In diesem Bereich dürfte ein vom Kommentariat oft aufgebrachtes Argument ausfallen:
Es wird womöglich gar nicht weniger gelesen. Nur eben nicht auf Papier. Die Leute, auch die jungen, lesen online oder e‑books.
Gut, glaube ich zwar nicht, aber vielleicht hat das tatsächlich zugenommen. Uns erreichen jedenfalls kaum Anfragen. Und vor allem: Im Vorschulalter sollte das Lesen auf elektronischen Medien keine Rolle spielen.
Das ist übrigens ein ganz heikler Bereich! Ich habe Bekannte, die es extrem niedlich finden, wie geschickt ihr knapp zweijähriges Kind schon mit dem Smartphone umgeht! Wie es „wischen“ kann und weiß, wo der Zeichentrickkanal zu finden ist. Ich finde solche Fähigkeiten wenig erstaunlich, ich find es ätzend und äußere das auch.
Ein Kind, das noch nicht eine Amsel von einem Adler unterscheiden kann und nicht weiß, woher die Milch kommt, dafür aber die Knöpfe einer Blackbox bedienen kann wie ein Pawlowscher Hund, verdient mein Mitleid.
Andererseits kenne ich Leute, die das Konzept „Vorlesen“ strikt ablehnen. Es ist grosso modo das „völkische Milieu“, dem wir nicht angehören, mit dem es aber Berührungspunkte gibt. Es sind Leute, die Hausunterricht veranstalten, die hauptsächlich handwerken und anbauen, traditionelle Rollenmuster leben und sich weitgehend abgeschottet haben vom Mainstream.
Deren Argument gegen Bücher im frühkindlichen Alter: schon das Buch sei eine virtuelle Welt, mithin nicht kindgerecht. Frühes Lesen (beziehungsweise Anschauen von „bloß abgebildetem“) führe zur Frühintellektualisierung, sprich zur schädlichen „Verkopfung“.
Unser Leser und Kommentator Franz Bettinger, wiewohl selbst bewußt kinderlos, hatte dazu folgenden bedenkenswerten Beitrag abgegeben:
Tut was, denkt weniger! Na ja, so ungefähr. Es kommt wohl auf die Balance an.
Ja! Es sollte wohl völlig klar sein, daß der Fokus unserer Kleinsten ganz und gar auf dem echten Leben liegen sollte. Logisch ist bereits das Buch ein Medium und somit etwas der unmittelbaren Lebenswelt Entlegenes.
Nur sind wir eben keine Tiere und haben dieses intellektuelle Potential. Es gibt keinen Grund, es nicht zu nutzen. Als junge Großmutter habe ich vier Enkel und eine Enkelin.
Als Mutter von sechs Mädchen mußte ich hier viel dazulernen. Es herrscht eine andere Form von Wildheit und Rabaukentum, als ich sie kannte. Meine Güte, wie es da handfest zur Sache geht! Mir muß keine etwas von „Geschlecht als sozialem Konstrukt“ erzählen.
Was meine Töchter verbal austrugen, tragen meine Enkel nun mit Händen und Füßen aus. So ist es halt. Und niemand hat hier erzieherisch „Vorschub geleistet“: „Boys will be Boys“, anscheinend ist das die ganze Zauberformel.
Worüber ich staune: Diese wilden „Boys“ sind total buchaffin. Im freien Spiel sind sie echte Brutalos und kennen keine Grenzen. Aber wenn die Oma, sprich ich, vorliest, werden sie ganz still und anhänglich.
Ich bevorzuge alte Pixi-Bücher, wovon ich ein knappes Hundert besitze. Die Enkel lieben darunter die „Conni“-Geschichten aus den Neunziger-Jahren, die ich für beinahe spießig halte: Eine Normalo-Familie fährt in Urlaub, zieht um, Conni bricht sich ein Bein, Conni lernt reiten, Conni geht zum Arzt. Die Jungs kriegen nicht genug davon. Ich muß es nochmal vorlesen. Und nochmal.
Als Konkurrenz gibt es diese Jahreszeiten-Bilderbücher von Eva Ott-Heidmann. Die sind viel unmoderner. Es gibt hier nur Bilder, keinen Text. Die Kleinen sind gleichwohl fasziniert. Ich, als Vorlesende, muß nur aufpassen, daß ich vorlesend nicht abweiche. Im „Herbst“-Buch ist ein traumschöner Martinszug abgebildet. Wehe, wenn ich dazu ein anderes Martinslied singe als das gewohnte.
Beim Hirtenbüblein wollen sie die Stelle nochmal und nochmal vorgelesen bekommen, wo der Hirtenbub endlich sein Lämmchen wiederfindet. Es ist so eine kleine Geschichte. Aber sie werden völlig davon gepackt – in diesem Fall sorgen sicher auch die Illustrationen für die Faszination.
Oder nehmen wir den Klassiker Frederick von Leo Lionni. Es geht um die faule Maus, die in Wahrheit nicht faul, sondern als Künstler geboren ist. Ich habe es in diesem Jahr sicher zwanzigmal vorgelesen, und auf meine Lebenszeit berechnet gewiß über hundertmal.
Es wäre ein grober Verlust, diese wilden Jungs ohne jene Bildwelten aufwachsen zu lassen. Ohne dieses „könnte doch auch passieren“. Lesen heißt auch immer, mit Alternativen zu spielen, ist ein Sich-ausdenken, und das von Anfang an.
Laßt die Kleinen vom Esel Benjamin, von den Piraten im Garten lesen! Wir müssen dieses Als-ob mit ihnen feiern! Sie sollen großwerden mit dem Gedanken daran, daß “etwas passieren” kann!
Gimli
Hallo Frau Kositza,
in der Tat raufen unsere Buben auch heute noch - mit 18 - um Konflikte auszutragen. Und verstehen sich gleich danach auch wieder. Die Erblast ist eine andere als bei Mädchen und darf auch ihre Berechtigung finden. In Maßen und Grenzen. Aber Bücher haben sie gleichwohl geliebt, kaum waren die Augen auf und hatten das Scharfsehen gelernt. Dazu die Stimme und das kuschelige Beieinandersitzen genossen.
Ob sie später in ihrem Leben davon zehren und doch ein paar unserer Ideale in ihr Dasein und in die Bewältigung ihres Lebens einbauen, will ich hoffen. Dass sie als Stadtkinder zuerst das Bilderbuch zur Kuh lesen, dann die Kinderschokolade "erfahren" und viel später in den FErien auf nem Bauernhof den Zusammenhang zw Milch und Kuh (und hoffentlich mehr) erkennen, ist unserer Zivilsation geschuldet. Wir mahlen ja auch kein Mehl mehr selber oder befeuern den Herd oder die Heizung mit Holz und überlassen die Kaffeebereitung einer elektrischen Maschine und fahren mit dem Auto (elektrisch) statt mit ner Kutsche. Es gibt auch tolle Bücher über Baustellen, den Aufbau einer Stadt, den "modernen" Bauernhof. Für jede Altersgruppe. Wir haben den Kindern immer alles angeboten, geschlechtsunabhängig.