Die kleinen Racker und das Buch – Lesealter bis 4

Über die Kommentare zu meinem Text über „betreutes Lesen als Elternpflicht“ hab ich mich gefreut. Heute mag ich etwas über das Verhältnis der Kleinsten zum Buch nachreichen.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

In die­sem Bereich dürf­te ein vom Kom­men­ta­ri­at oft auf­ge­brach­tes Argu­ment ausfallen:

Es wird womög­lich gar nicht weni­ger gele­sen. Nur eben nicht auf Papier. Die Leu­te, auch die jun­gen, lesen online oder e‑books.

Gut, glau­be ich zwar nicht, aber viel­leicht hat das tat­säch­lich zuge­nom­men. Uns errei­chen jeden­falls kaum Anfra­gen. Und vor allem: Im Vor­schul­al­ter soll­te das Lesen auf elek­tro­ni­schen Medi­en kei­ne Rol­le spielen.

Das ist übri­gens ein ganz heik­ler Bereich! Ich habe Bekann­te, die es extrem nied­lich fin­den, wie geschickt ihr knapp zwei­jäh­ri­ges Kind schon mit dem Smart­phone umgeht! Wie es „wischen“ kann und weiß, wo der Zei­chen­trick­ka­nal zu fin­den ist. Ich fin­de sol­che Fähig­kei­ten wenig erstaun­lich, ich find es ätzend und äuße­re das auch.

Ein Kind, das noch nicht eine Amsel von einem Adler unter­schei­den kann und nicht weiß, woher die Milch kommt, dafür aber die Knöp­fe einer Black­box bedie­nen kann wie ein Paw­low­scher Hund, ver­dient mein Mitleid.

Ande­rer­seits ken­ne ich Leu­te, die das Kon­zept „Vor­le­sen“ strikt ableh­nen. Es ist grosso modo das „völ­ki­sche Milieu“, dem wir nicht ange­hö­ren, mit dem es aber Berüh­rungs­punk­te gibt. Es sind Leu­te, die Haus­un­ter­richt ver­an­stal­ten, die haupt­säch­lich hand­wer­ken und anbau­en, tra­di­tio­nel­le Rol­len­mus­ter leben und sich weit­ge­hend abge­schot­tet haben vom Mainstream.

Deren Argu­ment gegen Bücher im früh­kind­li­chen Alter: schon das Buch sei eine vir­tu­el­le Welt, mit­hin nicht kind­ge­recht. Frü­hes Lesen (bezie­hungs­wei­se Anschau­en von „bloß abge­bil­de­tem“) füh­re zur Früh­in­tel­lek­tua­li­sie­rung, sprich zur schäd­li­chen „Ver­kop­fung“.

Unser Leser und Kom­men­ta­tor Franz Bet­tin­ger, wie­wohl selbst bewußt kin­der­los, hat­te dazu fol­gen­den beden­kens­wer­ten Bei­trag abgegeben:

Tut was, denkt weni­ger! Na ja, so unge­fähr. Es kommt wohl auf die Balan­ce an.

Ja! Es soll­te wohl völ­lig klar sein, daß der Fokus unse­rer Kleins­ten ganz und gar auf dem ech­ten Leben lie­gen soll­te. Logisch ist bereits das Buch ein Medi­um und somit etwas der unmit­tel­ba­ren Lebens­welt Entlegenes.

Nur sind wir eben kei­ne Tie­re und haben die­ses intel­lek­tu­el­le Poten­ti­al. Es gibt kei­nen Grund, es nicht zu nut­zen. Als jun­ge Groß­mutter habe ich vier Enkel und eine Enkelin.

Als Mut­ter von sechs Mäd­chen muß­te ich hier viel dazu­ler­nen. Es herrscht eine ande­re Form von Wild­heit und Rabau­ken­tum, als ich sie kann­te. Mei­ne Güte, wie es da hand­fest zur Sache geht! Mir muß kei­ne etwas von „Geschlecht als sozia­lem Kon­strukt“ erzählen.

Was mei­ne Töch­ter ver­bal aus­tru­gen, tra­gen mei­ne Enkel nun mit Hän­den und Füßen aus. So ist es halt. Und nie­mand hat hier erzie­he­risch „Vor­schub geleis­tet“: „Boys will be Boys“, anschei­nend ist das die gan­ze Zauberformel.

Wor­über ich stau­ne: Die­se wil­den „Boys“ sind total buchaf­fin. Im frei­en Spiel sind sie ech­te Bru­ta­los und ken­nen kei­ne Gren­zen. Aber wenn die Oma, sprich ich, vor­liest, wer­den sie ganz still und anhänglich.

Ich bevor­zu­ge alte Pixi-Bücher, wovon ich ein knap­pes Hun­dert besit­ze. Die Enkel lie­ben dar­un­ter die „Conni“-Geschichten aus den Neun­zi­ger-Jah­ren, die ich für bei­na­he spie­ßig hal­te:  Eine Nor­ma­lo-Fami­lie fährt in Urlaub, zieht um, Con­ni bricht sich ein Bein, Con­ni lernt rei­ten, Con­ni geht zum Arzt. Die Jungs krie­gen nicht genug davon. Ich muß es noch­mal vor­le­sen. Und nochmal.

Als Kon­kur­renz gibt es die­se Jah­res­zei­ten-Bil­der­bü­cher von Eva Ott-Heid­mann. Die sind viel unmo­der­ner. Es gibt hier nur Bil­der, kei­nen Text. Die Klei­nen sind gleich­wohl fas­zi­niert. Ich, als Vor­le­sen­de, muß nur auf­pas­sen, daß ich vor­le­send nicht abwei­che. Im „Herbst“-Buch ist ein traum­schö­ner Mar­tins­zug abge­bil­det. Wehe, wenn ich dazu ein ande­res Mar­tins­lied sin­ge als das gewohnte.

Beim Hir­ten­büb­lein wol­len sie die Stel­le noch­mal und noch­mal vor­ge­le­sen bekom­men, wo der Hir­ten­bub end­lich sein Lämm­chen wie­der­fin­det. Es ist so eine klei­ne Geschich­te. Aber sie wer­den völ­lig davon gepackt – in die­sem Fall sor­gen sicher auch die Illus­tra­tio­nen für die Faszination.

Oder neh­men wir den Klas­si­ker Fre­de­rick von Leo Lionni. Es geht um die fau­le Maus, die in Wahr­heit nicht faul, son­dern als Künst­ler gebo­ren ist. Ich habe es in die­sem Jahr sicher zwan­zig­mal vor­ge­le­sen, und auf mei­ne Lebens­zeit berech­net gewiß über hundertmal.

Es wäre ein gro­ber Ver­lust, die­se wil­den Jungs ohne jene Bild­wel­ten auf­wach­sen zu las­sen. Ohne die­ses „könn­te doch auch pas­sie­ren“. Lesen heißt auch immer, mit Alter­na­ti­ven zu spie­len, ist ein Sich-aus­den­ken, und das von Anfang an.

Laßt die Klei­nen vom Esel Ben­ja­min, von den Pira­ten im Gar­ten lesen! Wir müs­sen die­ses Als-ob mit ihnen fei­ern! Sie sol­len groß­wer­den mit dem Gedan­ken dar­an, daß “etwas pas­sie­ren” kann!

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (10)

Gimli

16. November 2023 13:13

Hallo Frau Kositza, 
in der Tat raufen unsere Buben auch heute noch - mit 18 - um Konflikte auszutragen. Und verstehen sich gleich danach auch wieder. Die Erblast ist eine andere als bei Mädchen und darf auch ihre Berechtigung finden. In Maßen und Grenzen.  Aber Bücher haben sie gleichwohl geliebt, kaum waren die Augen auf und hatten das Scharfsehen gelernt. Dazu die Stimme und das kuschelige Beieinandersitzen genossen. 
Ob sie später in ihrem Leben davon zehren und doch ein paar unserer Ideale in ihr Dasein und in die Bewältigung ihres Lebens  einbauen, will ich hoffen. Dass sie als Stadtkinder zuerst das Bilderbuch zur Kuh lesen, dann die Kinderschokolade "erfahren" und viel später in den FErien auf nem Bauernhof den Zusammenhang zw Milch und Kuh (und hoffentlich  mehr) erkennen, ist unserer Zivilsation geschuldet. Wir mahlen ja auch kein Mehl mehr selber oder befeuern den Herd oder die Heizung mit Holz und überlassen die Kaffeebereitung einer elektrischen Maschine und fahren mit dem Auto (elektrisch) statt mit ner Kutsche. Es gibt auch tolle Bücher über Baustellen, den Aufbau einer Stadt, den "modernen" Bauernhof. Für jede Altersgruppe. Wir haben den Kindern immer alles angeboten, geschlechtsunabhängig.  

RMH

16. November 2023 13:20

Ich kann das Thema E-Book bestätigen. Wir und auch die Großeltern haben unseren Kindern viel vorgelesen, insbesondere im Vorschul-und Grundschulalter, aber das Interesse am Buch kam irgendwie nicht. Seitdem die Kinder älter als 14 sind, wird wieder gelesen (nach meinem Geschmack immer noch recht wenig), aber eben mit dem E-Book. Papieraffin wurden die Kinder leider nicht - am fehlenden Angebot lag das nicht.

Laurenz

16. November 2023 14:57

@EK ... Die Faszination an Bildern beruht auf einem einfachen Kunst-Prinzip. Kinder verstehen Bilder & jedes Kind hat schon mal einen Stift in der Hand gehabt, versucht zu malen. Vor allem die Eltern meiner Mutter besaßen die Begabung, mich, als Kind, in Ihre täglichen Beschäftigungen mit einzubauen, ob Garten, Wald & Werkstatt. Ich liebe weder den Garten, noch die Werkstatt, aber die Erinnerung daran. Auch Ihre Enkelin ist ein Enkel.

monchichi

17. November 2023 01:56

Alles, was man tut, wird zuerst im Geiste entworfen. Deswegen heißt es in der Bibel Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild und deswegen gibt es das Gleichnis der Talente. Es geht um die Botschaft dass wir das, was zunächst in unserem Geiste und in unserem Wort enthalten ist, tatsächlich erschaffen können und sollen. 
Wir sind somit der jetzige Schöpfer, und in diesem Vorgang vom Immateriellen zum Materiellen, also hin zur Manifestation der eigenen Gedanken und Ideen, kommt den Geschichten eine bedeutende Rolle zu. Und ich sage noch mehr. Ein Kind braucht Bücher und Geschichten, Fantasie und Freiheit zum Müßiggang genauso sehr wie es einen guten Arzt braucht, wenn es krank ist. 

LaTorreMurcia

17. November 2023 10:07

Danke für die erklärende Abgrenzung vom sektiererischen völkischen Milieu, Frau Kositza!

wolfdieter

17. November 2023 14:10

Jeder hat seine Vorlieben, die er bei seinen Kleinen schmerzlich vermisst. Kenn ich selbst. Egal.
And now for something completely different: zwischen Kleinkind und Erwachsenem gibts das Jugendbuch, von denen ich eins liebe und das mit Garantie nicht mehr aufgelegt wird: Abakus an Minimax. Herausgekommen 1970.
Handelt von einem Computer, der einen – nein, nicht Bug, sondern – technischen Webfehler aufweist: er gibt seine inhaltlich korrekten Berichte ausschließlich in Reimform aus.
Im Übrigen ist der Computer das Modernste überhaupt, Ausgabe über Telex statt Oszilloskop. – Und mitten im Buch lernt man, wie man Flundern fängt (drauftreten).
Hab eins schon verschenkt und jetzt ein weiteres Exemplar besorgt von Medimops, schätzungsweise auch zum Verschenken.

JungspundF

19. November 2023 16:12

"monchichi17. November 2023 01:56Alles, was man tut, wird zuerst im Geiste entworfen. Deswegen heißt es in der Bibel Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild und deswegen gibt es das Gleichnis der Talente. Es geht um die Botschaft dass wir das, was zunächst in unserem Geiste und in unserem Wort enthalten ist, tatsächlich erschaffen können und sollen. Wir sind somit der jetzige Schöpfer [...]"
Genau das ist das vergiftete Geschenk des Christentums. Oder sollte man sagen: Das vergiftete Verständnis?
Jedenfalls lässt sich gemäß dieser Maxime alles rechtfertigen. Von der "Transformation" von einem Geschlecht zu einem anderen, sowie weitere Blüten des Mensch zentrierten Weltbildes (inkl. der Industriegesellschaft).
Es geht darum eben NICHT alles umzusetzen, was denkbar ist. Wie Kubitschek es mal ungefähr sinngemäß gesagt oder geschrieben hatte:  Aus der Selbstbeschränkung heraus wachsen Welten.

herbstlicht

19. November 2023 20:20

In Schweden versucht die bürgerliche Regierung gerade, bei digitalen Lehrmitteln, die Entwicklung umzukehren oder wenigstens zu überdenken.  Hier Folien von einem Pressegespräch der Regierung neulich (Übersetzer deepl liefert guten Text).  Einschlägige Stelle, Zitat Universität Lund:  "Für die allerjüngsten Kinder ist die Interaktion mit dem Bildschirm aus Sicht des Lernens und der Entwicklungsperspektive Zeitverschwendung."
»dafür aber die Knöpfe einer Blackbox bedienen kann wie einPawlowscher Hund, verdient mein Mitleid.«Ja, weil man ihm kostbare Lebenszeit stiehlt.  Zu lernen, wohin es wischen oder tippen muß, um den »Zeichentrickkanal« zu finden, das ist Wegwerfwissen; wertlos, vielleicht schon ab nächster "Version".  (Dies gilt sogar weitgehend allgemein für die "graphischen Oberflächen"; für die Verkümmerung von sprachlichem Ausdruck und begrifflichem Denken zur deiktischen Handlung.)
»Blackbox«Sehe es als Symptom der Krise unserer Kultur, daß so viele Leute über leistungsfähige mathematische Maschinen verfügen, damit aber nicht viel mehr anfangen können, als die Micky Mouse laufen zu lassen.
Für die Racker, spätestens in ein paar Jährchen: antiquarisch "Faß zu, Toyon" (Besprechung bei Amazon).

Franz Bettinger

20. November 2023 01:31

Was ich neben Lesen & Diskutieren noch empfehle, ist: Tagebuch schreiben, und zwar so, als wäre man Schriftsteller, als wolle man eine gute Rede halten oder andere mit seiner Geschichte beeindrucken. Ja, schon als Kind ist das wichtig. Es geht dabei nicht darum, sich selbst an 08/15 Banalitäten zu erinnern, sondern anderen was Besonderes zu erzählen und zwar in bester Qualität. Das schult. So wird man zu einem guten Erzähler & Unterhalter. Die Stories, die man in Gesellschaft zum Besten geben will, sollten parat und geschliffen bereits im Tagebuch stehen, und dürfen dann mündlich immer weiter elaboriert werden. Gute Geschichten sind mMn fast immer erlebte Geschichten, Authentisches. Deshalb steht für mich das tätige Erleben über allem. Heldentaten kommen vor Helden-Geschichten; selten ist's auch umgekehrt.  

Adler und Drache

20. November 2023 09:06

Das Buch ist eine virtuelle Welt - wie wahr! 
Aber: Das Spiel ist auch eine virtuelle Welt. 
Das Argument der virtuellen Welt ist kein grundsätzlicher Einspruch gegen das Buch, allerdings auch keine grundsätzliche Rechtfertigung des Buchs. Je älter ich werde, umso misstrauischer werde ich gegenüber den virtuellen Welten. Ich weiß aber auch, dass das Lesen (und damit meine ich wirklich verschlingendes Lesen, komplettes Abtauchen) mir in meiner schwer krankheitsgeplagten Kindheit die Seele erhalten hat - es war für mich lebensnotwendig.

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.