Cyborg im Frühstadium

PDF der Druckfassung aus Sezession 116/ Oktober 2023

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Waren sie mir bis­her nicht auf­ge­fal­len? Hat­te ich es geschafft, ihren Anblick zu ver­drän­gen? Jeden­falls waren sie plötz­lich da und bohr­ten sich in mein Bewußtsein.

Der letz­te Trop­fen im Faß war der Anblick von vier Bau­ar­bei­tern in einem Gast­haus in Lai­bach, die sich in der Mit­tags­pau­se an den Tisch set­zen, simul­tan ihre Smart­phones aus­pack­ten, anschal­te­ten und wort­los in sie hin­einstarr­ten. So ver­harr­ten sie min­des­tens zehn Minu­ten lang.

Nun wur­de mir klar, daß das Spiel ver­lo­ren war, zumal sich mir auf mei­ner nächs­ten Sta­ti­on, in Tri­est, der­sel­be Anblick bot: Der Smart­phone-Mensch ist eta­blier­te, uni­ver­sel­le, inter­na­tio­na­le Rea­li­tät. Der Mini-Com­pu­ter in sei­ner Hand oder Hosen­ta­sche, der ihn befä­higt, sich jeder­zeit und über­all mit dem Inter­net zu ver­bin­den, gehört zu sei­ner Grund­aus­stat­tung in allen Lebens­la­gen, gleich nach Klei­dern und Schuhen.

Indes glau­be ich nicht, daß es nur mei­ne selek­ti­ve Wahr­neh­mung war, die die­se maß­lo­se Eska­la­ti­on bis­her aus­ge­blen­det hat­te. Es geht auch nicht um das Benut­zen die­ser Tech­no­lo­gie an sich, son­dern vor allem um die Art, wie sie benutzt wird und eine sozia­le Rol­le zu spie­len beginnt.

Im Lau­fe der Coro­na-Jah­re war mir bereits ein deut­li­cher Anstieg an Zeit­ge­nos­sen auf­ge­fal­len, die nicht nur im Sit­zen in der Stra­ßen­bahn, son­dern wäh­rend sie im Frei­en auf der Stra­ße gehen, in die klei­nen Bild­schir­me in ihrer Hand­flä­che ver­tieft sind, den Arm zwi­schen 90 und 45 Grad abge­win­kelt, den Kopf nach unten gesenkt. Die­se Arm­hal­tung ist inzwi­schen zur dau­er­haf­ten Ges­te erstarrt: Auch wenn der Blick nach vor­ne gerich­tet ist, ver­har­ren die Arme der smart­phone­be­wehr­ten Fuß­gän­ger in die­ser Bereit­schafts­stel­lung, um jeder­zeit auf neue Benach­rich­ti­gungs­si­gna­le ihrer Social-Media-Apps reagie­ren zu können.

In mei­ner Hei­mat­stadt Wien ist es unmög­lich gewor­den, auf die Stra­ße zu gehen, ohne auf der Stel­le von den Schlaf­wand­lern mit den gesenk­ten Köp­fen und den abge­win­kel­ten Armen umzin­gelt zu sein. Sie sind buch­stäb­lich das ers­te, das ich Tag für Tag mit depri­mie­ren­der Zuver­läs­sig­keit sehe, wenn ich mei­ne Haus­tür ver­las­se. Manch­mal kann man sie in Scha­ren sehen, wie sie an einer Bus­hal­te­stel­le war­ten, alle­samt syn­chro­ni­siert in ein- und der­sel­ben Kör­per­hal­tung, in ste­hen­der oder auch sit­zen­der Vari­an­te, bei der der Kör­per sack­ar­tig zusam­men­sinkt. Manch­mal stei­gen Men­schen zu, deren Hän­de leer sind.

Ab und zu hof­fe ich noch, daß die­se oder jene Per­son sich anders ver­hal­ten wird, ich beob­ach­te sie gespannt, nur um Sekun­den spä­ter regel­mä­ßig ent­täuscht zu wer­den. Die Hän­de wan­dern auto­ma­tisch, kaum noch bewußt, in die Hosen- oder Hand­ta­sche, holen das Gerät her­vor, wischen über die glat­te Ober­flä­che, tip­pen mit spit­zen Fin­gern oder mit einem bieg­sa­men Dau­men kur­ze Nach­rich­ten, ver­tei­len Herz­chen, Emo­jis und Dau­men nach oben oder unten.

Alter, Geschlecht, sozia­le Schicht, eth­ni­sche Her­kunft spie­len dabei kei­ne Rol­le. Das Smart­phone ist der ulti­ma­ti­ve demo­kra­ti­sche Gleich­ma­cher. Die sack­ar­tig geklei­de­te Kopf­tuch­frau, die kor­pu­len­te, laut­star­ke Afri­ka­ne­rin, der bär­ti­ge Turban­trä­ger mit sei­ner Frau im bun­ten Sari, der »Hakan vom McFit« und sei­ne mus­kel­be­pack­te Gang, der stop­pel­bär­ti­ge Bal­kan­boo­mer sind eben­so vom Bild­schirm gebannt wie der auto­chtho­ne Leder­ho­sen­trä­ger, der que­e­re Hips­ter, der gedie­ge­ne älte­re Herr mit Anzug und Kra­wat­te, die acht­zig­jäh­ri­ge Oma mit Rol­la­tor, der Zehn- oder Zwölf­jäh­ri­ge auf dem Weg zur Schu­le, das auf­ge­don­ner­te Teen­ager­tus­si-Trio, der täto­wier­te, lang­haa­ri­ge Metal-Fan oder die Mut­ter mit dem frisch­ge­bo­re­nen Baby um den Bauch. Bei jedem kann man die glei­che Kör­per­hal­tung, die glei­chen Ges­ten, den glei­chen, merk­wür­dig pazi­fi­zier­ten, hyp­no­tisch absor­bier­ten Gesichts­aus­druck beobachten.

Die visu­el­le Gleich­schal­tung erin­nert an die homo­ge­ni­sie­ren­de Wir­kung der Coro­na-Mas­ken­pflicht. Es gibt auch kei­ne Situa­ti­on oder Tätig­keit mehr, die vom Smart­phone­kon­sum aus­ge­nom­men wäre: Ich sehe täg­lich Men­schen, die am Bild­schirm kle­ben, wäh­rend sie rad­fah­ren, jog­gen, die Stra­ße über­que­ren, am Wurst­tresen oder an der Kas­se war­ten, im Frei­bad in der Son­ne lie­gen, ein Kon­zert oder eine Lesung anhö­ren oder mit ihrem Part­ner, der eben­falls mit sei­nem Gerät beschäf­tigt ist, auf einer Park­bank kuscheln.

Sit­zen meh­re­re Leu­te bei Tisch in einem Café oder Restau­rant, hat jeder ein­zel­ne sein Gerät im Stand-by-Modus neben sich lie­gen. Kein Gespräch kommt mehr ohne des­sen Unter­stüt­zung aus: Unun­ter­bro­chen will jemand etwas »goo­geln« oder lus­ti­ge Memes, Vide­os oder Fotos zei­gen. Rück­sicht im öffent­li­chen Raum nimmt kaum jemand mehr, beson­ders Jugend­li­che nicht, die mit die­sen Maschi­nen auf­ge­wach­sen sind. Wäh­rend sie im Sekun­den­takt von Pos­ting zu Pos­ting hüp­fen, hört man quer durch die U‑Bahn ble­chern-schep­pern­de Geräusch­dä­mo­nen kräch­zen: ange­ris­se­ne Musik­stü­cke, Sprach­fet­zen, Jin­gles, Signal­tö­ne und so weiter.

Vie­le Men­schen schei­nen die Welt nur noch aus dem Blick­win­kel ihrer digi­ta­len Ver­wert­bar­keit wahr­zu­neh­men. Egal, ob es die »Mona Lisa« im Lou­vre ist, ein Was­ser­fall, eine tou­ris­ti­sche Sehens­wür­dig­keit, ein frisch erwor­be­ner Kon­sum­ar­ti­kel oder eine Piz­za, die man eben bestellt, oder ein Freund, den man eben getrof­fen hat: Alles wird sofort per Smart­phone audio­vi­su­ell auf­ge­so­gen, gespei­chert, mit Fil­tern ver­än­dert, gepos­tet, weitergeleitet.

Die Debat­te dar­um ist gewiß nicht neu. Kari­kiert wur­de die­ser Trend bereits 2017 in dem vira­len Trick­film The Sad Rea­li­ty of Our World von Ste­ve Cutts, der als dys­to­pi­sche War­nung gedacht war: Am Ende tor­keln die dopa­min­süch­ti­gen Smart­phone­zom­bies wie Lem­min­ge über eine abgrund­tie­fe Klip­pe in ihr Ver­der­ben. Sechs Jah­re spä­ter nimmt kaum jemand mehr die Pro­blem­haf­tig­keit die­ser Ent­wick­lung wahr. Per­ma­nent »online« zu sein ist »neue Nor­ma­li­tät«, sozi­al akzep­tier­tes, wenn nicht gar selbst­ver­ständ­li­ches Ver­hal­ten. Dage­gen pro­tes­tie­ren zu wol­len gli­che einer mora­li­schen Empö­rung über Schwer­kraft oder Vanilleeis.

Es scheint sich sogar so etwas wie eine anthro­po­lo­gi­sche Umfor­mung oder Ein­for­mung abzu­zeich­nen. Das Gerät wirkt bereits jetzt wie in den Hand­flä­chen fest­ge­klebt. Eine phy­si­sche Implan­ta­ti­on wäre im Grun­de der nächs­te logi­sche Schritt. Der Trans­hu­ma­nis­mus­pro­phet Yuval Noah Hara­ri bemerk­te schon vor Jah­ren, daß ein Smart­phone­be­sit­zer bereits eine Art Cyborg im Früh­sta­di­um sei.

Er selbst beteu­er­te, kein sol­ches Ding zu benut­zen, da es ihm kost­ba­re Zeit und Kon­zen­tra­ti­ons­fä­hig­keit rau­be. Und er warn­te: Wenn künst­li­che Intel­li­genz dein unent­behr­li­ches Hel­fer­lein hacken kann, kann sie auch dich hacken.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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