Frankreich und das Ende der laicité

pdf der Druckfassung aus Sezession 10 / Juli 2005

sez_nr_10von Daniel L. Schikora

Wer hätte sich vor einer Generation vorstellen können, daß das quasi perfekte Modell einer Staatsnation, die Heimat der schwarzen Husaren der Republik, das Land der Revolution, das Frankreich von Napoleon und de Gaulle den Kurs eines multikulturellen Staats nach amerikanischem Vorbild ansteuern würde?
Alain Minc, Epitres à nos nouveaux maitres, 2003

In der Pha­se der „alteuropäisch“-amerikanischen Zer­würf­nis­se im Kon­text des drit­ten Golf­krie­ges (Früh­jahr 2003) gin­gen Neo­kon­ser­va­ti­ve in den USA so weit, das Ver­dikt zu ver­kün­den, Frank­reich sei „kein west­li­ches Land mehr“. Dies wur­de mit dem Umstand begrün­det, daß in vie­len fran­zö­si­schen Städ­ten „jun­ge Mäd­chen abends nicht mehr aus­ge­hen kön­nen, zumin­dest nicht ohne Bur­ka“. Pole­mi­ken sol­cher Art hat­ten ihren kon­kre­ten Anlaß in der Befürch­tung eines Wie­der­auf­le­bens „neo­gaul­lis­ti­scher“ Ambi­tio­nen eines fran­zö­si­schen Schul­ter­schlus­ses mit anti-ame­ri­ka­ni­schen Kräf­ten im ara­bisch-isla­mi­schen Raum. Unab­hän­gig davon jedoch leg­ten sie, wenn sie als sozio-kul­tu­rel­le Aus­wir­kun­gen des isla­mi­schen „Inte­gris­mus“ den Ver­lust des Genus­ses ele­men­ta­rer indi­vi­du­el­ler Frei­heits­rech­te inner­halb der Gren­zen eines säku­la­ren euro­päi­schen Gemein­we­sens anpran­ger­ten, den Fin­ger in die Wun­de einer Ein­wan­de­rungs- und Inte­gra­ti­ons­po­li­tik der ver­gan­ge­nen drei Jahr­zehn­te, die auch in Frank­reich selbst viel­fach als miß­lun­gen beur­teilt wird: Nicht weni­ger als die Lai­zi­tät – eines der zen­tra­len Ver­fas­sungs­prin­zi­pi­en der Fran­zö­si­schen Repu­blik – sieht sich gegen­wär­tig durch den Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus zur Dis­po­si­ti­on gestellt.
Um zu erfas­sen, war­um die säku­lar-repu­bli­ka­ni­sche Mehr­heits­ge­sell­schaft die Her­aus­for­de­rung des Lai­zis­mus durch „kom­mu­ni­ta­ris­ti­sche“ Ten­den­zen inner­halb der mus­li­mi­schen Bevöl­ke­rungs­tei­le Frank­reichs als exis­ten­ti­el­le Bedro­hung ver­steht, soll im fol­gen­den zunächst die His­to­ri­zi­tät der lai­ci­té skiz­ziert wer­den. Bereits im Ver­lau­fe der Ers­ten (Gro­ßen) Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on voll­zog sich in Gestalt der Zivil­ver­fas­sung des Kle­rus vom 12. Juli 1790 eine sys­te­ma­ti­sche Inkor­po­ra­ti­on der Kir­che von Frank­reich in den moder­nen Gesetz­ge­bungs­staat. Die kir­chen­po­li­ti­schen Initia­ti­ven der Kon­sti­tu­an­te erfaß­ten – als Aus­druck des Wil­lens, die Kir­che von Frank­reich als eine poten­ti­ell oppo­si­tio­nel­le, dem Anci­en Régime ver­pflich­te­te For­ma­ti­on aus­zu­schal­ten – im Kern das Anlie­gen der lai­ci­té, der Befrei­ung des poli­ti­schen Kör­pers der Nati­on von jeg­li­cher Beein­flus­sung durch reli­giö­se Insti­tu­tio­nen. So hat­te sich bereits in Art. 10 der Erklä­rung der Men­schen- und Bür­ger­rech­te vom 26. August 1789 der Pri­mat der Herr­schaft des Geset­zes mani­fes­tiert: „Nie­mand darf wegen sei­ner Mei­nun­gen, auch nicht wegen sei­ner reli­giö­sen Mei­nun­gen behel­ligt wer­den, solan­ge der Aus­druck die­ser Mei­nun­gen nicht die vom Gesetz fest­ge­leg­te öffent­li­che Ord­nung stört.“
Ver­wirk­licht wur­de die Lai­zi­tät in ihrer „klas­si­schen“ Form in einer Pha­se der Voll­endung der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie: in der III. Repu­blik. Der Begriff der lai­ci­té (von griech. lai­kos = dem Volk ange­hö­rend), der sich ab 1873 auch in Lexi­ka fand, dien­te der Bezeich­nung einer Ord­nungs­kon­zep­ti­on, als deren zen­tra­le Pos­tu­la­te (1) die Gewis­sens­frei­heit des indi­vi­du­el­len Ein­zel­nen, (2) die Gleich­heit aller geist­li­chen und reli­giö­sen For­ma­tio­nen vor dem Gesetz und (3) die staat­li­che Neu­tra­li­tät gegen­über den Reli­gio­nen galten.

Die Jah­re 1880 – 1903 waren geprägt durch eine Rei­he säku­la­ris­ti­scher Initia­ti­ven, die unter ande­rem in einer Auf­he­bung des Ver­bots der Sonn­tags­ar­beit, einer Auf­he­bung kon­fes­sio­nel­ler Fried­hö­fe, in einer anti­kle­ri­ka­len Modi­fi­ka­ti­on des Schei­dungs­rech­tes und ins­be­son­de­re in einer Ver­drän­gung des kirch­li­chen Lehr­per­so­nals in den öffent­li­chen Schu­len ihren Aus­druck fan­den. Letz­te­res schuf die struk­tu­rel­len Vor­aus­set­zun­gen für eine lai­zis­ti­sche Neu­tra­li­tät des (staat­li­chen) Schul­we­sens. Die­se gilt bis in die Gegen­wart als ein zen­tra­les Moment der natio­nal­staat­lich-repu­bli­ka­ni­schen Ver­ge­sell­schaf­tung des Ein­zel­nen gegen­über par­ti­ku­la­ris­ti­schen For­men der (reli­giö­sen) Ver­ge­mein­schaf­tung. Das Tren­nungs­ge­setz vom 9. Dezem­ber 1905 mar­kier­te schließ­lich einen Tri­umph der lai­zis­ti­schen Bestre­bun­gen der repu­bli­ka­ni­schen „Lin­ken“ über eine „Rech­te“, die im Ver­lau­fe der Drey­fus-Affä­re (1894 – 1906) viel­fach mit Kle­ri­ka­lis­mus, Anti­se­mi­tis­mus und Repu­blik­feind­schaft iden­ti­fi­ziert wur­de. Art. 1 des Tren­nungs­ge­set­zes – der Lex Bri­and – dekla­rier­te die Reli­gi­ons- und Gewis­sens­frei­heit; in Art. 2 hin­ge­gen wur­de die Ver­pflich­tung des Staa­tes ver­an­kert, sich jeg­li­cher Benach­tei­li­gung oder Bevor­zu­gung irgend­ei­ner Reli­gi­ons­ge­mein­schaft – ein­schließ­lich deren Finan­zie­rung – zu enthalten.
Daß die Lex Bri­and den Vati­kan zu einem (1924 revi­dier­ten) Abbruch der diplo­ma­ti­schen Bezie­hun­gen mit Frank­reich ver­an­laß­te, ist geeig­net, zu ver­an­schau­li­chen, inwie­weit bereits unmit­tel­bar nach der Ver­ab­schie­dung die­ses Geset­zes des­sen ver­fas­sungs­po­li­ti­sche Rele­vanz auch und gera­de durch die poli­ti­schen Ant­ago­nis­ten der Lai­zi­tät erkannt wur­de. Aller­dings ließ sich der Pro­zeß einer Ver­ge­setz­li­chung und ver­fas­sungs­recht­li­chen Ver­an­ke­rung der Prin­zi­pi­en des Lai­zis­mus ange­sichts der innen­po­li­ti­schen Kon­stel­la­tio­nen der III., der IV. und der V. Repu­blik zunächst kaum auf­hal­ten oder gar umkeh­ren. Ernst­haf­te ver­fas­sungs­po­li­ti­sche Ver­su­che einer Revi­si­on der Lai­zi­sie­rung Frank­reichs nach 1905 redu­zier­ten sich wesent­lich auf die Pha­se des Vichy-Regimes und wur­den mit der libé­ra­ti­on 1944 / 45 natur­ge­mäß Maku­la­tur. In Art. 1 der Ver­fas­sung der V. Repu­blik vom 4. Okto­ber 1958 wird die Lai­zi­tät in den Rang eines Ver­fas­sungs­prin­zips erho­ben: „Frank­reich ist eine unteil­ba­re, lai­zis­ti­sche, demo­kra­ti­sche und sozia­le Repu­blik.“ In der V. Repu­blik mach­te sich zudem ein ten­den­zi­el­ler Rück­zug der katho­li­schen Reli­gi­ons­aus­übung aus dem kul­tu­rel­len Leben Frank­reichs bemerk­bar: Bekann­ten sich noch im Jah­re 1960 sechs­und­acht­zig Pro­zent der Fran­zo­sen zum Katho­li­zis­mus, waren es im Jah­re 2000 nur noch neun­und­sech­zig Pro­zent; zu den prak­ti­zie­ren­den Katho­li­ken zäh­len sich hin­ge­gen nur zehn Pro­zent der Franzosen.
Wie die fran­zö­si­schen Debat­ten über die Anwend­bar­keit des Ver­fas­sungs­grund­sat­zes der Lai­zi­tät vor Augen füh­ren, erschöpft sich die seit dem Beginn der Kopf­tuch-Kon­tro­ver­se (Novem­ber 1989) in einer brei­ten Öffent­lich­keit wahr­ge­nom­me­ne Kri­se des lai­zis­ti­schen Selbst­ver­ständ­nis­ses der Repu­blik nicht in einer Pro­ble­ma­ti­sie­rung der Wider­stands­fä­hig­keit repu­bli­ka­nisch-lai­zis­ti­scher Sou­ve­rä­ni­tät gegen­über kon­kur­rie­ren­den „theo­kra­ti­schen“ Ord­nungs­an­sprü­chen des (poli­ti­schen) Islam. Wenn öffent­lich Not­wen­dig­kei­ten einer Modi­fi­ka­ti­on des lai­zis­ti­schen Legi­ti­ma­ti­ons­sys­tems und der mit die­sem ver­bun­de­nen Nor­men und Insti­tu­tio­nen – ins­be­son­de­re hin­sicht­lich des Schul­we­sens – the­ma­ti­siert wer­den, so ist dies viel­mehr mit einer Pro­ble­ma­ti­sie­rung eines Staats- und Gesell­schafts­mo­dells in sei­ner Gesamt­heit – der Répu­bli­que une et indi­vi­si­ble – eng verflochten.

Hat­te sich die „klas­si­sche“ Inte­gra­ti­ons­po­li­tik des repu­bli­ka­ni­schen Frank­reich gegen­über Migran­ten­grup­pen (wie gegen­über „auto­chtho­nen“ eth­nisch-regio­na­len Mino­ri­tä­ten) auf eine Assi­mi­la­ti­on an eine natio­nal­staat­lich fun­dier­te Zivi­li­sa­ti­on gerich­tet, wird seit Ende der 1970er Jah­re nicht nur ord­nungs­po­li­ti­schen Pos­tu­la­ten einer Regio­na­li­sie­rung Rech­nung getra­gen, son­dern zuse­hends auch in der Ein­wan­de­rungs­po­li­tik auf ein demons­tra­ti­ves Bekennt­nis zu dem uni­ver­sa­lis­ti­schen Anspruch der „Kul­tur der Mehr­heit“ ver­zich­tet. So tritt anstel­le des Begriffs der Assi­mi­la­ti­on in öffent­li­chen Stel­lung­nah­men fran­zö­si­scher Poli­ti­ker der Begriff der Inte­gra­ti­on – ein Aus­druck der Rück­sicht­nah­me auf das Bedürf­nis auch natu­ra­li­sier­ter Ein­wan­de­rer, eine Akkul­tu­ra­ti­on an die Wer­te und Nor­men der fran­zö­si­schen Mehr­heits­ge­sell­schaft unter den Bedin­gun­gen der Garan­tie­rung eines zivi­len Hand­lungs­spiel­raums zu bewerk­stel­li­gen, der es dem Ein­zel­nen ermög­licht, sich dem Zwang einer vor­be­halt­lo­sen Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der Mehr­heits­kul­tur des Auf­nah­me­lan­des zu entziehen.
Über eine sol­che ten­den­zi­el­le Anglei­chung der fran­zö­si­schen Repu­blik an einen zivil­ge­sell­schaft­li­chen Plu­ra­lis­mus hin­aus­ge­hend, wei­sen die Resul­ta­te einer als fehl­ge­schla­gen ein­ge­stan­de­nen Inte­gra­ti­ons­po­li­tik ins­be­son­de­re gegen­über mus­li­mi­schen Zuwan­de­rer­grup­pen, wie sie in den 1960er und 1970er Jah­ren aus dem Maghreb in Frank­reich ein­tra­fen, Züge einer „mul­ti­kul­tu­rel­len“ Plu­ra­li­sie­rung auf. Ten­den­zen zu einer Ghet­toi­sie­rung unter eth­no-reli­giö­sen Vor­zei­chen tre­ten (unter ande­rem) im Depar­te­ment Sei­ne-Saint-Denis offen zuta­ge. Sie wer­den in der Sicht einer repu­bli­ka­nisch-lai­zis­ti­schen Staats- und Gesell­schafts­auf­fas­sung als Aus­druck des „Kom­mu­ni­ta­ris­mus“ gegei­ßelt. Der Begriff des Kom­mu­ni­ta­ris­mus dient der Bezeich­nung des mit den Ord­nungs­an­sprü­chen der Repu­blik kon­kur­rie­ren­den Bestre­bens einer (par­ti­ku­lä­ren) Gemein­schaft, einen maß­ge­ben­den Ein­fluß auf Sozia­li­sa­ti­on, kul­tu­rel­le Ent­fal­tung und poli­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on eines Teils der Staats­bür­ger­na­ti­on aus­zu­üben. In die­sem Kon­text wer­den das eta­tis­tisch-repu­bli­ka­ni­sche Assi­mi­la­ti­ons­mo­dell Frank­reichs einer­seits und das eth­no-plu­ra­lis­tisch aus­ge­rich­te­te Inte­gra­ti­ons­kon­zept angel­säch­si­scher Staa­ten ande­rer­seits ein­an­der anti­the­tisch gegenübergestellt.
Bereits seit den 1980er Jah­ren hat­te mit der Rea­li­tät einer Kon­tu­ren gewin­nen­den „mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaft“ ein für das repu­bli­ka­nisch-zen­tra­lis­ti­sche, „jako­bi­ni­sche“ Frank­reich grund­sätz­lich neu­ar­ti­ges Gesell­schafts­mo­dell schein­ba­re Bruch­li­ni­en des par­tei­po­li­ti­schen und welt­an­schau­li­chen Spek­trums der Repu­blik in Fra­ge gestellt. Tei­le der eth­no­zen­tri­schen natio­na­len Rech­ten tra­ten nun, in Anbe­tracht der eth­no-reli­giö­sen Iden­ti­tät von als nicht assi­mi­lie­rungs­fä­hig oder ‑wil­lig betrach­te­ten Immi­gran­ten aus dem ara­bisch-isla­mi­schen Raum, sogar als Ver­fech­ter einer Ver­tei­di­gung der repu­bli­ka­ni­schen Errun­gen­schaf­ten der lai­ci­té auf, um – zum Zwe­cke einer Bewah­rung fran­zö­si­scher Iden­ti­tät unter Ein­schluß ihrer säku­la­ris­ti­schen Momen­te – die (Staats­bür­ger-) Nati­on als eth­nos zu pro­pa­gie­ren; die anti­lai­zis­ti­sche Her­aus­for­de­rung durch den poli­ti­schen Islam wäre dem­nach also durch staats­bür­ger­li­che Exklu­si­on von eth­nisch­kul­tu­rell der fran­zö­si­schen Mehr­heits­kul­tur inkom­pa­ti­blen Ein­wan­de­rern zu beant­wor­ten. Eine repu­bli­ka­ni­sche Lin­ke wie­der­um sieht sich inso­fern vor ein poli­tisch-legi­ti­ma­to­ri­sches Dilem­ma gestellt, als die – demo­kra­tie­po­li­tisch in ihrer Sicht nahe­lie­gen­de – Opti­on einer „Reak­ti­vie­rung der Bür­ger­na­ti­on, der nati­on citoy­enne durch groß­zü­gi­ge Gewäh­rung von Bür­ger­rech­ten für inte­gra­ti­ons­wil­li­ge Ein­wan­de­rer“ (Rudolf von Thad­den) die Fra­ge nach der Legi­ti­ma­ti­on einer Unver­han­del­bar­keit des „geschlos­se­nen“ (repu­bli­ka­ni­schen) Lai­zis­mus auf­wirft – jeden­falls inso­weit die­ser sei­tens mus­li­mi­scher Ein­wan­de­rer als ein „eth­no­zen­tri­scher“ Oktroi der fran­zö­si­schen Mehr­heits­ge­sell­schaft emp­fun­den wer­den kann. So drängt sich die Fra­ge auf, ob oder inwie­weit die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem poli­ti­schen Islam einen Abschied von dem Axi­om einer von eth­ni­schen Bin­dun­gen wei­test­ge­hend eman­zi­pier­ten lai­zis­ti­schen Staats­bür­ger­na­ti­on zu begüns­ti­gen geeig­net ist.

Der Islam in Frank­reich jeden­falls wird auch von dezi­dier­ten Geg­nern einer „kom­mu­ni­ta­ris­ti­schen“ Auf­he­bung des Prin­zips der Lai­zi­tät, wie dem frü­he­ren Innen­mi­nis­ter Che­vè­ne­ment, nicht aus­schließ­lich als eine Reli­gi­on, son­dern viel­mehr als eine (fremd­ar­ti­ge) Zivi­li­sa­ti­on begrif­fen, deren Wer­te- und Nor­men­sys­tem eine Her­aus­for­de­rung lai­zis­ti­scher Ord­nungs­prin­zi­pi­en dar­stel­le. Die­se Sicht­wei­se spie­gelt sich auch in sta­tis­ti­schen Ver­fah­ren zur Ermitt­lung der Zahl der in Frank­reich leben­den Mus­li­me wider, die auf dem Kri­te­ri­um der Natio­na­li­tät (respek­ti­ve der eth­ni­schen Zuge­hö­rig­keit) beru­hen: Ein Fran­zo­se ara­bisch­ma­ghre­bi­ni­scher Abstam­mung wird als Mus­lim erfaßt. Der Bericht des Son­der­aus­schus­ses zur Anwen­dung des Prin­zips der Lai­zi­tät in der Fran­zö­si­schen Repu­blik vom Dezem­ber 2003 rech­net dem Islam in Frank­reich fünf Mil­lio­nen Gläu­bi­ge zu, von denen rund fünf­zig Pro­zent die fran­zö­si­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit besitzen.
Im Jah­re 1981 garan­tier­te eine Ände­rung des Asso­zia­ti­ons­ge­set­zes von 1901 der Grün­dung aus­län­di­scher Ver­ei­ni­gun­gen Rechts­si­cher­heit und schuf so die recht­li­chen Grund­la­gen einer Insti­tu­tio­na­li­sie­rung eth­nisch-reli­giö­ser Iden­ti­täts­bil­dung von Mus­li­men in Frank­reich. Mehr noch: Durch staat­li­che Zuwen­dun­gen, die eth­no­zen­trisch aus­ge­rich­te­ter Ver­eins­tä­tig­keit zuteil wur­den, muß­ten sich in vie­len Fäl­len eth­ni­sche Mino­ri­tä­ten­be­völ­ke­run­gen aus dem ara­bisch-isla­mi­schen Raum in ihrem Bedürf­nis einer Auf­recht­erhal­tung kul­tu­rel­ler Tra­di­tio­nen zuun­guns­ten einer vor­be­halt­lo­sen „Assi­mi­la­ti­on“ in das durch den lai­zis­ti­schen Repu­bli­ka­nis­mus gepräg­te Nor­men­sys­tem Frank­reichs bestärkt sehen.
Auf der ande­ren Sei­te doku­men­tiert die im Novem­ber 1989 durch die Kopf­tuch-Kon­tro­ver­se aus­ge­lös­te Debat­te über die lai­zis­ti­sche Iden­ti­tät der Repu­blik das Bestre­ben des offi­zi­el­len Frank­reich, der Wort­füh­rer des Spek­trums der eta­blier­ten Par­tei­en sowie zahl­rei­cher Expo­nen­ten des kul­tu­rel­len Lebens, den Lai­zis­mus offen­siv gegen­über „kom­mu­ni­ta­ris­ti­schen“ und „inte­gris­ti­schen“ Ten­den­zen zur Gel­tung zu brin­gen. Die­se Ein­tracht des Bekennt­nis­ses zum Ver­fas­sungs­prin­zip der Lai­zi­tät ver­moch­te frei­lich nicht dar­über hin­weg­zu­täu­schen, in wel­chem Aus­ma­ße die ursprüng­li­che Stoß­rich­tung des Lai­zis­mus – die sys­te­ma­ti­sche Aus­schal­tung kirch­li­cher Insti­tu­tio­nen und reli­giö­ser Asso­zia­tio­nen aus Ange­le­gen­hei­ten des Staa­tes – gegen­über Neu­in­ter­pre­ta­tio­nen lai­zis­ti­scher Grund­sät­ze im Sin­ne der Gewähr­leis­tung eines reli­giö­sen Plu­ra­lis­mus in Staat und Gesell­schaft bereits als recht­fer­ti­gungs­be­dürf­tig galt. So wur­de in den Kon­tro­ver­sen, wie sie inner­halb des Par­ti Socia­lis­te sowie des Leh­rer­ver­ban­des Edu­ca­ti­on Natio­na­le aus­ge­tra­gen wur­den, dem „klas­si­schen“ lai­zis­ti­schen Eta­tis­mus das Kon­zept eines nicht-dis­kri­mi­na­to­ri­schen zivil­ge­sell­schaft­li­chen Plu­ra­lis­mus ent­ge­gen­ge­stellt, in des­sen Logik ein (Rechts-)Anspruch auch kol­lek­ti­ver Iden­ti­tä­ten auf gleich­be­rech­tig­te Aner­ken­nung als für die demo­kra­ti­sche Repu­blik kon­sti­tu­tiv aner­kannt würde.
Nach der Wie­der­wahl Prä­si­dent Jac­ques Chi­racs und den für die „bür­ger­li­che Rech­te“ erfolg­rei­chen Par­la­ments­wah­len 2002 initi­ier­te die neue Regie­rung die Kon­sti­tu­ie­rung einer Dach­or­ga­ni­sa­ti­on der mus­li­mi­schen Gemein­de. Die Schaf­fung des Con­seil Fran­çais du Cul­te Musul­man konn­te zwar mit guten Grün­den als Mei­len­stein auf dem Wege zu einer Gal­li­ka­ni­sie­rung des in fran­zö­si­schem Ter­ri­to­ri­um prä­sen­ten Islam gewür­digt wer­den, warf aller­dings die Fra­ge auf, inwie­weit eine Poli­tik der akti­ven staat­li­chen För­de­rung des Auf­baus einer sol­chen Dach­or­ga­ni­sa­ti­on den Prin­zi­pi­en der Lai­zi­tät kom­pa­ti­bel sei. Tat­säch­lich ver­ban­den sich in der Insti­tu­tio­na­li­sie­rung und Zen­tra­li­sie­rung eines fran­zö­si­schen Islam unter regie­rungs­po­li­ti­scher Anlei­tung Ele­men­te der – prä-lai­zis­ti­schen – Reli­gi­ons­po­li­tik Napo­le­ons mit Legi­ti­ma­ti­ons­fi­gu­ren eines zivil­ge­sell­schaft­li­chen oder – in Ansät­zen – sogar mul­ti­kul­tu­ra­lis­ti­schen Pluralitätsverständnisses.

Nicht nur mit Blick auf den Recht­fer­ti­gungs­druck, dem die Koope­ra­ti­on mit isla­mi­schen Orga­ni­sa­tio­nen aus­ge­setzt war, son­dern auch anläß­lich des viru­len­ten Kopf­tuch­streits ent­schloß Prä­si­dent Chi­rac sich zur Beru­fung einer Kom­mis­si­on unter der Lei­tung des UDF-Poli­ti­kers Ber­nard Sta­si, deren Auf­trag in der Erstel­lung eines Berich­tes über „Die Anwen­dung des Prin­zips der Lai­zi­tät in der Fran­zö­si­schen Repu­blik“ bestand. Die Sta­si-Kom­mis­si­on leg­te im Dezem­ber 2003 ihren Bericht vor, der gra­vie­ren­de Ver­let­zun­gen der lai­zis­ti­schen Nor­men und Prin­zi­pi­en im All­tags­le­ben des gegen­wär­ti­gen Frank­reich offen­legt. Als beson­ders schwer­wie­gen­de Ver­stö­ße gegen die Lai­zi­tät wer­den unter ande­rem die ver­stärk­te Bevor­mun­dung jun­ger Frau­en, die vom Sport und von jeg­li­chem Ver­eins­le­ben fern­ge­hal­ten wer­den, die immer wie­der auf­tre­ten­de unmit­tel­ba­re phy­si­sche Gewalt­an­wen­dung gegen Frau­en in Gestalt der Geni­tal­ver­stüm­me­lung sowie die anti­se­mi­ti­schen Straf­ta­ten, denen die Ange­hö­ri­gen der jüdi­schen Gemein­de Frank­reichs zuneh­mend sei­tens jun­ger Mus­li­me aus­ge­lie­fert sind, angeführt.
In sei­ner Rede vom 17. Dezem­ber 2003, die sich mit den Ergeb­nis­sen des Berich­tes der Sta­si-Kom­mis­si­on befaß­te und auf die das Augen­merk der gesam­ten fran­zö­si­schen Öffent­lich­keit gerich­tet war, brand­mark­te der fran­zö­si­sche Staats­prä­si­dent kom­mu­ni­ta­ris­ti­sche Bestre­bun­gen einer par­ti­ku­la­ris­ti­schen Ver­ge­mein­schaf­tung außer­halb der unteil­ba­ren und lai­zis­ti­schen Repu­blik als der Geschich­te und den huma­nis­ti­schen Tra­di­tio­nen Frank­reichs zuwi­der­lau­fend. Durch den Bericht der Sta­si-Kom­mis­si­on sah sich Chi­rac in sei­nem Bestre­ben, das Tra­gen von Kopf­tü­chern in öffent­li­chen Schu­len gesetz­ge­be­risch unter­bin­den zu las­sen, bestä­tigt. Ande­rer­seits nahm er – ent­ge­gen den Emp­feh­lun­gen der Kom­mis­si­on – Stel­lung für einen Lai­zi­täts­ko­dex und gegen eine Ein­füh­rung zwei­er neu­er Fei­er­ta­ge – Yom Kip­pur und Aid-El-Kebir –, die der frei­en Reli­gi­ons­aus­übung durch die jüdi­sche und die mus­li­mi­sche Gemein­de Rech­nung tra­gen könn­ten. Durch letz­te­re Posi­tio­nie­rung erteil­te der Prä­si­dent einer Öff­nung des regie­rungs­of­fi­zi­el­len Lai­zis­mus zu einem plu­ra­lis­ti­schen Kon­zept, in dem die Lai­zi­tät zuvör­derst als Garan­tie der gleich­be­rech­tig­ten Koexis­tenz reli­giö­ser Enti­tä­ten im öffent­li­chen Leben Frank­reichs pos­tu­liert wird, eine Absage.
Mit Unter­stüt­zung einer brei­ten Mehr­heit von Abge­ord­ne­ten der Natio­nal­ver­samm­lung ließ die fran­zö­si­sche Regie­rung wenig spä­ter ein Gesetz ver­ab­schie­den, das auf­fäl­li­ge reli­giö­se Sym­bo­le, wie das Kopf­tuch, die Kip­pa und gro­ße Kreu­ze, aus öffent­li­chen Räu­men ver­bannt. Doch selbst die­ser auf den ers­ten Blick kämp­fe­risch-lai­zis­ti­sche Vor­stoß läßt eine gewis­se Unsi­cher­heit im Umgang mit der Her­aus­for­de­rung des poli­ti­schen Islam erken­nen: Das im Febru­ar / März 2004 durch Natio­nal­ver­samm­lung und Senat ange­nom­me­ne Gesetz gegen das Tra­gen reli­giö­ser Zei­chen (unter ande­rem) in den öffent­li­chen Schu­len stell­te sich augen­schein­lich als eine Kon­se­quenz der Aus­ein­an­der­set­zung mit den anti­lai­zis­ti­schen Demons­tra­tio­nen isla­mi­scher Grup­pie­run­gen dar, wie sie seit 1989 in Gestalt der Kopf­tuch-Kon­tro­ver­se offen geführt wor­den war. Gleich­wohl strich der Gesetz­ge­ber durch die ana­lo­ge Äch­tung auch jüdi­scher respek­ti­ve christ­li­cher Sym­bo­le eine Äqui­di­stanz (nicht nur) gegen­über den drei mono­the­is­ti­schen Reli­gio­nen her­aus. Die­se Äqui­di­stanz frei­lich ent­spricht immer­hin dem lai­zis­ti­schen Pos­tu­lat einer Nicht­an­er­ken­nung, im Gegen­satz zu der Regie­rungs­po­li­tik einer aus­drück­li­chen Aner­ken­nung der Exis­tenz einer – in sich kei­nes­falls homo­ge­nen – isla­mi­schen Gemein­schaft auf fran­zö­si­schem Territorium.

Daß den Prin­zi­pi­en der lai­zis­ti­schen Repu­blik ohne­hin nicht allein durch gesetz­ge­be­ri­sche Initia­ti­ven zur Gel­tung ver­hol­fen wer­den kann, macht der Fall Lou­is Chagnon deut­lich. Weil Chagnon, ein Geschichts­und Geo­gra­phie­leh­rer am Col­lè­ge Geor­ges-Pom­pi­dou in Cour­be­voie (Hauts-de-Sei­ne), ihm anver­trau­te Schü­ler mit der his­to­ri­schen Tat­sa­che der Mas­sa­ker, die auf Ver­an­las­sung Moham­meds an den Juden von Qurai­zah ver­übt wur­den, kon­fron­tiert und in die­sem Zusam­men­hang geäu­ßert hat­te, der Reli­gi­ons­stif­ter habe sich „in einen Dieb und Mör­der ver­wan­delt“, sah sich der Päd­ago­ge durch einen Schul­rat allen Erns­tes einer „ras­sis­ti­schen“ Äuße­rung beschul­digt; zudem wur­de er durch einen Dis­zi­pli­nar­aus­schuß gerügt. Im lai­zis­ti­schen Frank­reich, des­sen Natio­nal­ver­samm­lung, unge­ach­tet aus­wär­ti­ger Pro­tes­te, im Janu­ar 2001 die eth­no-reli­gi­ös moti­vier­te Ver­fol­gung der christ­li­chen Arme­ni­er im Osma­ni­schen Reich 1915 / 16 offi­zi­ell als Völ­ker­mord ver­ur­teil­te, erstat­te­ten der Mou­ve­ment cont­re le Racis­me et pour l‘Amitié ent­re les Peu­ples (MRAP) und die Ligue des droits de l‘Homme Anzei­ge gegen einen Leh­rer, der es gewagt hat­te, sei­nen Schü­lern gegen­über die Früh­ge­schich­te des Islam mit Ver­bre­chen gegen Juden in Ver­bin­dung zu bringen.
Als streit­ba­rer Ver­fech­ter des „insti­tu­tio­nel­len“ Lai­zis­mus gab Chagnon in einer im Febru­ar 2004 in Le Figa­ro ver­öf­fent­lich­ten Stel­lung­nah­me zu beden­ken: „Der reli­giö­se Glau­be muß in der Pri­vat­sphä­re blei­ben und darf weder eine poli­ti­sche Waf­fe, noch ein Druck­mit­tel sein. Man ist genö­tigt, fest­zu­stel­len, daß die Demo­kra­tie in Frank­reich ernst­haft in Gefahr ist: Daß ein bür­ger­li­cher Leh­rer vor Gericht gezerrt wer­den kann, weil er über Tat­sa­chen und Hand­lun­gen einer vor vier­zehn Jahr­hun­der­ten ver­stor­be­nen Per­sön­lich­keit berich­tet hat, beweist dies zur Genü­ge.“ Die Kam­pa­gne gegen Chagnon beleuch­tet schlag­licht­ar­tig die Mög­lich­kei­ten einer radi­ka­len Neu­in­ter­pre­ta­ti­on uni­ver­sa­lis­ti­scher Begrif­fe, wie der Tole­ranz oder der Reli­gi­ons­frei­heit, infol­ge einer „Plu­ra­li­sie­rung“ der Lai­zi­tät: Selbst die Äch­tung des Anti­se­mi­tis­mus und die öffent­li­che Ver­ur­tei­lung anti­jü­di­scher Gewalt kann – so legt das Ver­hal­ten der genann­ten Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen nahe – mit Blick auf reli­giö­se Befind­lich­kei­ten der in Frank­reich leben­den Mus­li­me einer „Güter­ab­wä­gung“ unter­wor­fen werden.

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