefen an Redaktionen, deren Weg er als Abonnent oder Mitglied nicht mehr teilen wollte, namentlich FAZ (2020) und wbg (2019). Er sieht Höcke “die zwölf Jahre” bewirtschaften, kanns aber nicht belegen, und in der Sonntagsrunde gab er seinem unguten Gefühl darüber Ausdruck.
Burkhard Müller-Ulrich war irgendwie konsterniert. Dieses Gerede vom Hörensagen her und im Dialekt der WerteUnion – das gefiel ihm nicht. Aber diese Leute finden ja Gehör.
Jedoch: Ich will jetzt mal behaupten, daß die kaum wahrnehmbare Argumentationslinie von den Dreien kaum zu halten sein wird. Es wird sogar ganz schön schwierig, wenn ich jetzt mal Höcke zitiere, ohne ihn gefragt zu haben, ob ich das darf. Aber es paßt halt so gut, und er äußerte es neulich, als wir endlich wieder einmal ein paar Stunden wandern konnten. “Götz”, sagte er, “das ist alles nicht schön, aber wir kennen das ja, oder? Und jeder will sein Süppchen kochen. Aber am Ende gehören die eben doch alle zu uns. Und wir brauchen jeden, wirklich jeden, so groß ist die Aufgabe.”
So ist es, und wer das begriffen hat, weiß, wie es klingt, wenn man Engstirnigen und Korinthenkackern den Maßstab erklärt: Unser Volk und unsere Demokratie müssen gerettet werden, und das ist keine Butterfahrt.
Deshalb, und weil es wichtig ist, zu sehen, wie einer antwortet, wenn er mal nachdenken darf, bevor er antworten muß, empfehle ich als zweites das große Interview, das der sehr gut vorbereitete Martin Müller-Mertens für Auf1 mit Höcke geführt hat. Hier ist es.
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(Ergänzungen, Fundstücke und kritische Anmerkungen richten Sie bitte an [email protected]. Ich werde ausbreiten, was sich ansammelt. Jedoch geht es nicht um übliches Kommentariat, sondern um Fortschreibung. Wir werden sehen, wie das klappt.)
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Montag, 6. November
Der Druckausgabe der Sezession liegt in unregelmäßigen Abständen das Literaturheft Phonophor bei. Es enthält Kurzprosa aus der Leserschaft. Wir riefen Anfang vergangenen Jahres erstmals zur Beteiligung auf. Idee und Name gehen auf eine Initiative des Sezession-Autors Dirk Alt zurück: Der “Phonophor” ist eine Art Smartphone. Er taucht in Ernst Jüngers Roman Eumeswil bereits auf und wird indifferent als Statussymbol, insgesamt aber als problematisch beschrieben.
Was mich freut, ist, daß unser Phonophor, Ausgabe 4, nun an zwei unterschiedlichen Stellen ausführlich gewürdigt worden ist. Die Publizistin Beate Broßmann hat für das Blog der Zeitschrift Tumult rezensiert, Philip Stein und Volker Zierke besprechen Ausgabe 4 im Jungeuropa-Podcast.
Auch Ellen Kositza und ich haben den Phonophor erwähnt, als wir die 116. Sezession in einem kurzen Video vorstellten. Dabei ist neben meiner Projekten grundsätzlich entgegengebrachten Skepsis die Freude über die Kontinuität und Qualität dieser Beilage zu kurz gekommen. Leser fragten, ob ich den Phonophor wieder einstellen wolle. Aber nein, im Gegenteil! Wie schon oft, sind wir auch auf diesem Feld Pioniere und machen, was fehlte.
Um ein weiteres Mißverständnis auszuräumen: Der 4. Phonophor wird jeder 116. Sezession beigelegt, egal ob im Abonnement oder als Einzelheft erworben – jedoch nur, solange der Vorrat reicht. (Er ist auf 25 Hefte geschrumpft.) Bestellen kann man hier.
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Der Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) aus Wien hat mich zu einem Vortrag an die Universität eingeladen. Man hat das Recht auf öffentliche Veranstaltungen in Hörsälen, wenn man im Hochschulparlament vertreten ist, und dieses Recht will der RFS am 17. November wahrnehmen. Zwar hat die Universitätsleitung den Vertrag für diese Veranstaltung umgehend gekündigt, nachdem bekannt wurde, daß ich dort vortragen solle. Aber gegen diese Kündigung wird nun geklagt.
Ich werde am 17. auf jeden Fall pünktlich an der Universität sein und den vereinbarten Vortrag über das Buch Fahrenheit 451 von Ray Bradbury in der Tasche haben. Feuerwehrmann Montag ist eine unserer Ikonen, denn er steht fast allein neben der belämmerten Masse und gegen ihre Dompteure, die das Lesen verboten und fast alle Bücher verbrannt haben. Er steht aber nicht ganz allein, denn man erkennt einander am Hunger auf andere Kost als die, die durch die Gitterstäbe gereicht wird. Man tastet einander ab, man faßt Vertrauen, man sieht eine Lebenstür.
Unsere Szene hat für Dystopien viel übrig, sie ist hellhörig, hat das geschulte Gehör derer, die aufgewacht sind und die Schritte der Wärter studieren. Legen wir uns wieder hin oder klopfen wir die Wände ab? Lesen wir, daß es anders sein könnte oder liefern wir die Bücher an diejenigen ab, die selbst die Erinnerung an sie noch tilgen möchten? Begreifen wir unser Leben als goldenen Käfig oder sehen wir die Stäbe nicht mehr?
Es gibt unter Umständen kein Recht auf den anderen Ton an der Universität, so naiv bin ich nicht. Aber es wird dringend Zeit für einen anderen Ton, und wir erheben Anspruch darauf. Wenn es also die Möglichkeit gibt, sich Zutritt zu verschaffen und Platz zu nehmen, dann sollten wir sie ergreifen.
Wir ergreifen sie übrigens als diejenigen, die davon berichten wollen, wie schön und befreiend es ist, sich geistig nichts von vornherein verbieten zu müssen. Ich bemitleide die Vertreter der Cancel culture. Ich bemitleide sie wirklich, denn sie haben sich selbst so vieles verboten, haben sich selbst mit Aufpassern umstellt, sind einander zu Aufpassern geworden, weil sie sich in einem Minenfeld wähnen.
Dabei sind sie bloß Mimosen und haben sich Hygienevorschriften unterworfen, die das Leben und Lesen zu einer aseptischen Sache machen.
Wir hingegen müssen nicht voreinander rechtfertigen, mit wem wir sprechen, was wir lesen, wem wir zuhören und von wem wir lernen wollen. Noch nie mußte ich zu jemandem sagen, er solle ein Gespräch, das wir führten, so behandeln, als habe es nie stattgefunden.
Aber wie oft schon sagten mir die verängstigten, verzweifelten, ratlosen, zynischen, vor allem aber vermeintlichen Gegner, mit denen ich mich traf, um Rede und Antwort zu stehen, daß das soziale Höllentor geöffnet würde, käme ans Licht, mit wem sie sich gerade austauschten.
Denen, die nun die Tür zum Hörsaal vernageln wollen, muß man die Angst nehmen. Leute: Es handelt sich um einen Vortrag. Es wird um einen der Klassiker über die Selbstermächtigung gehen, nach Büchern zu greifen, sie nicht zu verbrennen, sondern zu retten und ihren Inhalt so zu verinnerlichen, als sei man selbst dieses Buch.
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Dienstag, 31. Oktober
Zum ersten Mal in meinem Leben auf einer Galopp-Rennbahn: Halle/Saale, Volksfeststimmung, Gulasch und Bier, sieben Rennen. Was faszinierte, wie bei Jägern: die ganz eigene Sprache, die in den Ankündigungen und Siegerinterviews eben nicht gepflegt, sondern einfach verwendet wurde.
Da gaben Pferde ihr Lebensdebüt, als begänne das Leben erst, wenn man die Rennbahn betritt. Von Ausgleichsrennen und Handicaps war die Rede, und beides hat mit Gewichten zu tun, die den Pferden angehängt wurden, damit auch andere eine Chance bekämen. Ein Mann knurrte was von Blendern, die seine Dreierwette versaut hätten. Dabei hing der Gaul samt seinem Jockey mit den gestreiften Farben bloß im Lot und konnte nicht vorbei.
Einige Besucher machten auf Stil, also Tweed und Karo und Frauen mit Sonntagsreitermode plus hohen Stiefeln und Sektglas. An den Wettkassen endlose Schlangen, und ein paar Männer mit Feldstecher und Notizblöcken setzten nicht aus Jux. Ich sprach einen an, aber das Mißtrauen war grob.
An den Biertischen und auf der Tribüne lauschte ich den Gesprächen: nicht ein politisches Wort. Aber ein paar Handschläge.
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Gespräch mit einem Sicherheitsexperten aus Österreich. Er war für die UN-Friedenstruppe auf den Golanhöhen an der syrischen Grenze und hat den Abzug der österreichischen Einheiten von dort im Jahr 2013 mitgemacht. Er ist mit einer Israelin verheiratet, lebt in Wien und ist oft in Tel Aviv – Sicherheitsberatung für Import und Export.
Wir trafen uns in Leipzig. Seine Antwort auf meine Frage, ob Israel überrascht worden sei am 7. Oktober, verblüffte mich in ihrer Direktheit. Er sagte erstens, es sei völlig ausgeschlossen, daß Israel im Vorfeld keine Kenntnis von diesem Angriff gehabt habe, also wirklich völlig ausgeschlossen. Man habe es aus verschiedenen Gründen geschehen lassen.
Da sind innenpolitische Gründe zum einen, also Ablenkung von innerisraelischer Spannung, und zum anderen außenpolitische Gründe, nämlich die Legitimation für einen manifesten Gegenschlag, für den es wieder einmal an der Zeit gewesen sei.
Jedoch, zweitens: Israel habe die eigene Grenzsicherung überschätzt und sei von der Wucht und der Brutalität der Angreifer am Boden überrumpelt worden. Man habe falsch kalkuliert, weil man nur wenige habe einweihen können, also im Grunde kaum jemanden von denen, die den ersten Wellenbrecher zu bilden gehabt hätten.
Die Lage sei, drittens, militärisch für Israel gut, aber psychologisch schlecht. Militärisch: Er selbst kenne keine Armee, die am Formalen weniger interessiert und zugleich so konsequent auf Effektivität ausgerichtet sei. Ich vermutete, daß dies der Zustand sei, wenn Waffe und Bereitschaft nicht hinter Kasernenmauern abgetrennt, sondern lebensgegenwärtig seien. Er bestätigte und fügte hinzu, daß aus diesem Grund die Hisbollah nicht wirklich eingreife: Man würde nicht das wenige an guten Waffen und Leuten opfern, das besser sei als die Hamas, aber immer noch um Welten schlechter als Israel.
Problematisch sei der Häuserkampf, das Aufräumen in den kilometerlangen Katakomben unter dem Schutt, den die Luftwaffe produziert habe. Eine alte Lehre aus dem 1. Weltkrieg schon: daß die Stellung unter einem einmal in sich zusammengebrochenen Haus sicherer sei als alles andere. Solche Höhlensysteme auszuräumen, das bedeute: Einer ist vorneweg, da gäbe es keine Alternative, und wenn der nicht mehr sei, dann eben der zweite, dann der dritte. Selbst die wirklich guten Einheiten kämen dabei an ihre Belastungsgrenze.
Psychologisch sei Israel trotz überwältigender Lobbyarbeit bereits im Hintertreffen: Die Hamas spiele das Spiel mit den Geiseln sehr geschickt, und die mehr als abschätzigen und rücksichtslosen Äußerungen höchstrangiger israelischer Politiker und Militärangehöriger seien ein mediales Desaster. Aber das sei nicht einzuhegen: Das sei ehrlich so gemeint, formal schnoddrig und im Front-Slang derer, die wissen, was sie können, wer der Feind ist und was dieser Feind täte, wenn er nur könnte.
Aber viertens: 350 000 eingezogene, von der Arbeit abgezogene Reservisten, zigtausend aus dem Land geflüchtete Arbeitskräfte, und eben keine Lehmhütten plus drei Ziegen, sondern eine moderne Dienstleistungsgesellschaft. Jeder Tag ist ein ökonomisches Desaster für Israel, jeder Verlust reißt eine gravierende Lücke, nicht nur menschlich.
Eine Lösung sei nicht in Sicht. Die Sanduhr werde umgedreht, wie in der Sauna. Irgendwann, vielleicht in sieben, vielleicht in zehn Jahren riesele dann das letzte Körnchen, und dann krache es wieder. Aber nun sei man ja erst einmal mittendrin.
Solche Gespräche – was sind sie? Bestätigungen des Geahnten, ergänzte Aspekte, Einübung in eine fremde Mentalität. Vor allem: Berichte aus der Ferne, zu denen man sich nicht verhalten muß. Wie ich schon schrieb (und der Sicherheitsberater, der meinen Beitrag gelesen hatte, bestätigte diese Sichtweise fast schon emotional): Israel braucht uns nicht.
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Samstag , 29. Oktober
1999 erreichte der damalige Außenminister Joschka Fischer auf dem Sonderparteitag der Grünen im Mai die Zustimmung seiner Partei zum Angriff der Nato auf Serbien und zum Einmarsch in den Kosovo. Er argumentierte damals auf der metapolitisch jahrzehntelang vorbereiteten Grundlage, daß es nie wieder zu Faschismus und zu Auschwitz kommen dürfe.
Metapolitische Vorbereitung bedeutete in diesem Fall, daß diese Begriffe losgelöst von ihrer historischen Einbettung in eine Epoche zu Chiffren geworden waren. Ihre Wirkung beruhte nicht auf Nachvollziehbarkeit eines statthaften Vergleichs, sondern auf schockierender Überwältigung und der Nichthinterfragbarkeit eines Glaubenssatzes.
Nur von der zivilreligiösen Aufladung solcher kollektiver deutscher Schuld her ist zu erklären, wie der dissidente Journalist Julian Reichelt mit dem Verweis auf die Bombardierung deutscher Städte die Bombardierung des Gaza-Streifens durch Israel rechtfertigt. Am 25. Oktober kommentierte Reichelt im Sender NIUS:
Briten und Amerikaner hielten es für geboten und moralisch vertretbar, den Willen der deutschen Zivilbevölkerung durch Flächenbombardements von Städten zu brechen. Sie nahmen den Tod hunderttausender Zivilisten nicht nur in Kauf, sie verursachten ihn ganz bewusst, weil sie der (richtigen) Überzeugung waren, dass es ein befreites und friedliches Europa nur geben könne, wenn Deutschland in jeder Hinsicht gebrochen wäre.
Reichelt steht mit dieser Argumentation nicht nur jenseits roter Linien, die das Kriegsvölkerrecht markiert (wobei gleich angemerkt sei, daß sich derjenige, der kann, was er will, um dieses Recht noch nie groß scherte); er übernahm diesen Offenbarungseid vom ehemaligen israelischen Premierminister Naftali Bennett, der bereits am 13. Oktober die Frage eines Journalisten nach zivilen Opfern im Gaza-Streifen mit den Worten zurückwies:
Fragen Sie mich ernsthaft weiter nach palästinensischen Zivilisten? Haben Sie nicht gesehen, was los ist? Wir bekämpfen Nazis.
Und weiter:
Als Großbritannien im Zweiten Weltkrieg die Nazis bekämpft hat, hat auch keiner gefragt, was in Dresden los ist. Die Nazis haben London angegriffen und ihr habt Dresden angegriffen. Deshalb: Schande über Sie, wenn Sie mit diesem falschen Narrativ weitermachen.
Ich bin mir nicht sicher, wie wirkungsvoll diese Absicherungschiffren heute noch sind und ob nicht “Dresden” als Wort doch einen anderen Beiklang hat als den, der Reichelt und Bennett im Ohr sitzen mag. Florenz und Elbe und “Wie liegt die Stadt so wüst” klingen mit.
Alte Hebel, die so spielend angesetzt werden konnten und funktionierten, sind jedoch langlebiges Gerät. Und so hat gestern der israelische Außenminister Eli Cohen die (wiederum nicht bindende) Resolution der UN-Vollversammlung, diesen Aufruf zur Schonung der Zivilbevölkerung und zu einem Ende der Kämpfe, mit denselben Verweisen zurückgewiesen.
Wir lehnen den verabscheuungswürdigen Ruf der UN-Generalversammlung nach einem Waffenstillstand entschieden ab. Israel beabsichtigt, die Hamas zu eliminieren.
Denn so sei die Welt auch mit den Nazis und der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verfahren. Deshalb sei die Resolution ein „dunkler Tag für die UN und für die Menschheit“, der mit Schande in die Geschichte eingehen werde. (Deutschland enthielt sich.)
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Las gestern im neuen Heft der noch wenig bekannten Zeitschrift CRISIS, einem erst im Vorjahr gegründeten “Journal für christliche Kultur”. Verantwortlicher Redakteur ist Gregor Fernbach, der auch den Verlag Hagia Sophia betreibt. Dort wird unter anderem das Werk des russischen Philosophen Iwan Iljin gepflegt.
Unsere Leser haben vor allem nach seiner zentralen Schrift Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse gegriffen, und natürlich ist in der neuen Ausgabe ein Beitrag über die Gedankenführung dieses Buches enthalten. Denn CRISIS 6 beschäftigt sich mit dem Thema “Krieg”.
Das Heft ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Ich mag es, wenn nicht kommentiert, sondern zusammengetragen wird, wenn man etwas lernt und erfährt.
So war mir unter anderem die Vertiefung der Glaubensspaltung in der Ukraine nicht bewußt, obwohl ich früher in Dörfern war, in denen neben der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (UOK) auch eine griechisch-katholische Kirche stand. Diese vor allem westukrainische Abspaltung rührt aus dem Jahr 1596, in dem sich dieser Teil der alten Kiewer Rus dem polnisch-litauischen Bund unterwarf und kirchlich Konstantinopel verließ und Rom anerkannte. Die Liturgie blieb orthodox.
2018 kam es zu einem zweiten Schisma, nämlich zur Gründung eines eigenständigen, vom russischen Patriarchat unabhängigen orthodoxen Kirchentums der Ukraine. Die bei Rußland verbliebene Orthodoxie (die UOK) löste sich 2022 ebenfalls von Moskau – ein taktischer Schritt, der jedoch nichts austrug: Seit Dezember ist sie faktisch verboten, bekam sofort die Nutzungsrechte im weltberühmten Kiewer Höhlenkloster entzogen und wird seit Juni auch aus den letzten, ihr verbliebenen Klausen und Kirchen vertrieben.
Im CRISIS-Heft schreiben Matthias Matussek und die Journalistin Nina Byzantinia über diese Vorgänge. Letztere spielt mit ihrem Versuch, der katholisch-griechischen Kirche eine intensive Kontaktschuld zum Dritten Reich nachzuweisen, mit dem Feuer. Man muß nicht tief graben, um Verstrickungen auf allen Seiten zu finden.
Dezidiert ist der Beitrag Benjamin Kaisers, der von England aus mitarbeitet und seinen Beitrag “Der geistige Kampf” mit den Sätzen beginnt, daß ein totaler Krieg tobe, von dem jeder einzelne betroffen sei: Es sei ein Krieg, in dem die eine Seite machtvoll behaupte, daß der Mensch sein könne und solle wie Gott, während die andere Seite in diesem geistigen Kampf die heiligen Zeichen aufgerichtet halte oder wieder aufrichte – und zwar zunächst und vor allem in sich selbst.
Seien noch der lange, grundlegende Beitrag des mir bisher nicht bekannten Publizisten Wolfgang Vasicek erwähnt, der den “Krieg als Ereignis” und seine “Eingrenzung und Entgrenzung” sehr kenntnisreich und lektüregesättigt behandelt, außerdem das Editorial, das die Tradition einer “Segnung der Waffen” ausleuchtet, und das Interview mit Ulrike Guérot, das von Redakteurin Beile Ratut geführt wird.
CRISIS verfolgt einen konsequent christlichen, vor allem orthodoxen und west-kritischen Kurs. Das ist im deutschsprachigen Raum eine Lücke, und sie wird nun gefüllt. Heft 6 ist soeben erschienen, umfaßt 88 Seiten, kostet 12.50 € und kann hier bestellt werden. Auch ein Abonnement kann man dort zeichnen.