– – –
Martin Sellner geht in seinem Artikel „Die Melonisierung des patriotischen Europas verhindern“ auf eine Reihe von Fragen ein, die nicht nur die deutsche Rechte beschäftigen. Denn die Fragen der unkontrollierten Einwanderung, der Tätigkeit der NGOs und ihrer Rolle bei den Krisen in den EU-Ländern von großer Bedeutung.
Dennoch übersieht Sellner eine Reihe von Faktoren, die gegen die angebliche Unwirksamkeit der rechten Regierung in Italien und die Schädlichkeit der „Melonisierung“ in Europa sprechen. Wir versuchen nun, auf diese Faktoren hinzuweisen.
Zunächst einmal würden wir nicht behaupten, daß Meloni eine „transatlantische Blenderin“ sei, die unter Ausnutzung rechter Losungen an die Macht kam und ihre Verpflichtungen gegenüber der europäischen Rechten sofort vergaß. Ja, tatsächlich verfolgt die Meloni-Regierung in einigen Fragen eine eindeutige pro-atlantische Politik. Das auffälligste Beispiel dafür sind die klaren Äußerungen von Meloni selbst sowie des italienischen Verteidigungsministers zum Rußland-Ukraine-Konflikt.
Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß eine rechte Ministerpräsidentin nach dem Machtantritt sofort eine Seeblockade und einen Stop der Migrationsströme hätte einleiten müssen, denn dieser Punkt stand nicht im Mittelpunkt des Programms der rechten Koalition. Außerdem ist es darauf hinzuweisen, wie Matteo Salvini als Innenminister im Jahr 2019 versuchte, die Hoheitsgewässer für nur ein einziges Schiff „Gregoretti“ mit Migranten an Bord, zu versperren. Dies löste einen breiten öffentlichen Aufschrei aus und brachte am Ende eine Regierungskrise und den Rücktritt Salvinis mit sich. Deshalb ist die Vorsicht der neuen Ministerpräsidentin gut verständlich und sollte eher als politisch weitblickende Haltung angesehen werden.
Mehr dazu: Was die Politik der italienischen Regierung betrifft, so ist die Migrationsfrage nur eines von vielen Problemen, die nach Jahren der ineffektiven Verwaltung durch die Linkspopulisten nun von Rechten zu lösen sind. Zurzeit befaßt sich Meloni mit Finanzfragen, versucht die Energiesicherheit des Landes zu gewährleisten und ändert die Sozialpolitik und Bildungspolitik. Mit anderen Worten: Es geht um Reformen mit langfristigen Ergebnissen.
Darüber hinaus hängt vieles auch vom Erfolg der derzeit laufenden, geradezu historischen Verfassungsreform ab, die dazu beitragen sollte, die Regierungsstabilität zu stärken und die Befugnisse des Ministerpräsidenten zu erweitern. Aufgrund der Unausgewogenheit des politischen Systems Italiens, das dafür geschaffen wurde, das Auftauchen eines „neuen Duce“ unmöglich zu machen, sind entschlossenere politische Schritte offensichtlich nicht realisierbar. Es ist daher kaum möglich, von Politik nur als einer Frage des politischen Willens zu sprechen.
Im Gegenteil: Die neue Regierung demonstriert eine meisterhafte Beherrschung der Kunst des Möglichen. Melonis Machtantritt und ein Jahr stabiler Regierung sind bereits ein großartiges Ergebnis für Italien, dessen politische Stabilität seit langem Gegenstand von Witzen sowohl im In- als auch im Ausland ist.
Nun zur Frage der Kulturpolitik: Auch hier wurden die ersten „Soft Power“-Maßnahmen zur schrittweisen Änderungen der vorherrschenden Agenda in der Gesellschaft ergriffen. Dies zeigt uns auch, dass Meloni weder mit ihrer Vergangenheit noch mit dem rechten Milieu, das sie geprägt hat, zu brechen vorhat.
Im vergangenen Jahr wurden auf Druck der Regierung einige Umstellungen in der wichtigsten Medienholding RAI vorgenommen, die Zahl der rechten Verlage nahm zu, und die Texte (nur als Beispiel) von J.R.R. Tolkien, die in der rechten Jugendkultur der 70er und 80er Jahre von großer Bedeutung waren und einen großen Einfluß auf Meloni selbst und ihren Kreis hatten, werden erneut popularisiert. Die Gestalte dieses „neuen europäischen Epos“ könnten, wenn sie richtig entwickelt werden, durchaus Teil der von der italienischen Rechten ausgearbeiteten metapolitischen Erzählung werden.
Der zweite Punkt, der hier angesprochen werden soll, ist das Problem der rechten Bürgerbewegungen oder „patriotischen Zivilgesellschaft“, auf deren Krise Martin Sellner ganz zu Recht hinweist. Diese Situation hat tiefe historische Wurzeln – ganz abgesehen davon, daß die politischen und sozialen Gegebenheiten in Italien ganz anders sind als in Deutschland oder Österreich.
Der Höhepunkt der Aktivität von italienischer „Zivilgesellschaft“ fällt in die 1960–70er Jahre – nicht umsonst „Anni di piombo“ („Jahre des Bleies“) genannt. Bekanntlich ist diese Zeit eine Periode aktiver Debatten aller Arten von Organisationen und Bewegungen sowohl der Linken als auch der Rechten, scharfer Konfrontation der Christdemokraten mit Kommunisten und Sozialisten, neofaschistischer Putschversuche (z.B. des Borghese-Putsches), zahlreicher politischer Mordanschläge, terroristischer Angriffe, Straßenkämpfe und Entführungen.
All dies hatte zur Etablierung einer technokratischen Regierungsform in Italien geführt, die Generationen von politisch passiven Menschen hervorbrachte. Sie sind in „universellen humanistischen Werten“ so erzogen worden, daß jeder Widerstand gegen das Böse mit Gewalt kriminell sei.
Rechte Gruppen wie CasaPound oder Forza Nuova stellen in einer solchen neutralen politischen Landschaft eher eine Ausnahme als ein Beispiel für eine große, aber „schlafende“ rechte Zivilgesellschaft dar. Die Zeiten, in denen das Land die Ideale eines geeinten Europas von rechts skandierte, eines „Europas der Nationen“, wie es in einem populären Lied der Band „Vento del Sud“ gesungen wurde, gehören in der Tat der Vergangenheit an, was jedoch nicht nur für Italien symptomatisch ist.
Ein weiterer Punkt, der die Bildung einer solchen Art von Gesellschaft in Italien verhindert, ist die im Vergleich zu anderen Ländern äußerst geringe Homogenität der Bevölkerung. Dies zeigt sich sowohl im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich als auch im Hinblick auf Identität.
Die Geschichte zeigt, dass die Versuche, eine italienische Nation zu schaffen, die durch das Prinzip des Blutes vereint ist, zu keinem positiven Ergebnis geführt haben. Heute betrachten sich die Menschen, die in verschiedenen Regionen des Landes leben, zunächst als Florentiner, Neapolitaner, Turiner, Römer, dann als Süd- oder Norditaliener, als Sardinier oder Sizilianer und nur schließlich als Italiener.
In dieser Hinsicht ist Viktor Orbáns Aussage über sein Engagement für einen „Gramscismus von rechts“, der darauf abzielt, die Denkweise der Menschen durch „kulturelle Hegemonie“ zu verändern, richtig, aber ein solcher Ansatz ist im Kontext der absoluten Überlegenheit des „American Way of Thinking“ sehr schwierig und erfordert eine tiefgreifende Entwicklung nicht auf der Ebene Ungarns, Polens oder Italiens, sondern auf der Ebene einer ernsthaften überstaatlichen Institution, die sich mit der Gestaltung der metakulturellen und metapolitischen Grundlagen eines zukünftigen Europas beschäftigt.
Um die notwendige „Festung Europa“ zu errichten, zu deren Verteidigung die deutsche Rechte aufruft, müssen zunächst ihre Konturen gezeichnet und ihre Mauern gezogen werden – dann wird auch Politikern wie Meloni klar sein, was genau zu verteidigen ist. Solange es solche Mauern nicht gibt, ist man mit der Wiederherstellung der Ordnung im eigenen Land beschäftigt.
Der letzte Punkt, der zu erwähnen ist, betrifft das intellektuelle und politische Engagement der europäischen Rechten. Ein Blick auf die politische Landschaft Europas zeigt, daß mehr oder weniger rechtsgerichtete Regierungen in der absoluten Minderheit sind und unter enormem Druck aus Brüssel stehen. Unter diesen Bedingungen wäre es zumindest unangebracht, von der Rechten einen länderübergreifenden Ansatz zu fordern, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß bisher keine gemeinsame Strategie ausgearbeitet worden ist.
In dieser Hinsicht scheint es im Gegenteil angebracht zu sein, zunächst möglichst viele „melonisierte Regierungen“ in den europäischen Ländern zu schaffen, die, wenn sie mindestens ein Drittel aller europäischen Regierungen ausmachen, sichtbarer werden und wirkliches politisches Gewicht gewinnen könnten.
Deshalb ist die Frage angebracht, welche Möglichkeiten es gibt, eine solche überstaatliche Institution oder ein Netzwerk von Institutionen zu schaffen, die der Entwicklung der rechten Agenda auf allen Ebenen einen zusätzlichen Impuls geben würden, wenn wir von dem globalen Problem der rechten Bewegung sprechen.
Um auf Italien zurückzukommen: Es könnte sinnlos sein, unter solch schwierigen Umständen direkten Widerstand zu leisten und dadurch die Macht zu verlieren, also nur, um zu versuchen, eines von vielen Problemen zu lösen. Auf lange Sicht wäre das sogar schädlich für die gesamte europäische rechte Bewegung.
Aus diesem Grund sollte die „Melonisierung Europas“ im Gegenteil verstärkt vorangetrieben werden, was mehr Möglichkeiten für eine länderübergreifende Interaktion und eine Änderung des Kurses der europäischen Gemeinschaft bieten könnte – bevor es zu spät ist.
wolfdieter
Für mich überraschende Aspekte. (Auch ich hatte Meloni für ein aufgetauchtes Uboot gehalten).
Und dickes Dankeschön an die Russen. Keine schlechte Arbeit.