Waren sie mir bisher nicht aufgefallen? Hatte ich es geschafft, ihren Anblick zu verdrängen? Jedenfalls waren sie plötzlich da und bohrten sich in mein Bewußtsein.
Der letzte Tropfen im Faß war der Anblick von vier Bauarbeitern in einem Gasthaus in Laibach, die sich in der Mittagspause an den Tisch setzen, simultan ihre Smartphones auspackten, anschalteten und wortlos in sie hineinstarrten. So verharrten sie mindestens zehn Minuten lang.
Nun wurde mir klar, daß das Spiel verloren war, zumal sich mir auf meiner nächsten Station, in Triest, derselbe Anblick bot: Der Smartphone-Mensch ist etablierte, universelle, internationale Realität. Der Mini-Computer in seiner Hand oder Hosentasche, der ihn befähigt, sich jederzeit und überall mit dem Internet zu verbinden, gehört zu seiner Grundausstattung in allen Lebenslagen, gleich nach Kleidern und Schuhen.
Indes glaube ich nicht, daß es nur meine selektive Wahrnehmung war, die diese maßlose Eskalation bisher ausgeblendet hatte. Es geht auch nicht um das Benutzen dieser Technologie an sich, sondern vor allem um die Art, wie sie benutzt wird und eine soziale Rolle zu spielen beginnt.
Im Laufe der Corona-Jahre war mir bereits ein deutlicher Anstieg an Zeitgenossen aufgefallen, die nicht nur im Sitzen in der Straßenbahn, sondern während sie im Freien auf der Straße gehen, in die kleinen Bildschirme in ihrer Handfläche vertieft sind, den Arm zwischen 90 und 45 Grad abgewinkelt, den Kopf nach unten gesenkt. Diese Armhaltung ist inzwischen zur dauerhaften Geste erstarrt: Auch wenn der Blick nach vorne gerichtet ist, verharren die Arme der smartphonebewehrten Fußgänger in dieser Bereitschaftsstellung, um jederzeit auf neue Benachrichtigungssignale ihrer Social-Media-Apps reagieren zu können.
In meiner Heimatstadt Wien ist es unmöglich geworden, auf die Straße zu gehen, ohne auf der Stelle von den Schlafwandlern mit den gesenkten Köpfen und den abgewinkelten Armen umzingelt zu sein. Sie sind buchstäblich das erste, das ich Tag für Tag mit deprimierender Zuverlässigkeit sehe, wenn ich meine Haustür verlasse. Manchmal kann man sie in Scharen sehen, wie sie an einer Bushaltestelle warten, allesamt synchronisiert in ein- und derselben Körperhaltung, in stehender oder auch sitzender Variante, bei der der Körper sackartig zusammensinkt. Manchmal steigen Menschen zu, deren Hände leer sind.
Ab und zu hoffe ich noch, daß diese oder jene Person sich anders verhalten wird, ich beobachte sie gespannt, nur um Sekunden später regelmäßig enttäuscht zu werden. Die Hände wandern automatisch, kaum noch bewußt, in die Hosen- oder Handtasche, holen das Gerät hervor, wischen über die glatte Oberfläche, tippen mit spitzen Fingern oder mit einem biegsamen Daumen kurze Nachrichten, verteilen Herzchen, Emojis und Daumen nach oben oder unten.
Alter, Geschlecht, soziale Schicht, ethnische Herkunft spielen dabei keine Rolle. Das Smartphone ist der ultimative demokratische Gleichmacher. Die sackartig gekleidete Kopftuchfrau, die korpulente, lautstarke Afrikanerin, der bärtige Turbanträger mit seiner Frau im bunten Sari, der »Hakan vom McFit« und seine muskelbepackte Gang, der stoppelbärtige Balkanboomer sind ebenso vom Bildschirm gebannt wie der autochthone Lederhosenträger, der queere Hipster, der gediegene ältere Herr mit Anzug und Krawatte, die achtzigjährige Oma mit Rollator, der Zehn- oder Zwölfjährige auf dem Weg zur Schule, das aufgedonnerte Teenagertussi-Trio, der tätowierte, langhaarige Metal-Fan oder die Mutter mit dem frischgeborenen Baby um den Bauch. Bei jedem kann man die gleiche Körperhaltung, die gleichen Gesten, den gleichen, merkwürdig pazifizierten, hypnotisch absorbierten Gesichtsausdruck beobachten.
Die visuelle Gleichschaltung erinnert an die homogenisierende Wirkung der Corona-Maskenpflicht. Es gibt auch keine Situation oder Tätigkeit mehr, die vom Smartphonekonsum ausgenommen wäre: Ich sehe täglich Menschen, die am Bildschirm kleben, während sie radfahren, joggen, die Straße überqueren, am Wursttresen oder an der Kasse warten, im Freibad in der Sonne liegen, ein Konzert oder eine Lesung anhören oder mit ihrem Partner, der ebenfalls mit seinem Gerät beschäftigt ist, auf einer Parkbank kuscheln.
Sitzen mehrere Leute bei Tisch in einem Café oder Restaurant, hat jeder einzelne sein Gerät im Stand-by-Modus neben sich liegen. Kein Gespräch kommt mehr ohne dessen Unterstützung aus: Ununterbrochen will jemand etwas »googeln« oder lustige Memes, Videos oder Fotos zeigen. Rücksicht im öffentlichen Raum nimmt kaum jemand mehr, besonders Jugendliche nicht, die mit diesen Maschinen aufgewachsen sind. Während sie im Sekundentakt von Posting zu Posting hüpfen, hört man quer durch die U‑Bahn blechern-scheppernde Geräuschdämonen krächzen: angerissene Musikstücke, Sprachfetzen, Jingles, Signaltöne und so weiter.
Viele Menschen scheinen die Welt nur noch aus dem Blickwinkel ihrer digitalen Verwertbarkeit wahrzunehmen. Egal, ob es die »Mona Lisa« im Louvre ist, ein Wasserfall, eine touristische Sehenswürdigkeit, ein frisch erworbener Konsumartikel oder eine Pizza, die man eben bestellt, oder ein Freund, den man eben getroffen hat: Alles wird sofort per Smartphone audiovisuell aufgesogen, gespeichert, mit Filtern verändert, gepostet, weitergeleitet.
Die Debatte darum ist gewiß nicht neu. Karikiert wurde dieser Trend bereits 2017 in dem viralen Trickfilm The Sad Reality of Our World von Steve Cutts, der als dystopische Warnung gedacht war: Am Ende torkeln die dopaminsüchtigen Smartphonezombies wie Lemminge über eine abgrundtiefe Klippe in ihr Verderben. Sechs Jahre später nimmt kaum jemand mehr die Problemhaftigkeit dieser Entwicklung wahr. Permanent »online« zu sein ist »neue Normalität«, sozial akzeptiertes, wenn nicht gar selbstverständliches Verhalten. Dagegen protestieren zu wollen gliche einer moralischen Empörung über Schwerkraft oder Vanilleeis.
Es scheint sich sogar so etwas wie eine anthropologische Umformung oder Einformung abzuzeichnen. Das Gerät wirkt bereits jetzt wie in den Handflächen festgeklebt. Eine physische Implantation wäre im Grunde der nächste logische Schritt. Der Transhumanismusprophet Yuval Noah Harari bemerkte schon vor Jahren, daß ein Smartphonebesitzer bereits eine Art Cyborg im Frühstadium sei.
Er selbst beteuerte, kein solches Ding zu benutzen, da es ihm kostbare Zeit und Konzentrationsfähigkeit raube. Und er warnte: Wenn künstliche Intelligenz dein unentbehrliches Helferlein hacken kann, kann sie auch dich hacken.