Das rechte außerparlamentarische Lager wächst und gedeiht trotz repressiver Tiefschläge. Es wirkt vielerorts auf eine sich wandelnde AfD ein, die in Ost wie West Rekordumfrageergebnisse erzielt. Die Angst und die Wut der Gegner werden größer; bei einzelnen Akteuren wächst indessen auch das Erkenntnisinteresse.
Benjamin Laepple, ein FDP-naher »Influencer« des liberalen Denkfabrikprojektes Operation Heuss, twitterte etwa am 9. August dieses Jahres: »wenn Liberale aller Couleur nicht endlich begreifen, daß die Potenz der AfD aus ihrer immer stimmigeren Weltanschauung herrührt, dann werden die nächsten Jahre wahrscheinlich sehr schwierig. Die AfD verändert das Spielfeld & den Comment grundsätzlich.«
Sie beginnt, jene Spielregeln grundsätzlich zu ändern, die so eingerichtet worden sind, daß man das Spiel als »Rechter« ohnehin nicht gewinnen kann. Die Änderung der Regeln erscheint als das A und O, nicht die peinliche Einhaltung ebendieser. Entscheidet man sich für letzteres und fetischisiert die Regelkonformität der eigenen Aktionsweise, landet man rasch bei Alex Kurtagićs etablierter Wendung von jenen »Konservativen«, die »immer verlieren«.
Neben den Spielregeln erwähnt Laepple ein zweites Merkmal der aktuellen Phase, wonach die neue Stärke der AfD »aus ihrer immer stimmigeren Weltanschauung herrührt«. Dies nimmt den naheliegenden nächsten Schritt der AfD vorweg: Überwindung eines reduktionistischen Populismus als Emanzipation vom reinen Dagegensein; Abwendung vom Primat des Negativen und Hinwendung zu einer (in sich nicht dogmatisch geschlossenen) volksverbundenen Weltanschauung: zum Primat des Positiven.
Der relativen Positivität der Entwicklungen ungeachtet, dürfen Grundeinsichten nicht unterschlagen werden, die im sogenannten Vorfeld – also in jenem außerparlamentarischen rechten Raum, der dem parlamentarischen rechten Raum nicht feindlich gegenübersteht – seit Jahrzehnten verhandelt werden. Dazu wird man jene Einsicht rechnen müssen, wonach Wahlerfolge nicht die Ursache einer Politikwende sind, sondern ihr Abschluß: Hegemonie wird nicht durch Wahlergebnisse hergestellt, Wahlergebnisse sind die Folge von Hegemonie. (1)
Éric Zemmour, französischer Bestsellerautor und Kopf der identitären Partei Reconquête, faltet es in seinem jüngsten Buch Je n’ai pas dit mon dernier mot (2023) »gramscianisch« aus, das heißt, er schematisiert die Abfolge im Sinne der Hegemonietheorie des revolutionären Denkers Antonio Gramsci (2): Zunächst kommen Ideen, die zirkulieren, anschließend kommt die Aktion als Handlung, um diese Ideen zu verbreiten, schließlich die Wahlentscheidung für eine Partei. Und selbst wenn es einer oppositionellen Partei gelingt, »die Spitze eines oder mehrerer dominanter Apparate in ihrer formalen Hierarchie zu kontrollieren, heißt das noch nicht, daß sie damit auch wirklich die Knotenpunkte der realen Macht kontrolliert« (3), warnte Gramscis kritischer Schüler Nicos Poulantzas vor parlamentspolitischer Naivität.
Passend zu dieser Gramsci-Zemmour-Schrittfolge, ordnet nun der linke Soziologe Klaus Dörre die große Akzeptanz AfD-naher Standpunkte im alltäglichen Verständnis vieler Bürger im Osten der BRD als Vorbote neuer Wahlerfolge ein. (4) Es gebe dort »ein gesellschaftliches Umfeld«, »in dem man sich offen zu diesen Ansichten bekennen kann, im Bewußtsein, den Common Sense zu artikulieren«.
Dörre berührt damit das, was man als Meta-Metapolitik begreifen könnte und jeder Metapolitik vorangeht: die elementare Zur-Kenntnisnahme der Existenz eines veränderbaren »Common Sense«. Mit Gramsci im Gepäck läßt sich sagen: Dörre berührt das Sujet des »Alltagsverstandes« der Menschen. Gramsci trennt hierbei diesen Begriff »Alltagsverstand« (senso comune), wo es »um das Verständnis des Alltags« (5) geht, von einem »gesunden Menschenverstand« (buon senso), wo man es mit dem vernunftorientierten Kern im Bewußtsein zu tun hat.
Der Alltagsverstand als »Denkweise« (S. 94, Gefängnishefte (6)) sei geprägt von »Gemeinplätzen« (136) und »Glaubenssätzen« (1093); er vereine eine »chaotische Ansammlung disparater Auffassungen« (1396). Der Alltagsverstand, so widersprüchlich er auf diese Weise ist, werde dabei nicht aus sich heraus hergestellt, sondern reife im bewußten wie unbewußten »Dialog« mit Intellektuellen, Denkern, Büchern usw. heran.
Der linke Autor Johannes Bellermann faßt Gramscis Bild zusammen: »Wir müssen uns den Alltagsverstand als ein Set von Wahrheiten vorstellen, die bei jedem Menschen potentiell individuell sind, aber nicht von den jeweiligen Menschen erfunden oder konstruiert, sondern passiv übernommen und erlernt werden. Auf Basis des Alltagsverstandes ordnen Menschen ihre Erfahrungen, (be)urteilen (diese) und vollziehen täglich Handlungen für sich und andere.« (7) – Zum Beispiel wählen sie eine Partei oder wählen sie nicht (vgl. Zemmour-Dreischritt).
Die Organisation des Alltagsverstands erfolgt dabei oft über die Organisation der öffentlichen Meinung: »Was ›öffentliche Meinung‹ genannt wird«, definiert Gramsci, »ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der ›Zivilgesellschaft‹ und der ›politischen Gesellschaft‹, zwischen dem Konsens und der Gewalt.« (916)
Wer abweicht von der öffentlichen Meinung, die den Alltagsverstand prägt, neigt zum Rückzug. Denn er fühlt sich perspektiv- und machtlos im »Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung«. Tendenziell wird eine Meinung hegemonial. Durch sie wird der »politische Willen modelliert«, schlimmer noch: Durch sie werden die »Nichtübereinstimmenden zu einer individuellen und unorganischen Wolke zerstäubt«, so Gramsci. (917)
Es folgt grosso modo das, was man in unseren Gefilden »Schweigespirale« nennt oder salopper: das Gegenteil von Bekenntnislust. Das schwächt die Meinung politischer Außenseiter und festigt die (kulturell-politische) Hegemonie derer, die den Alltagsverstand zu prägen imstande sind. Folgerichtig deutet der Pädagoge Uwe Hirschfeld den Stellenwert des gramscianischen Alltagsverstandes als Hegemoniebereiter: »Über den Alltagsverstand wird Hegemonie hergestellt bzw. in Frage gestellt. Die Perspektive des Begriffs ist daher eine politische Perspektive, sie zielt auf die gesellschaftliche Praxis der einverständigen Unterordnung oder der Widerständigkeiten.«(8)
Doch Widerstand leistet nur der, in dessen Alltagsverstand sich keine Alternativlosigkeit der Dinge einschreiben ließ – eine pessimistische Bestandsaufnahme, aber keine deterministische. Der Alltagsverstand als umkämpftes Terrain der Menschen läßt sich ändern, ist nicht auf ewig festgeschrieben; man müsse »unterscheiden zwischen dem, was permanent ist, und dem, was gelegenheitsbedingt ist« (493). Geschichte bleibt offen: »Der Alltagsverstand ist nichts Erstarrtes oder Unbewegliches, sondern verändert sich fortwährend, indem er sich mit in das Alltagsleben übergegangenen wissenschaftlichen Begriffen und philosophischen Meinungen anreichert.« (136 f., 2179 f.)
Begriffe werden etwa aus der Wissenschaft heruntergebrochen und finden, vermittelt durch die Medienwelt, Eingang in den Alltagsverstand. Neben der Qualitätspresse, Radio, Film und Theater usw. nennt Gramsci hierbei die »Skandalpresse« (929) als Vehikel zur Beeinflussung des Alltagsverstandes im besonderen und der öffentlichen Meinung im allgemeinen. Auch ihre Akteure sind Türsteher des Sagbaren: »Die Frage, wer worüber öffentlich sprechen kann, wer kulturelle Initiativen vorgibt und ausdeutet, wird zur politischen Frage«, so Johannes Bellermann daran anschließend. (9)
Politisch-ideologische Weichenstellungen werden über Theater, Kino, Bücher oder Radio »durchgedrückt«. Was dort dargestellt wird, wird vom Zuseher und / oder Leser konsumiert und reproduziert. So werden Emotionen, Bilder, Haltungen und nicht zuletzt Meinungen weitergetragen. Wer die kulturelle Hegemonie in einer Gesellschaft erringen will, muß diese Prozesse verstehen und im besten Falle selbst in Gang setzen können; »eine genaue Kenntnis von der Beschaffenheit des Alltagsverstandes«, (10) wie er in einer bestimmten Phase dominant ist, erscheint als Voraussetzung für anschlußfähige Meta- und Realpolitik.
Gramsci las, in den 1930er Jahren auf Basis dieser Erkenntnis operierend, nicht nur Fach- und Sachliteratur aller politischen, philosophischen und ökonomischen Richtungen; er konsultierte auch die Bestseller seiner Zeit, oftmals Schnulzen- oder Kriminalromane. Zwar waren sie für ihn Sinnbild einer verflachenden Epoche. Doch Gramsci wollte die partielle Primitivität des Alltagsverstandes nicht entschuldigen, sondern die Menschen »zu einer höheren Lebensauffassung führen« (1383). Gramsci glaubte an den Wert eines In-Form-Bringens durch Bildungsarbeit. Es gebe »Notwendigkeiten für jede kulturelle Bewegung«, »die danach strebt, den Alltagsverstand […] zu ersetzen: 1. niemals müde werden, die eigenen Argumente zu wiederholen: die Wiederholung ist das wirksamste didaktische Mittel, um auf die Mentalität des Volkes einzuwirken; 2. unablässig daran zu arbeiten, immer breitere Volksschichten intellektuell zu heben; das heißt, dem amorphen Massenelement Persönlichkeit zu geben« (1390).
Doch müsse man die Gewohnheiten der Menschen zunächst verstehen, um sie kritisieren zu können, ja um den »Kampf für die Schaffung einer neuen Gewohnheit« effektiv aufzunehmen. (791) Daß sich kaum jemand seiner Intellektuellenkollegen als »Ghostwriter des Zeitgeists« (11) mit der Frage »Wie denkt das Volk?« beschäftigte, auf welche Art und Weise welche Inhalte an die Masse der Menschen vermittelt und von dieser aufgenommen werden, sorgte für Gramscis Verwunderung. Für ihn stellte dies ein Desiderat dar.
Gramsci begründete das Ausbleiben der Analyse mit immanenter Volksferne der Denkerkaste: »Die Intellektuellen«, zürnte der sonst deskriptiv-abtastende Gramsci, »kommen nicht aus dem Volk, auch wenn zufällig einer von ihnen dem Volk entstammt, sie fühlen sich nicht mit ihm verbunden, sie kennen und fühlen nicht die Bedürfnisse, die Bestrebungen, die weitverbreiteten Gefühle desselben, sondern sind dem Volk gegenüber etwas Losgelöstes, etwas in der Luft Hängendes, das heißt eine Kaste und kein mit organischen Funktionen ausgestattetes Glied des Volkes selbst.« (2043 f.)
Wer aber das Volk nicht kennt, neigt dazu, es zu miß achten, wenn nicht zu ver achten. Gramscis Zwischenfazit geißelt eine regelrechte Überfremdung des Alltagsverstandes: »So hat sich das italienische Volk über den französischen popular-historischen Roman für die monarchistischen und revolutionären Traditionen Frankreichs begeistert (und begeistert sich weiter, wie die jüngsten Mitteilungen des Buchhandels zeigen) und kennt die populäre Gestalt Heinrichs IV. besser als die Garibaldis, die Revolution von 1789 besser als das Risorgimento, die Schmähungen Victor Hugos gegen Napoleon III. besser als die Schmähungen der italienischen Patrioten gegen Metternich; es begeistert sich für eine Vergangenheit, die nicht die seine ist, bedient sich in seiner Sprachform und in seinem Denken französischer Metaphern und Kulturbezüge usw., ist kulturell mehr französisch als italienisch.« (2116)
Gramsci sieht in der Annahme seiner Intellektuellenkollegen, »im Ausland sei man ehrenhafter, fähiger, intelligenter«, eine »Auslandsmanie«, die »lästige und manchmal abstoßende Formen« annehmen könne, besonders wenn sie von »snobistischen Posen« begleitet werde. Diese »Stimmung« sei »ein relevantes Zeichen nicht nur für Dummheit, sondern auch für Mangel an popular-nationalem Geist.« (2122)
Neunzig Jahre später erinnert diese Bestandsaufnahme an das zeitgenössische Deutschland. Netflix-Produktionen, Kinofilme, ARD-Dokuserien: Andere gewinnen, andere sind die Helden, andere sind die Vorbilder. Auch das paßt zu Gramscis zeitloser Analyse der Wissensvermittlung und Propagandawirkung auf den Alltagsverstand durch fortschreitenden Medienkonsum: »Die historische Frage wird durch gefühlsmäßige und politische Überlagerungen und durch Vorurteile jeder Art verwirrt […]: der Alltagsverstand neigt zum Glauben, daß, was heute existiert, immer existiert habe« (766). Somit beschreibt Gramsci nichts anderes als die Logik der Alternativlosigkeit auch im historischen Beritt. Gramsci lapidar: Unsere Intellektuellen wüßten nicht, wie das italienische Volk dachte, »weil unsere Intellektuellen anational und kosmopolitisch waren« (677).
Dementsprechend agierte Gramsci auf beiden Feldern: Wie denkt das Volk? Aber auch: Wie denken die intellektuellen Eliten? Zu letzteren hatte Gramsci kein Zutrauen. Seine Hoffnung lag im »einfachen Mann«, womit der »gesunde Menschenverstand« ins Spiel kommt. Hier ging es Gramsci um eine – symbolbehaftet-schematische – Kontrastierung zu dem seiner Meinung nach ideologisch fehlgeleiteten Alltagsverstand der Mehrheit seiner Mitmenschen. Ihnen gegenüber benötigt er etwas Positives. Gramsci: »Die Vertreter des ›gesunden Menschenverstands‹ sind der ›Mann auf der Straße‹, der zum ›Durchschnittsmenschen‹ gewordene […] ›Monsieur Tout-le-monde‹.« (963)
Gramsci führt mit Alessandro Manzoni einen italienischen Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert ein: »Manzoni unterscheidet zwischen Alltagsverstand und gesundem Menschenverstand […]. Wo er davon spricht, daß da auch einer war, der nicht an die Brunnenvergifter glaubte, seine Meinung gegen die verbreitete Volksmeinung indes nicht zu verfechten vermochte, fügt er hinzu: ›Man sieht, es gab einen geheimen Auslaß für die Wahrheit, eine häusliche Vertraulichkeit: der gesunde Menschenverstand war da, doch er hielt sich verborgen, aus Furcht vor dem Alltagsverstand‹.« (953 u. 1471)
Der gesunde Menschenverstand erweist sich so bei Gramsci als der gesunde Kern des Alltagsverstandes: der kohärente, in sich homogene Teil. Er schlummert in fast jedem, wird aber überwölbt durch ideologische Parameter, fühlt sich eingeschüchtert oder zum Schweigen gebracht.
Dieser relative Optimismus (12) mündet indes nicht in den Egalitarismus: »Die gesamten Überlegungen zum Alltagsverstand bzw. gesunden Menschenverstand gehen davon aus, daß die Menschen nicht gleich sind, auch wenn sie es im juristischen und gesellschaftlichen Sinne sein sollten«, (13) schreibt folgerichtig ein kritisch-linker Gramsci-Adept. Gramsci wußte um die Unterschiede des Menschen, aber er bestand auf der Chance, sie kollektiv zu heben. Dafür benötigte er als Kontrastfolie das schematisch-idealtypische Gegenbild zum deformierten Alltagsverstand – und eben dies nannte er den gesunden Menschenverstand.
Schablonenhaft: Der Alltagsverstand ist diffus, irrational, widersprüchlich; der gesunde Menschenverstand kohärent, rational, logisch. Der Alltagsverstand ist fremdbestimmt und passiv; der gesunde Menschenverstand selbstbestimmt und aktiv.
Beim In-Form-Bringen und der Herausschälung des gesunden Menschenverstandes geht Gramsci vom konservativ-revolutionären Prinzip der bewahrenden Erneuerung aus. In einer frühen Schrift dekretiert er: »Kein Ding kann ersetzt werden, wenn die Neuerer über keinen Ersatz verfügen.« (14) Dieser Ersatz müsse gemeinschaftlich konzipiert sein, nicht intellektualistisch, kosmopolitisch und abstrakt. Der »Übergang vom Wissen zum Verstehen, zum Fühlen, und umgekehrt vom Fühlen zum Verstehen, zum Wissen« (1490) müsse von organischen Intellektuellen gewährleistet werden.
Was Gramsci meint: Das Rationale und das Irrationale, die Idee und der Mythos, müssen zusammenwirken. Daran anknüpfend, erkennt Gramsci im »Zum Volke gehen« die Lösung für eine ganzheitliche Perspektive. »Eine neue Kultur zu schaffen«, führt Gramsci aus, »bedeutet nicht nur, individuell ›originelle‹ Entdeckungen zu machen, es bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verbreiten, sie sozusagen zu ›vergesellschaften‹ und sie dadurch Basis vitaler Handlungen, Element der Koordination und der intellektuellen und moralischen Ordnung werden zu lassen. Daß eine Masse von Menschen dahin gebracht wird, die reale Gegenwart kohärent und auf einheitliche Weise zu denken, ist eine ›philosophische‹ Tatsache, die viel wichtiger und ›origineller‹ ist, als wenn ein philosophisches ›Genie‹ eine neue Wahrheit entdeckt, die Erbhof kleiner Intellektuellengruppen bleibt.« (1377)
Da die Religion ihre Bindekräfte verloren hat bzw. sie weiter verliert und das Vakuum durch einen ideologisch falsch konditionierten Alltagsverstand der Mehrheit gefüllt wurde, muß in Gramscis Logik das Ziel »eines neuen Alltagsverstands und folglich einer neuen Kultur und einer neuen Philosophie, die im Volksbewußtsein mit derselben Festigkeit und demselben imperativen Charakter Wurzeln schlagen wie die traditionellen Glaubensvorstellungen« (1398), anvisiert werden. »Kultur« definiert Gramsci als »eine kohärente, einheitliche und national verbreitete ›Auffassung vom Leben und vom Menschen‹«, die »eine Lebensweise, ein ziviles und individuelles Verhalten hervorgebracht hat« (2105).
Gramscis Schlüssel für diese neue Kultur, für die Durchsetzung des gesunden Menschenverstandes als zu hebenden Schatz des Alltagsverstandes, ist Bildung als Wissensvermittlung und Optimierung seines Umfeldes. Es gelte, »unter Beibehaltung seiner starken Persönlichkeit und individuellen Originalität zum Massen- oder Kollektivmenschen« (15) zu werden, der an einheitliche Ziele denke und für sie an einheitliche Hoffnungen anknüpfe.
Bemerkenswert ist in diesem Kontext die implizite Absage an »Tag X«-Romantik: Denn Inflation, Arbeitslosigkeit, Wertverluste können den Alltagsverstand zwar durcheinanderwirbeln und sukzessive nach alternativen Denkoptionen suchen lassen. Aber materielle Prozesse allein bewirken nicht die integrale Kehre. Wirtschaftskrisen, führt Gramsci aus, könnten nur einen »günstigeren Boden« bereiten, aber »von sich aus« würden die »unmittelbaren Wirtschaftskrisen« keine »fundamentalen Ereignisse« hervorbringen (1563).
Wenn einst der Boden bereitet ist durch Krisenerscheinungen, muß organisierte Handlungsfähigkeit bereits hergestellt sein. Dann muß man souverän und selbstbewußt genug sein, um zu wissen, welche Weltanschauung und welches Politikbild, welche Kernaspekte seines eigenen »gesunden Menschenverstandes« man zu setzen beabsichtigt. Hierfür benötigt man die vom eingangs zitierten FDP-Laepple befürchtete »immer stimmigere Weltanschauung«, die kohärente ideenverbundene Politik; mithin das, was in AfD-Kreisen zu oft verächtlich als »Ideologie« (un)verstanden wird.
»Ideologie« aber ist, wie Gramsci ausführt, ein »praktisches Regierungsinstrument«. (16) Sie ist es, »die für die Zivilgesellschaft und folglich den Staat den innersten Zement bildet« (1313). Eine jede Ideologie, ob regierungskonform oder nonkonform, muß mit dem arbeiten, was sie vorfindet: Das ist der Alltagsverstand der vielen und der gesunde Menschenverstand der wenigen. Um ins Gespräch mit den vielen zu kommen, müssen wir wissen, wie dasjenige beschaffen ist, an das eine Theorie oder eine Ideologie überhaupt erst anknüpfen kann – und das ist der Alltagsverstand der Landsleute: Er gehört künftig stärker als bisher in den Fokus unserer Analysen.
»Zum Volke gehen« im Sinne Gramscis heißt neun Jahrzehnte nach seinem Tod zu berücksichtigen: Netflix und Prime, Spotify und Apple Music, »Sportschau« und Festivals usw. sind heute wirkmächtigste Vermittler von Positionen und Begriffen, ohne daß dies immer auf den ersten Blick sichtbar ist. Just darin liegt ihre epochale Wirksamkeit: im steten, tiefen, nachhaltigen Einsickern in den Alltagsverstand, der nur bei wenigen Menschen von seinem guten Kern, dem gesunden Menschenverstand, gekrönt wird. Am Anfang jedweder meta- und realpolitischen Arbeit sollte diese Erkenntnis stehen.
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(1) – »Hegemonie« wird hier im Anschluß an Gramsci als »Ineinandergreifen von materieller Macht, Ideologie und Institutionen« verstanden (Robert W. Cox: »Soziale Kräfte, Staaten und Weltordnungen«, in: Benjamin Opratko, Oliver Prausmüller (Hrsg.): Gramsci global. Neogramscianische Perspektiven in der Internationalen Politischen Ökonomie, Hamburg 2011, S. 39 – 83, hier 64).
(2) – Erleichtert wird das konstruktiv-produktive Vorhaben einer rechten Gramsci-Rezeption ganz grundsätzlich durch eine »interpretationsoffene Struktur des Werkes«, die auch linke Autoren bekennen müssen (vgl. Jens Winter: »Dimensionen einer hegemonialen Konstellation«, in: Benjamin Opratko, Oliver Prausmüller (Hrsg.): Gramsci global. Neogramscianische Perspektiven in der Internationalen Politischen Ökonomie, Hamburg 2011, S. 145 – 162, hier 146, FN 1).
(3) – Nicos Poulantzas: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus (1978), Hamburg 2021, S. 171.
(4) – Vgl. »Soziologe über AfD-Erfolge im Osten. Ein Interview von Florian Diekmann«, in: spiegel.de vom 4. Juli 2023.
(5) – Uwe Hirschfeld: Notizen zu Alltagsverstand, politischer Bildung und Utopie, Hamburg 2015, S. 71.
(6) – Die zehnbändige Gesamtausgabe von Gramscis Gefängnisheften erschien von 1991 bis 2002 im Institut für kritische Theorie (InkriT); in vorliegendem Text wird jedoch nach der broschierten Edition aus dem Argument Verlag zitiert: Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Bd. 1 – 10, Hamburg 2012.
(7) – Johannes Bellermann: Gramscis politisches Denken. Eine Einführung, Stuttgart 2021, S. 146.
(8) – Hirschfeld: Notizen, S. 70 f.
(9) – Bellermann: Gramscis politisches Denken, S. 143.
(10) – Theo Votsos: Der Begriff der Zivilgesellschaft bei Antonio Gramsci, Hamburg 2001, S. 123.
(11) – Wolfgang Fritz Haug: Philosophieren mit Brecht und Gramsci, 2. erweiterte Aufl., Hamburg 2006, S. 29.
(12) – Problematisch aus »neurechter« Perspektive erscheint, daß bei Gramsci an dieser Stelle ein naives Menschenbild anklingt: Ein jeder Mensch verfüge über den guten Kern, er werde nur nicht bei jedem sichtbar.
(13) – Bellermann: Gramscis politisches Denken, S. 141.
(14) – Antonio Gramsci schrieb diese Zeile in einem Aufsatz für den Grido del popolo vom 5. Januar 1918. Erinnert wird an jenes Zitat durch Gramscis Herausgeber in Anmerkung 566 des 6. Bandes der Gefängnishefte.
(15) – Antonio Gramsci: Gefängnisbriefe, Bd. 1, Hamburg 1995, S. 113.
(16) – Antonio Gramsci: Gefängnisbriefe, Bd. 3, Hamburg 2014, S. 266.