Klassiker der Propaganda-Theorie

-- von Felix Dirsch

PDF der Druckfassung aus Sezession 116/ Oktober 2023

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Es ver­wun­dert nicht, daß bis heu­te rezi­pier­te Wer­ke der Pro­pa­gan­da-Theo­rie weni­ge Jah­re nach dem Ers­ten Welt­krieg ver­faßt wur­den. Die »Geheim­waf­fe Medi­en« erwies sich bei Freund und Feind als eben­so kriegs­ent­schei­dend wie die Erfol­ge der Trup­pen an der Front. Zeit­ge­nös­si­sche wie unlängst ver­öf­fent­lich­te Arbei­ten haben über­ein­stim­mend dar­auf auf­merk­sam gemacht. (1)

Der US-Schrift­stel­ler und Jour­na­list Wal­ter Lipp­mann war in den Zir­keln der Mei­nungs­ma­cher der US-Armee tätig. Dort schür­te man den Deut­schen­haß und betei­lig­te sich an der Dif­fa­mie­rung der Fein­de als »Hun­nen«. Lipp­mann enga­gier­te sich als Reprä­sen­tant der frü­hen Pha­se des Neo­li­be­ra­lis­mus und als Namens­ge­ber eines berühm­ten Pari­ser Kol­lo­qui­ums im Jah­re 1938.

Der Erfolg des 1922 erschie­ne­nen Buches Die öffent­li­che Mei­nung ver­dankt sich vor allem den zen­tra­len Über­le­gun­gen zu zeit­lo­sen anthro­po­lo­gi­schen Grund­la­gen der Ver­mitt­lung. (2) Die Ana­ly­se kon­kre­ter Medi­en und ihrer Bedeu­tung, etwa Kino und Radio, trat hin­ge­gen zurück. Ihre Rele­vanz ver­än­dert sich ohne­hin schnell. Lipp­manns Schrift ist im emi­nen­ten Sinn ein Klas­si­ker, da ihr Inhalt zwar alt, aber gleich­wohl nicht ver­al­tet ist.

Auf­grund limi­tier­ter kogni­ti­ver Fähig­kei­ten ist der Mensch, Lipp­mann zufol­ge, gezwun­gen, sich von der nicht direkt erfah­re­nen Umwelt, von deren Exis­tenz er gleich­wohl weiß, Bil­der zu machen. Umwel­ten sind zu kom­plex, um sie voll­stän­dig aus­lo­ten zu kön­nen. Es bedarf zu ihrer Aneig­nung daher Hilfs­mit­tel. Es wer­den, meist durch Berich­te aus zwei­ter Hand, Fik­tio­nen und Asso­zia­tio­nen geschaf­fen. Der ein­zel­ne hat man­gels Zeit und ande­rer For­men von Kon­tin­genz nicht die Mög­lich­keit, die­se Rea­li­tä­ten im Detail zu prüfen.

Je moder­ner die Lebens­welt wird, des­to unüber­schau­ba­re­re künst­li­che Umwel­ten ent­ste­hen. Das Ein­falls­tor für Mani­pu­la­tio­nen wird auf die­se Wei­se zwin­gend grö­ßer. Die Fra­ge stellt sich für den ein­zel­nen: Wer hat die Macht über ent­spre­chen­de Bil­der und ihre Ver­mitt­ler? Der Autor ver­gißt nicht, dar­auf auf­merk­sam zu machen, wel­che Bedeu­tung die Fik­ti­on in Pla­tons Höh­len­gleich­nis besitzt.

Ver­gleich­ba­re Hin­ter­grün­de fin­den sich bei der Auf­wer­tung des Stereo­typs, das übli­cher­wei­se nega­tiv cha­rak­te­ri­siert wird. Die­ses Regu­la­tiv ist unab­ding­bar, um mit der chao­ti­schen Infor­ma­ti­ons­über­flu­tung der Lebens­welt umge­hen zu kön­nen. Der ein­zel­ne kann nur Aus­schnit­te der Rea­li­tät wahr- und auf­neh­men. Daher bedarf der Ori­en­tie­rungs­wai­se Mensch bestimm­ter Ordnungsmuster.

Als ein sol­ches Ord­nungs­mus­ter gilt auch der öffent­li­che Raum. Er mar­kiert jenen für die Gemein­schaft ent­schei­den­den Bereich, den der ein­zel­ne aus zeit­li­chen wie räum­li­chen Grün­den nicht aus­lo­ten kann. Grup­pen reprä­sen­tie­ren auf die­sem Sek­tor ande­re Grup­pen, die zur Ver­tre­tung ihrer Inter­es­sen aus ver­schie­de­nen Grün­den nicht in der Lage sind.

Lipp­mann hat sein anthro­po­lo­gisch fun­dier­tes Kon­zept auch auf das Feld der Demo­kra­tie ange­wen­det. Ursprüng­lich ver­stand man in den USA dar­un­ter weit­hin die Selbst­ver­wal­tung der aut­ar­ken Far­mer. Pro­ble­ma­tisch wur­de es, als immer grö­ße­re, fak­tisch unüber­schau­ba­re Räu­me regiert wer­den muß­ten. Ein wich­ti­ges The­ma vie­ler Debat­ten schon in der Grün­dungs­pha­se der USA lau­te­te: Kann das eher für klei­ne­re Räu­me gedach­te Kon­zept der Repu­blik auf die­sen Flä­chen­staat über­tra­gen wer­den? Ohne Reprä­sen­tan­ten ist eine der­ar­ti­ge Aus­wei­tung nicht zu schaf­fen. Lipp­mann plä­dier­te für eine Exper­to­kra­tie und trans­po­nier­te vie­le Vor­ur­tei­le über die Mas­sen, wie sie seit der Anti­ke bekannt sind.

Pro­pa­gan­da ent­springt für Lipp­mann also nicht in ers­ter Linie aus dunk­len Sei­ten des Men­schen, die ihn für Lüge und Betrug dis­po­nier­ten; viel­mehr ist sein frag­men­ta­ri­scher Erkennt­nis­ap­pa­rat für jene offe­ne Flan­ke ver­ant­wort­lich, über die er nicht ver­fü­gen kann, die er aber auch nicht zu igno­rie­ren ver­mag. Die Macht ande­rer, die ihm gege­be­nen­falls Fal­sches vor­spie­geln, läßt sich folg­lich nicht voll­stän­dig ver­mei­den. Glei­ches gilt für die Domi­nanz unsicht­ba­rer Herr­scher über unser Leben.

Eini­ge Jah­re nach Lipp­manns Text sorg­te eine ande­re Publi­ka­ti­on für Furo­re, die anders als der Vor­läu­fer Roß und Rei­ter beim Namen nann­te: ­Edward Ber­nays, Nef­fe Sig­mund Freuds, will den anrü­chi­gen Pro­pa­gan­da-Begriff reha­bi­li­tie­ren, um ihn für die Wer­be­indus­trie zu nut­zen. (3)

Der Vater der moder­nen Public Rela­ti­ons hat­te begrif­fen, daß die blin­den kogni­ti­ven Fle­cken des Men­schen auch für die Wer­bung frucht­bar gemacht wer­den kön­nen. Die unge­mei­ne Fül­le des Ange­bots konn­te der ein­zel­ne unmög­lich über­bli­cken. Daher braucht es Mana­ger, die für den Kon­su­men­ten aus­wäh­len, was für ihn gut ist. Die Exper­ten müs­sen pri­mär infor­ma­tio­nell selek­tie­ren. Es ist sorg­fäl­tig zu bestim­men, wel­che Bedürf­nis­se die poten­ti­el­len Käu­fer haben.

Die Wün­sche sol­len, Ber­nays zufol­ge, nicht nur mit­tels Erhe­bun­gen fest­ge­stellt wer­den; sie kön­nen und müs­sen eben­so beein­flußt wer­den. Der Wis­sens­vor­sprung der Kun­di­gen gegen­über dem Lai­en sei nicht zu leug­nen und kön­ne zu des­sen Vor­teil sein.

Wie Lipp­mann sieht Ber­nays geschul­te Wer­be­fach­leu­te als ratio­na­le Kon­struk­ti­vis­ten, die gleich­wohl Bedürf­nis­se, Trie­be, Lei­den­schaf­ten und so fort in ihren Kon­zep­ten ange­mes­sen zu berück­sich­ti­gen haben. Bei­de PR-Ken­ner betrach­ten die Mas­se als irra­tio­nal und len­kungs­be­dürf­tig. Eben­so rezi­pier­te Ber­nays (neben den viel­be­ach­te­ten Mas­sen­theo­rien von Gust­ave Le Bon) sei­nen Onkel, um der Rol­le des Unbe­wuß­ten den ihr gebüh­ren­den Platz einzuräumen.

Stell­ver­tre­tend für wei­te­re Klas­si­ker aus dem west­li­chen Aus­land ist der fran­zö­si­sche Jurist und Sozio­lo­ge Jac­ques Ellul zu erwäh­nen. Als er 1962 sei­ne bald zum Stan­dard­werk avan­cier­te Dar­stel­lung im Ori­gi­nal ver­öf­fent­lich­te, hat­te sich die Medi­en­land­schaft im Ver­gleich zu einer Gene­ra­ti­on vor­her fun­da­men­tal ver­än­dert. (4)

Einer der Schwer­punk­te der Unter­su­chung liegt auf den Adres­sa­ten der Pro­pa­gan­da: der Mas­se. Ihre Nei­gun­gen, Wün­sche, Bedürf­nis­se, psy­chi­schen Pro­zes­se und so fort wer­den aus­führ­lich beleuch­tet. Der Pro­pa­gan­dist käme nicht ohne genaue Prü­fung des Men­schen­bil­des aus, wie es sich im Lich­te von Erkennt­nis­sen ins­be­son­de­re der Tie­fen­psy­cho­lo­gie und der Sozio­lo­gie zei­ge. (5) Der Erfolg von Indok­tri­na­ti­on hän­ge von der Aus­bil­dung des dafür zustän­di­gen Fach­per­so­nals ab, das in vie­len staat­li­chen wie öko­no­mi­schen Berei­chen tätig ist. Ent­spre­chen­de For­schun­gen las­sen sich nach Elluls Ansicht auch dazu ver­wen­den, den ein­zel­nen vor dem Miß­brauch von Pro­pa­gan­da­me­tho­den zu schützen.

Anders als diver­se sei­ner Vor­läu­fer möch­te Ellul nicht als Auf­klä­rer wir­ken, der durch Auf­de­ckung bestimm­ter Mecha­nis­men der tum­ben Mas­se vor­aus ist und auf die­ser Basis die mani­pu­la­ti­ven Mög­lich­kei­ten für sich und sei­ne Schicht vir­tu­os nutzt. Nicht zuletzt auf der Grund­la­ge sei­ner christ­lich-anar­chis­ti­schen Über­zeu­gun­gen und des Miß­brauchs im Zwei­ten Welt­krieg benennt er klar die Gefah­ren pro­pa­gan­dis­ti­scher Maß­nah­men für die freie Welt – und das unab­hän­gig von der Tat­sa­che, daß einem sol­chen Agie­ren posi­ti­ve wie nega­ti­ve Absich­ten zugrun­de lie­gen können.

Deutsch­land hat im Bereich der Pro­pa­gan­da-Theo­rie nur weni­ge Klas­si­ker her­vor­ge­bracht, also para­dig­ma­ti­sche Ent­wür­fe, die ihrer­seits wie­der­um breit rezi­piert und hin­sicht­lich neu­er Situa­tio­nen abge­wan­delt wur­den. Die meis­ten Bei­trä­ge zum The­ma ver­folg­ten eher Zie­le der Tat. Bereits vor 1933 war hier die Zahl dün­ner gestreut als im ang­lo-ame­ri­ka­ni­schen Raum. Nach 1945 war vor dem Hin­ter­grund der bekann­ten Miß­bräu­che bes­ten­falls an eine Über­nah­me west­li­cher Kon­zep­te über Öffent­li­che Mei­nung in der demo­sko­pi­schen Pra­xis zu denken.

Zu den (aller­dings her­aus­ra­gen­den) Aus­nah­men zählt der erst­mals 1922 vor­ge­leg­te Ent­wurf von Fer­di­nand Tön­nies. (6)

Der neben Weber füh­ren­de Sozio­lo­ge ver­füg­te nach jahr­zehn­te­lan­ger For­schung über eine Fül­le von Mate­ri­al und Begrif­fen. Auf die­ser Basis konn­te er den Gegen­stand sei­ner Abhand­lung weit­ge­hend unab­hän­gig von der Tages­po­li­tik vor­stel­len. Er beleuch­te­te sowohl die his­to­ri­sche Gene­se der öffent­li­chen (Arti­ku­la­ti­on vie­ler zum Teil wider­sprüch­li­cher Ansich­ten) und der Öffent­li­chen (Ver­ein­heit­li­chung von grund­le­gen­den Äuße­run­gen) Mei­nung als auch deren empi­ri­sche Interpretation.

Aus­ge­hend von der Unter­schei­dung »Kür­wil­le« und »Wesens­wil­le«, die schon in frü­he­ren Publi­ka­tio­nen über die Dif­fe­renz von Gesell­schaft und Gemein­schaft eine zen­tra­le Rol­le spiel­te, legt Tön­nies dar, wie sich im Über­gang von der vor­mo­der­nen zur moder­nen Gesell­schaft die kom­mu­ni­ka­ti­ven Struk­tu­ren vom rela­tiv über­schau­ba­ren Bereich zu mehr und mehr unüber­schau­ba­re­ren Gebil­den ver­scho­ben haben: Der Weg ver­lief (ide­al­ty­pisch gese­hen) von der Ein­tracht zur Kon­ven­ti­on, von der Sit­te zur Gesetz­ge­bung, von der Reli­gi­on zur öffent­li­chen Mei­nung. Ratio­na­li­tät und ver­mehr­te Wahl­mög­lich­kei­ten sind zen­tra­le Cha­rak­te­ris­ti­ka die­ser Ent­wick­lung hin zur Moderne.

Auf­grund der aus­führ­li­chen Milieu­ana­ly­se skiz­ziert der Autor plau­si­bel, war­um die Öffent­li­che Mei­nung kei­nes­wegs die Mei­nung der Öffent­lich­keit ist; viel­mehr sei die­se fak­tisch »die Wil­lens­mei­nung des geis­tig regs­ten, finan­zi­ell stärks­ten, lite­ra­risch ein­fluß­reichs­ten Teils einer Nati­on, der als sol­cher die anders den­ken­den Tei­le zu über­schat­ten ver­mag«. Der »Gate­kee­per« (Kurt Lewin) spielt (der Sache nach) eine wich­ti­ge Rol­le. Die Mei­nung der Öffent­lich­keit zu beschrei­ben bedeu­tet dem­nach auch, ihre par­ti­ku­la­re Ver­zer­rung zu erör­tern. Tön­nies hät­te wohl ohne wei­te­res einem Satz des His­to­ri­kers und Carl-Schmitt-Sym­pa­thi­san­ten Han­no Kes­t­ing zuge­stimmt: »Öffent­lich­keit und Pro­pa­gan­da gehö­ren seit­dem [seit Mit­te des 18. Jahr­hun­derts; F. D.] unauf­lös­lich zusam­men.« (7)

Tön­nies hat­te wie ande­re Theo­re­ti­ker klar erkannt: Akti­ve Min­der­hei­ten erhe­ben ihre Son­der­mei­nung zum all­ge­mei­nen Wil­len und sind damit häu­fig erfolg­reich. Die her­aus­ra­gen­den neu­zeit­li­chen poli­ti­schen Phi­lo­so­phen, von Jean-Jac­ques Rous­se­au bis Jür­gen Haber­mas, woll­ten sich ihr nor­ma­tiv gefärb­tes Wunsch­bild nicht zer­stö­ren las­sen. Sie neh­men des­halb vor dem Hin­ter­grund des Rous­se­au zuge­schrie­be­nen Bon­mots »Der Mensch ist gut« an, daß sich in ide­al­ty­pi­schen Dis­kurs- und Sprech­si­tua­tio­nen das Inter­es­se aller, der All­ge­mein­wil­len, durch­set­zen wer­de und die Son­der­mei­nun­gen dadurch zurück­ge­drängt oder sogar eli­mi­niert würden.

Dem ein­fluß­rei­chen Gene­ral­quar­tier­meis­ter Erich Luden­dorff ist der Auf­schwung von Schrif­ten über Pro­pa­gan­da nach 1918 zumin­dest mit zu ver­dan­ken. Luden­dorff hat­te die zu schwa­che Stim­mungs­ma­che an der Hei­mat­front beklagt. Damit hat­te er all­ge­mei­ne Zustim­mung gefun­den. Der in Müns­ter leh­ren­de Pro­fes­sor der Staats­wis­sen­schaf­ten Johann Ple­nge, durch sei­ne Bei­trä­ge zu den »Ideen von 1914« noch in aller Mun­de, rief in Vor­trä­gen in Erin­ne­rung, daß sich die Nie­der­la­ge nicht ereig­net hät­te, wären die Waf­fen der Wor­te hier­zu­lan­de bes­ser genutzt wor­den. (8) Der Geg­ner sei den Deut­schen zwar nicht im Feld, wohl aber auf die­sem Gebiet über­le­gen gewe­sen. Der Gelehr­te woll­te kei­ne theo­re­tisch-mus­ter­haf­ten Trak­ta­te vor­le­gen, son­dern hel­fen, die Män­gel zukünf­tig in der Pra­xis zu beseitigen.

Ple­nges Arbei­ten zum The­ma Pro­pa­gan­da wur­den von dem Kaf­fee­fa­bri­kan­ten Lud­wig Rose­li­us finan­ziert. Mit des­sen Mit­teln konn­te ein eige­nes Insti­tut an der Uni­ver­si­tät Müns­ter begrün­det wer­den. Der Unter­neh­mer hat­te am Anfang des Krie­ges in Form von Ein­ga­ben an den Unter­staats­se­kre­tär Zim­mer­mann sowie einer 1914 ver­öf­fent­lich­ten Denk­schrift Pro­pa­gan­da­zwe­cke ganz oben auf die Agen­da des Lan­des gesetzt.

Pro­pa­gan­da dür­fe nicht mit Rekla­me ver­wech­selt wer­den, so Ple­nge. Er ver­weist auf die Leis­tun­gen, die Agi­ta­ti­on schon vor dem 20. Jahr­hun­dert, bei­spiels­wei­se in kirch­lich-mis­sio­na­ri­schem Kon­text, ver­bu­chen konn­te. Man ver­brei­tet geis­ti­ge Antrie­be, die das pri­mär Ziel ver­fol­gen, die Stär­kung der gesell­schaft­li­chen Ban­de voranzutreiben.

Ein Schwer­ge­wicht von Ple­nges Argu­men­ta­ti­on liegt auf der Auf­wer­tung zen­tra­ler poli­ti­scher wie öko­no­mi­scher Orga­ni­sa­tio­nen durch ­ideel­le wie erzie­he­ri­sche Pro­pa­gan­da. Gemäß sei­ner Aus­rich­tung dif­fe­ren­ziert er die Mit­tel kämp­fe­risch vor­ge­tra­ge­ner Unter­wei­sung: Demonstrations‑, Bild‑, Wort‑, Zahl- und Sym­bol­pro­pa­gan­da. Zu sämt­li­chen die­ser Berei­che gibt er genaue stra­te­gi­sche Anwei­sun­gen, wie die­se Sek­to­ren zur Erneue­rung Deutsch­lands bei­tra­gen könnten.

Bald hat­te sich die Gele­gen­heit erge­ben, die Theo­rie prak­tisch zu erpro­ben. Ple­nge ent­warf Flug­blät­ter und Pla­ka­te im Kampf um die Ruhr 1923. (9) Sie ver­misch­ten in inhalt­li­cher Hin­sicht mora­li­sche Appel­le an die fran­zö­si­schen Besat­zer mit dem Hin­weis auf finan­zi­ell-mate­ri­el­le Nach­tei­le, die sie in Kauf neh­men müß­ten. Nicht ver­ges­sen war, wel­che Wir­kung von Émi­le Zolas Auf­schrei »J’accuse« in der fran­zö­si­schen Öffent­lich­keit aus­ge­gan­gen war. Ple­nge unter­strich, daß Deutsch­land sei­ne Repa­ra­ti­ons­ver­pflich­tun­gen unge­ach­tet aller öko­no­mi­schen Schwie­rig­kei­ten erfüllt hat­te. Im Sin­ne sei­ner »Sym­bol­pro­pa­gan­da« konn­te man die Hin­wei­se auf den Pla­ka­ten »Am Bir­ken­baum« lesen. Sie gin­gen auf die sagen­haf­ten Pro­phe­zei­un­gen im Zusam­men­hang mit der letz­ten Bir­ken­baum-Schlacht ein, die sei­ner­zeit noch stär­ker bekannt waren.

Ein wei­te­rer Autor, Edgar Stern-Rubarth, kam 1921 zu einem ähn­li­chen Schluß: (10)  Er will Erfah­rungs­tat­sa­chen aus der Kriegs- und Vor­kriegs­zeit gewin­nen, denen sich Deutsch­land nicht län­ger ver­schlie­ßen dür­fe, wenn es sei­nen Anspruch auf Welt­gel­tung auf­recht­erhal­ten wol­le. Stern-Rubarth bemän­gelt die selbst nach den Erfah­run­gen des Welt­krie­ges immer noch feh­len­de psy­cho­lo­gi­sche Ver­tie­fung der Ver­fah­ren und die sys­te­ma­ti­sche Aus­wer­tung des gro­ßen Kom­ple­xes »Indok­tri­na­ti­on«. Er möch­te mit sei­ner Ver­öf­fent­li­chung hel­fen, ent­spre­chen­de Desi­de­ra­ta zu beseitigen.

Weni­ge Jah­re spä­ter leg­te ein deut­scher Ame­ri­ka­nist eine Stu­die vor, die in die glei­che Rich­tung wies: Fried­rich Schö­ne­mann pro­fi­tier­te von sei­nen Auf­ent­hal­ten in der Neu­en Welt, um die deut­sche Pro­pa­gan­da, die bis­her »wenig Sinn und wenig Geschick« gezeigt habe, (11) mit moder­nen Metho­den jen­seits des Atlan­tiks zu kon­fron­tie­ren. In der nicht abweis­ba­ren Fra­ge, was Pro­pa­gan­da bedeu­te, wählt Schö­ne­mann einen mitt­le­ren Weg: Er lehnt einer­seits die schon vor 1933 ver­brei­te­te Vor­stel­lung ab, es han­de­le sich bei die­ser Art von Kom­mu­ni­ka­ti­on um rei­ne Lügen­tech­nik und lau­te Rekla­me; ande­rer­seits aber rei­che es nicht, sich dem Irr­glau­ben hin­zu­ge­ben, die rei­ne Wahr­heit set­ze sich letzt­lich von allei­ne durch. Es gebe kei­ne objek­ti­ve Wahr­heit, son­dern nur eine sub­jek­tiv gestaltete.

Schö­ne­mann arbei­tet die Trä­ger der US-Pro­pa­gan­da her­aus (Schu­le, Kir­che, Frau, Pres­se, Kino, Geschäfts­welt und Clubs). Er hebt das Was und das Wie der US-Pro­pa­gan­da, ihre Schwä­chen wie Stär­ken scho­nungs­los her­vor. Dies soll hel­fen, deut­sche Rück­stän­de aufzuholen.

Schö­ne­mann for­dert: »Auch wir müs­sen ler­nen, an unse­re eige­ne Sache unbe­dingt zu glau­ben und sie alle­zeit und über­all ohne Halb­heit und Zag­haf­tig­keit, ohne Schwan­ken und Lau­heit zu ver­tre­ten. […] Nicht durch ein Wun­der oder eine Hil­fe von außen, son­dern durch prak­ti­sche Volks­er­zie­hung, nüch­ter­ne Mas­sen­be­ein­flus­sung und eine umfas­sen­de natio­na­le Pro­pa­gan­da im rich­ti­gen Sinn kom­men wir zu dem Ziel: eine Flag­ge, eine Spra­che, eine ein­zi­ge Volks­kul­tur, eine ein­heit­li­che Demo­kra­tie, eine Nati­on, ein Deutsch­land!« (12) Der in den 1920er Jah­ren zeit­wei­se berufs- und stel­len­lo­se Ger­ma­nist ­Joseph Goeb­bels dürf­te nicht der ein­zi­ge Dem­ago­ge gewe­sen sein, der Schö­ne­manns Dar­le­gun­gen begie­rig aufsog.

Gut ein hal­bes Jahr­hun­dert nach Tön­nies’ modell­haf­tem Wurf erschien im deutsch­spra­chi­gen Raum ein wei­te­rer Klas­si­ker, der immer wie­der an ver­än­der­te Situa­tio­nen ange­paßt wird, zuletzt durch Ulri­ke Acker­mann. (13) Die als epo­chal zu bezeich­nen­de Stu­die der Demo­sko­pin Eli­sa­beth Noel­le-Neu­mann über die »Schwei­ge­spi­ra­le« basiert zwar auf aktu­el­len Erhe­bun­gen, näm­lich über die Bun­des­tags­wah­len 1965 und 1972, (14) im Grun­de genom­men wer­den in die­sem Werk aber in star­kem Maße anthro­po­lo­gi­sche Grund­an­nah­men diskutiert.

Daß der Mensch eine »sozia­le Haut« besitzt, ist mehr als nur eine tri­via­le Erkennt­nis. Die Fra­ge lau­tet: Wie wirkt sich die­ses Fak­tum in der Mei­nungs­bil­dung aus? Ein­fach her­un­ter­ge­bro­chen läßt sich sagen: Wer meint, im Ein­klang mit der öffent­li­chen Mehr­heits­mei­nung zu ste­hen, neigt leich­ter zum Reden als jener, der befürch­ten muß, durch eine sol­che Offen­heit in Iso­la­ti­on zu gera­ten. Die Kennt­nis der­ar­ti­ger Ver­hal­tens­dis­po­si­ti­ve bedeu­tet ein Ein­falls­tor für eine gan­ze Palet­te von Herr­schafts­tech­ni­ken, die sich vor allem mit The­men rund um das wei­te Feld Angst, Macht und Aus­gren­zung beschäf­ti­gen. (15)

Sol­che psy­cho­lo­gi­schen Mecha­nis­men sind über­all zu beob­ach­ten, wenn­gleich die Mehr­heits­mei­nung in man­chen Fäl­len nicht offen­kun­dig ist, mit­hin also als Ver­hal­tens­in­di­ka­tor ent­we­der aus­fällt oder höchs­tens dif­fus greif­bar ist. Bis heu­te wird Noel­le-Neu­mann vor­ge­wor­fen, sie habe die Macht der Medi­en als Simu­la­tor der Öffent­li­chen Mei­nung über­schätzt. Daß das Mei­nungs­kli­ma und dadurch viel­fäl­tig berühr­te sozia­le Ban­de wesent­li­che Vor­aus­set­zun­gen für poli­tisch-sozia­le Ent­schei­dun­gen einer rele­van­ten Zahl von Bür­gern dar­stel­len, dafür hat die »Unke vom Boden­see« bis heu­te wesent­li­ches Mate­ri­al vorgelegt.

 

Den Klas­si­kern der Pro­pa­gan­da-Theo­rie lag vor allem dar­an, zu bele­gen, wel­che Stel­len den Men­schen auf­grund sei­ner anthro­po­lo­gi­schen Kon­sti­tu­ti­on für ver­zerr­te Sicht­wei­sen anfäl­lig machen: Der Bogen reicht von der unver­meid­lich selek­ti­ven Auf­nah­me der Wirk­lich­keit über will­kür­li­che Steue­rung durch »Infor­ma­ti­ons­pfört­ner« bis zur Furcht vor Einsamkeit.

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(1) – Vgl. Arthur Pon­son­by: Lügen in Kriegs­zei­ten. Kri­ti­sche Betrach­tun­gen (1928), Frank­furt a. M. 2022; Chris­ti­an Har­ding­haus: Kriegs­pro­pa­gan­da und Medi­en­ma­ni­pu­la­ti­on. Was Sie wis­sen soll­ten, um sich nicht täu­schen zu las­sen, Mün­chen 2023, S. 98 – 110.

(2) – Vgl. Wal­ter Lipp­mann: Die öffent­li­che Mei­nung. Wie sie ent­steht und mani­pu­liert wird (1922), Frank­furt a. M. 2021.

(3) – Vgl. Edward Ber­nays: Pro­pa­gan­da. Die Kunst der Public Rela­ti­ons (1928), Ber­lin 2011.

(4) – Jac­ques Ellul: Pro­pa­gan­da. Wie die öffent­li­che Mei­nung ent­steht und geformt wird (1962), Frank­furt a. M. 2021.

(5) – Vgl. ebd., S. 23 f.

(6) – Fer­di­nand Tön­nies: Kri­tik der öffent­li­chen Mei­nung, Ber­lin 1922.

(7) – Han­no Kes­t­ing: Öffent­lich­keit und Pro­pa­gan­da. Zur Theo­rie der öffent­li­chen Mei­nung, Bruch­sal 1995, S. 25.

(8) – Vgl. Johann Ple­nge: Deut­sche Pro­pa­gan­da. Die Leh­re von der Pro­pa­gan­da als prak­ti­sche Gesell­schafts­leh­re, ­Bre­men 1922.

(9) – Zum Wir­ken Ple­nges sie­he Lud­ger Kers­sen: »Johann Ple­nges Ruhr­kampf­pro­pa­gan­da«, in: Sozio­lo­gie und Sozia­lis­mus, Orga­ni­sa­ti­on und Pro­pa­gan­da. Abhand­lun­gen zum Lebens­werk von Johann Ple­nge, hrsg. von Bern­hard Schä­fers, Stutt­gart 1967, S. 45 – 60.

(10) – Vgl. Edgar Stern-­Ru­barth: Die Pro­pa­gan­da als poli­ti­sches Instru­ment, Ber­lin 1921.

(11) – Vgl. Fried­rich Schöne­mann: Die Kunst der ­Mas­sen­be­ein­flus­sung in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka, Berlin/Leipzig 1924, S. 15.

(12) – Ebd., S. 199.

(13) – Vgl. Ulri­ke Acker­mann: Die neue Schwei­ge­spi­ra­le. Wie die Poli­ti­sie­rung der Wis­sen­schaft unse­re Frei­heit ein­schränkt, Darm­stadt 2022.

(14) – Vgl. Eli­sa­beth Noel­le-Neu­mann: Die Schwei­ge­spi­ra­le. Öffent­li­che Mei­nung – unse­re sozia­le Haut, Mün­chen 62001.

(15) – Statt ande­rer: Rai­ner Maus­feld: Angst und Macht. Herr­schafts­tech­ni­ken der Angst­er­zeu­gung in kapi­ta­lis­ti­schen Demo­kra­tien, Frank­furt a. M. 2019.

 

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