Es verwundert nicht, daß bis heute rezipierte Werke der Propaganda-Theorie wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg verfaßt wurden. Die »Geheimwaffe Medien« erwies sich bei Freund und Feind als ebenso kriegsentscheidend wie die Erfolge der Truppen an der Front. Zeitgenössische wie unlängst veröffentlichte Arbeiten haben übereinstimmend darauf aufmerksam gemacht. (1)
Der US-Schriftsteller und Journalist Walter Lippmann war in den Zirkeln der Meinungsmacher der US-Armee tätig. Dort schürte man den Deutschenhaß und beteiligte sich an der Diffamierung der Feinde als »Hunnen«. Lippmann engagierte sich als Repräsentant der frühen Phase des Neoliberalismus und als Namensgeber eines berühmten Pariser Kolloquiums im Jahre 1938.
Der Erfolg des 1922 erschienenen Buches Die öffentliche Meinung verdankt sich vor allem den zentralen Überlegungen zu zeitlosen anthropologischen Grundlagen der Vermittlung. (2) Die Analyse konkreter Medien und ihrer Bedeutung, etwa Kino und Radio, trat hingegen zurück. Ihre Relevanz verändert sich ohnehin schnell. Lippmanns Schrift ist im eminenten Sinn ein Klassiker, da ihr Inhalt zwar alt, aber gleichwohl nicht veraltet ist.
Aufgrund limitierter kognitiver Fähigkeiten ist der Mensch, Lippmann zufolge, gezwungen, sich von der nicht direkt erfahrenen Umwelt, von deren Existenz er gleichwohl weiß, Bilder zu machen. Umwelten sind zu komplex, um sie vollständig ausloten zu können. Es bedarf zu ihrer Aneignung daher Hilfsmittel. Es werden, meist durch Berichte aus zweiter Hand, Fiktionen und Assoziationen geschaffen. Der einzelne hat mangels Zeit und anderer Formen von Kontingenz nicht die Möglichkeit, diese Realitäten im Detail zu prüfen.
Je moderner die Lebenswelt wird, desto unüberschaubarere künstliche Umwelten entstehen. Das Einfallstor für Manipulationen wird auf diese Weise zwingend größer. Die Frage stellt sich für den einzelnen: Wer hat die Macht über entsprechende Bilder und ihre Vermittler? Der Autor vergißt nicht, darauf aufmerksam zu machen, welche Bedeutung die Fiktion in Platons Höhlengleichnis besitzt.
Vergleichbare Hintergründe finden sich bei der Aufwertung des Stereotyps, das üblicherweise negativ charakterisiert wird. Dieses Regulativ ist unabdingbar, um mit der chaotischen Informationsüberflutung der Lebenswelt umgehen zu können. Der einzelne kann nur Ausschnitte der Realität wahr- und aufnehmen. Daher bedarf der Orientierungswaise Mensch bestimmter Ordnungsmuster.
Als ein solches Ordnungsmuster gilt auch der öffentliche Raum. Er markiert jenen für die Gemeinschaft entscheidenden Bereich, den der einzelne aus zeitlichen wie räumlichen Gründen nicht ausloten kann. Gruppen repräsentieren auf diesem Sektor andere Gruppen, die zur Vertretung ihrer Interessen aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sind.
Lippmann hat sein anthropologisch fundiertes Konzept auch auf das Feld der Demokratie angewendet. Ursprünglich verstand man in den USA darunter weithin die Selbstverwaltung der autarken Farmer. Problematisch wurde es, als immer größere, faktisch unüberschaubare Räume regiert werden mußten. Ein wichtiges Thema vieler Debatten schon in der Gründungsphase der USA lautete: Kann das eher für kleinere Räume gedachte Konzept der Republik auf diesen Flächenstaat übertragen werden? Ohne Repräsentanten ist eine derartige Ausweitung nicht zu schaffen. Lippmann plädierte für eine Expertokratie und transponierte viele Vorurteile über die Massen, wie sie seit der Antike bekannt sind.
Propaganda entspringt für Lippmann also nicht in erster Linie aus dunklen Seiten des Menschen, die ihn für Lüge und Betrug disponierten; vielmehr ist sein fragmentarischer Erkenntnisapparat für jene offene Flanke verantwortlich, über die er nicht verfügen kann, die er aber auch nicht zu ignorieren vermag. Die Macht anderer, die ihm gegebenenfalls Falsches vorspiegeln, läßt sich folglich nicht vollständig vermeiden. Gleiches gilt für die Dominanz unsichtbarer Herrscher über unser Leben.
Einige Jahre nach Lippmanns Text sorgte eine andere Publikation für Furore, die anders als der Vorläufer Roß und Reiter beim Namen nannte: Edward Bernays, Neffe Sigmund Freuds, will den anrüchigen Propaganda-Begriff rehabilitieren, um ihn für die Werbeindustrie zu nutzen. (3)
Der Vater der modernen Public Relations hatte begriffen, daß die blinden kognitiven Flecken des Menschen auch für die Werbung fruchtbar gemacht werden können. Die ungemeine Fülle des Angebots konnte der einzelne unmöglich überblicken. Daher braucht es Manager, die für den Konsumenten auswählen, was für ihn gut ist. Die Experten müssen primär informationell selektieren. Es ist sorgfältig zu bestimmen, welche Bedürfnisse die potentiellen Käufer haben.
Die Wünsche sollen, Bernays zufolge, nicht nur mittels Erhebungen festgestellt werden; sie können und müssen ebenso beeinflußt werden. Der Wissensvorsprung der Kundigen gegenüber dem Laien sei nicht zu leugnen und könne zu dessen Vorteil sein.
Wie Lippmann sieht Bernays geschulte Werbefachleute als rationale Konstruktivisten, die gleichwohl Bedürfnisse, Triebe, Leidenschaften und so fort in ihren Konzepten angemessen zu berücksichtigen haben. Beide PR-Kenner betrachten die Masse als irrational und lenkungsbedürftig. Ebenso rezipierte Bernays (neben den vielbeachteten Massentheorien von Gustave Le Bon) seinen Onkel, um der Rolle des Unbewußten den ihr gebührenden Platz einzuräumen.
Stellvertretend für weitere Klassiker aus dem westlichen Ausland ist der französische Jurist und Soziologe Jacques Ellul zu erwähnen. Als er 1962 seine bald zum Standardwerk avancierte Darstellung im Original veröffentlichte, hatte sich die Medienlandschaft im Vergleich zu einer Generation vorher fundamental verändert. (4)
Einer der Schwerpunkte der Untersuchung liegt auf den Adressaten der Propaganda: der Masse. Ihre Neigungen, Wünsche, Bedürfnisse, psychischen Prozesse und so fort werden ausführlich beleuchtet. Der Propagandist käme nicht ohne genaue Prüfung des Menschenbildes aus, wie es sich im Lichte von Erkenntnissen insbesondere der Tiefenpsychologie und der Soziologie zeige. (5) Der Erfolg von Indoktrination hänge von der Ausbildung des dafür zuständigen Fachpersonals ab, das in vielen staatlichen wie ökonomischen Bereichen tätig ist. Entsprechende Forschungen lassen sich nach Elluls Ansicht auch dazu verwenden, den einzelnen vor dem Mißbrauch von Propagandamethoden zu schützen.
Anders als diverse seiner Vorläufer möchte Ellul nicht als Aufklärer wirken, der durch Aufdeckung bestimmter Mechanismen der tumben Masse voraus ist und auf dieser Basis die manipulativen Möglichkeiten für sich und seine Schicht virtuos nutzt. Nicht zuletzt auf der Grundlage seiner christlich-anarchistischen Überzeugungen und des Mißbrauchs im Zweiten Weltkrieg benennt er klar die Gefahren propagandistischer Maßnahmen für die freie Welt – und das unabhängig von der Tatsache, daß einem solchen Agieren positive wie negative Absichten zugrunde liegen können.
Deutschland hat im Bereich der Propaganda-Theorie nur wenige Klassiker hervorgebracht, also paradigmatische Entwürfe, die ihrerseits wiederum breit rezipiert und hinsichtlich neuer Situationen abgewandelt wurden. Die meisten Beiträge zum Thema verfolgten eher Ziele der Tat. Bereits vor 1933 war hier die Zahl dünner gestreut als im anglo-amerikanischen Raum. Nach 1945 war vor dem Hintergrund der bekannten Mißbräuche bestenfalls an eine Übernahme westlicher Konzepte über Öffentliche Meinung in der demoskopischen Praxis zu denken.
Zu den (allerdings herausragenden) Ausnahmen zählt der erstmals 1922 vorgelegte Entwurf von Ferdinand Tönnies. (6)
Der neben Weber führende Soziologe verfügte nach jahrzehntelanger Forschung über eine Fülle von Material und Begriffen. Auf dieser Basis konnte er den Gegenstand seiner Abhandlung weitgehend unabhängig von der Tagespolitik vorstellen. Er beleuchtete sowohl die historische Genese der öffentlichen (Artikulation vieler zum Teil widersprüchlicher Ansichten) und der Öffentlichen (Vereinheitlichung von grundlegenden Äußerungen) Meinung als auch deren empirische Interpretation.
Ausgehend von der Unterscheidung »Kürwille« und »Wesenswille«, die schon in früheren Publikationen über die Differenz von Gesellschaft und Gemeinschaft eine zentrale Rolle spielte, legt Tönnies dar, wie sich im Übergang von der vormodernen zur modernen Gesellschaft die kommunikativen Strukturen vom relativ überschaubaren Bereich zu mehr und mehr unüberschaubareren Gebilden verschoben haben: Der Weg verlief (idealtypisch gesehen) von der Eintracht zur Konvention, von der Sitte zur Gesetzgebung, von der Religion zur öffentlichen Meinung. Rationalität und vermehrte Wahlmöglichkeiten sind zentrale Charakteristika dieser Entwicklung hin zur Moderne.
Aufgrund der ausführlichen Milieuanalyse skizziert der Autor plausibel, warum die Öffentliche Meinung keineswegs die Meinung der Öffentlichkeit ist; vielmehr sei diese faktisch »die Willensmeinung des geistig regsten, finanziell stärksten, literarisch einflußreichsten Teils einer Nation, der als solcher die anders denkenden Teile zu überschatten vermag«. Der »Gatekeeper« (Kurt Lewin) spielt (der Sache nach) eine wichtige Rolle. Die Meinung der Öffentlichkeit zu beschreiben bedeutet demnach auch, ihre partikulare Verzerrung zu erörtern. Tönnies hätte wohl ohne weiteres einem Satz des Historikers und Carl-Schmitt-Sympathisanten Hanno Kesting zugestimmt: »Öffentlichkeit und Propaganda gehören seitdem [seit Mitte des 18. Jahrhunderts; F. D.] unauflöslich zusammen.« (7)
Tönnies hatte wie andere Theoretiker klar erkannt: Aktive Minderheiten erheben ihre Sondermeinung zum allgemeinen Willen und sind damit häufig erfolgreich. Die herausragenden neuzeitlichen politischen Philosophen, von Jean-Jacques Rousseau bis Jürgen Habermas, wollten sich ihr normativ gefärbtes Wunschbild nicht zerstören lassen. Sie nehmen deshalb vor dem Hintergrund des Rousseau zugeschriebenen Bonmots »Der Mensch ist gut« an, daß sich in idealtypischen Diskurs- und Sprechsituationen das Interesse aller, der Allgemeinwillen, durchsetzen werde und die Sondermeinungen dadurch zurückgedrängt oder sogar eliminiert würden.
Dem einflußreichen Generalquartiermeister Erich Ludendorff ist der Aufschwung von Schriften über Propaganda nach 1918 zumindest mit zu verdanken. Ludendorff hatte die zu schwache Stimmungsmache an der Heimatfront beklagt. Damit hatte er allgemeine Zustimmung gefunden. Der in Münster lehrende Professor der Staatswissenschaften Johann Plenge, durch seine Beiträge zu den »Ideen von 1914« noch in aller Munde, rief in Vorträgen in Erinnerung, daß sich die Niederlage nicht ereignet hätte, wären die Waffen der Worte hierzulande besser genutzt worden. (8) Der Gegner sei den Deutschen zwar nicht im Feld, wohl aber auf diesem Gebiet überlegen gewesen. Der Gelehrte wollte keine theoretisch-musterhaften Traktate vorlegen, sondern helfen, die Mängel zukünftig in der Praxis zu beseitigen.
Plenges Arbeiten zum Thema Propaganda wurden von dem Kaffeefabrikanten Ludwig Roselius finanziert. Mit dessen Mitteln konnte ein eigenes Institut an der Universität Münster begründet werden. Der Unternehmer hatte am Anfang des Krieges in Form von Eingaben an den Unterstaatssekretär Zimmermann sowie einer 1914 veröffentlichten Denkschrift Propagandazwecke ganz oben auf die Agenda des Landes gesetzt.
Propaganda dürfe nicht mit Reklame verwechselt werden, so Plenge. Er verweist auf die Leistungen, die Agitation schon vor dem 20. Jahrhundert, beispielsweise in kirchlich-missionarischem Kontext, verbuchen konnte. Man verbreitet geistige Antriebe, die das primär Ziel verfolgen, die Stärkung der gesellschaftlichen Bande voranzutreiben.
Ein Schwergewicht von Plenges Argumentation liegt auf der Aufwertung zentraler politischer wie ökonomischer Organisationen durch ideelle wie erzieherische Propaganda. Gemäß seiner Ausrichtung differenziert er die Mittel kämpferisch vorgetragener Unterweisung: Demonstrations‑, Bild‑, Wort‑, Zahl- und Symbolpropaganda. Zu sämtlichen dieser Bereiche gibt er genaue strategische Anweisungen, wie diese Sektoren zur Erneuerung Deutschlands beitragen könnten.
Bald hatte sich die Gelegenheit ergeben, die Theorie praktisch zu erproben. Plenge entwarf Flugblätter und Plakate im Kampf um die Ruhr 1923. (9) Sie vermischten in inhaltlicher Hinsicht moralische Appelle an die französischen Besatzer mit dem Hinweis auf finanziell-materielle Nachteile, die sie in Kauf nehmen müßten. Nicht vergessen war, welche Wirkung von Émile Zolas Aufschrei »J’accuse« in der französischen Öffentlichkeit ausgegangen war. Plenge unterstrich, daß Deutschland seine Reparationsverpflichtungen ungeachtet aller ökonomischen Schwierigkeiten erfüllt hatte. Im Sinne seiner »Symbolpropaganda« konnte man die Hinweise auf den Plakaten »Am Birkenbaum« lesen. Sie gingen auf die sagenhaften Prophezeiungen im Zusammenhang mit der letzten Birkenbaum-Schlacht ein, die seinerzeit noch stärker bekannt waren.
Ein weiterer Autor, Edgar Stern-Rubarth, kam 1921 zu einem ähnlichen Schluß: (10) Er will Erfahrungstatsachen aus der Kriegs- und Vorkriegszeit gewinnen, denen sich Deutschland nicht länger verschließen dürfe, wenn es seinen Anspruch auf Weltgeltung aufrechterhalten wolle. Stern-Rubarth bemängelt die selbst nach den Erfahrungen des Weltkrieges immer noch fehlende psychologische Vertiefung der Verfahren und die systematische Auswertung des großen Komplexes »Indoktrination«. Er möchte mit seiner Veröffentlichung helfen, entsprechende Desiderata zu beseitigen.
Wenige Jahre später legte ein deutscher Amerikanist eine Studie vor, die in die gleiche Richtung wies: Friedrich Schönemann profitierte von seinen Aufenthalten in der Neuen Welt, um die deutsche Propaganda, die bisher »wenig Sinn und wenig Geschick« gezeigt habe, (11) mit modernen Methoden jenseits des Atlantiks zu konfrontieren. In der nicht abweisbaren Frage, was Propaganda bedeute, wählt Schönemann einen mittleren Weg: Er lehnt einerseits die schon vor 1933 verbreitete Vorstellung ab, es handele sich bei dieser Art von Kommunikation um reine Lügentechnik und laute Reklame; andererseits aber reiche es nicht, sich dem Irrglauben hinzugeben, die reine Wahrheit setze sich letztlich von alleine durch. Es gebe keine objektive Wahrheit, sondern nur eine subjektiv gestaltete.
Schönemann arbeitet die Träger der US-Propaganda heraus (Schule, Kirche, Frau, Presse, Kino, Geschäftswelt und Clubs). Er hebt das Was und das Wie der US-Propaganda, ihre Schwächen wie Stärken schonungslos hervor. Dies soll helfen, deutsche Rückstände aufzuholen.
Schönemann fordert: »Auch wir müssen lernen, an unsere eigene Sache unbedingt zu glauben und sie allezeit und überall ohne Halbheit und Zaghaftigkeit, ohne Schwanken und Lauheit zu vertreten. […] Nicht durch ein Wunder oder eine Hilfe von außen, sondern durch praktische Volkserziehung, nüchterne Massenbeeinflussung und eine umfassende nationale Propaganda im richtigen Sinn kommen wir zu dem Ziel: eine Flagge, eine Sprache, eine einzige Volkskultur, eine einheitliche Demokratie, eine Nation, ein Deutschland!« (12) Der in den 1920er Jahren zeitweise berufs- und stellenlose Germanist Joseph Goebbels dürfte nicht der einzige Demagoge gewesen sein, der Schönemanns Darlegungen begierig aufsog.
Gut ein halbes Jahrhundert nach Tönnies’ modellhaftem Wurf erschien im deutschsprachigen Raum ein weiterer Klassiker, der immer wieder an veränderte Situationen angepaßt wird, zuletzt durch Ulrike Ackermann. (13) Die als epochal zu bezeichnende Studie der Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann über die »Schweigespirale« basiert zwar auf aktuellen Erhebungen, nämlich über die Bundestagswahlen 1965 und 1972, (14) im Grunde genommen werden in diesem Werk aber in starkem Maße anthropologische Grundannahmen diskutiert.
Daß der Mensch eine »soziale Haut« besitzt, ist mehr als nur eine triviale Erkenntnis. Die Frage lautet: Wie wirkt sich dieses Faktum in der Meinungsbildung aus? Einfach heruntergebrochen läßt sich sagen: Wer meint, im Einklang mit der öffentlichen Mehrheitsmeinung zu stehen, neigt leichter zum Reden als jener, der befürchten muß, durch eine solche Offenheit in Isolation zu geraten. Die Kenntnis derartiger Verhaltensdispositive bedeutet ein Einfallstor für eine ganze Palette von Herrschaftstechniken, die sich vor allem mit Themen rund um das weite Feld Angst, Macht und Ausgrenzung beschäftigen. (15)
Solche psychologischen Mechanismen sind überall zu beobachten, wenngleich die Mehrheitsmeinung in manchen Fällen nicht offenkundig ist, mithin also als Verhaltensindikator entweder ausfällt oder höchstens diffus greifbar ist. Bis heute wird Noelle-Neumann vorgeworfen, sie habe die Macht der Medien als Simulator der Öffentlichen Meinung überschätzt. Daß das Meinungsklima und dadurch vielfältig berührte soziale Bande wesentliche Voraussetzungen für politisch-soziale Entscheidungen einer relevanten Zahl von Bürgern darstellen, dafür hat die »Unke vom Bodensee« bis heute wesentliches Material vorgelegt.
Den Klassikern der Propaganda-Theorie lag vor allem daran, zu belegen, welche Stellen den Menschen aufgrund seiner anthropologischen Konstitution für verzerrte Sichtweisen anfällig machen: Der Bogen reicht von der unvermeidlich selektiven Aufnahme der Wirklichkeit über willkürliche Steuerung durch »Informationspförtner« bis zur Furcht vor Einsamkeit.
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(1) – Vgl. Arthur Ponsonby: Lügen in Kriegszeiten. Kritische Betrachtungen (1928), Frankfurt a. M. 2022; Christian Hardinghaus: Kriegspropaganda und Medienmanipulation. Was Sie wissen sollten, um sich nicht täuschen zu lassen, München 2023, S. 98 – 110.
(2) – Vgl. Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird (1922), Frankfurt a. M. 2021.
(3) – Vgl. Edward Bernays: Propaganda. Die Kunst der Public Relations (1928), Berlin 2011.
(4) – Jacques Ellul: Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird (1962), Frankfurt a. M. 2021.
(5) – Vgl. ebd., S. 23 f.
(6) – Ferdinand Tönnies: Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin 1922.
(7) – Hanno Kesting: Öffentlichkeit und Propaganda. Zur Theorie der öffentlichen Meinung, Bruchsal 1995, S. 25.
(8) – Vgl. Johann Plenge: Deutsche Propaganda. Die Lehre von der Propaganda als praktische Gesellschaftslehre, Bremen 1922.
(9) – Zum Wirken Plenges siehe Ludger Kerssen: »Johann Plenges Ruhrkampfpropaganda«, in: Soziologie und Sozialismus, Organisation und Propaganda. Abhandlungen zum Lebenswerk von Johann Plenge, hrsg. von Bernhard Schäfers, Stuttgart 1967, S. 45 – 60.
(10) – Vgl. Edgar Stern-Rubarth: Die Propaganda als politisches Instrument, Berlin 1921.
(11) – Vgl. Friedrich Schönemann: Die Kunst der Massenbeeinflussung in den Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin/Leipzig 1924, S. 15.
(12) – Ebd., S. 199.
(13) – Vgl. Ulrike Ackermann: Die neue Schweigespirale. Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt, Darmstadt 2022.
(14) – Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut, München 62001.
(15) – Statt anderer: Rainer Mausfeld: Angst und Macht. Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien, Frankfurt a. M. 2019.