»Jeder vierte Bundesbürger unter 30 hegt ›gewisse Sympathien‹ für die ›Rote Armee Fraktion‹«, berichtete der Spiegel 1971 über eine repräsentative Umfrage des Allensbach-Instituts.
Natürlich muß hier bedacht werden, daß die Umfrage im ersten Jahr nach Gründung der RAF durchgeführt wurde. Die Terrorgruppe hatte bisher Andreas Baader befreit und einige Banken überfallen, Menschen schwer verletzt, aber noch keine getötet. In der Fläche ging die Sympathie in der Folgezeit drastisch zurück. Das lag an der brutalen Gewalt der Terroristen und an den Forderungen, die dem Normalbürger fremd bleiben mußten (»Die Klassenkämpfe entfalten. Das Proletariat organisieren. Mit dem bewaffneten Widerstand beginnen! Die Rote Armee aufbauen!«). Letztlich scheiterte die RAF also auch daran, daß sie nicht über ein Hinterland verfügte. Mit zahlreichen Hinweisen unterstützte die Bevölkerung die Ermittlungen massiv.
Innerhalb der radikalen Linken aber verfing die Propaganda der RAF. Und ganz allgemein gelang es ihr, eine Erzählung über ihr Anliegen und ihren Kampf durchzusetzen, die einer Mythenbildung gleichkommt. Sie wirkt bis heute nach, und es ist dieser Mythenbildung gelungen, Begriffe zu plazieren wie den von einer systematisch angewandten »Isolationshaft« in bundesdeutschen Gefängnissen.
Die Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim kann dabei als symbolischer Ort der Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF gelten: kaum jemand, der den Namen der Anstalt nicht mit den Gesichtern von Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe verbindet. Als im April dieses Jahres der Abriß des Gerichtssaals begann, bekam der Ort erneut mediale Aufmerksamkeit. So schrieb Willi Winkler, der 2007 ein Buch über die RAF vorlegt hatte, in der Süddeutschen Zeitung den Text »Die Knastfestung fällt«.
Zum Thema Isolation in der Haft führt Winkler über den Saal, in dem die Prozesse stattgefunden hatten, aus: »Hier war es, wo Ulrike Meinhof am 41. Verhandlungstag davon sprach, daß der Gefangene in der Isolation zu einer Gesinnungsänderung nur durch Verrat gelangen könne. Genau das sei ›Folter‹, sagte sie mit der schneidendsten Stimme und wiederholte, die Silben zerhackend, ›das ist Folter, ex-akt Folter‹. Der Richter Prinzing entzog ihr das Wort, Folter gab es in der Bundesrepublik nicht. Sieben Monate später erhängte sie sich.«
Mit keinem Wort geht Winkler auf die realen Haftbedingungen ein. Ein Abgleich mit den Aussagen Meinhofs ist ja längst erfolgt, und Winkler hätte über diese Ergebnisse leicht auf die interessante Frage stoßen können, inwiefern nicht nur er, sondern auch viele andere Autoren an der Mythenbildung der RAF mitgearbeitet haben. Letztlich nämlich fällt Winkler auf die Propaganda der RAF herein, die sich im Gefängnis als Folteropfer eines angeblich existierenden neuen Faschismus in Szene setzte.
Tatsächlich empfing Meinhof in den ersten sechs Monaten ihrer Haft 48mal Besuch und hatte zehn selbstgewählte Zeitungen und Zeitschriften abonniert. Alle RAF-Gefangenen durften zudem Radio hören und unbegrenzt Briefe versenden sowie empfangen. Dennoch erreichte die Terrorgruppe mit ihren Behauptungen über »Isolationshaft« eine Bedeutung, die sie während ihrer zwei Jahre im Untergrund nie gehabt hatte.
Schon im Mai 1972 (und damit vor der Inhaftierung der Führungskader der ersten Generation) wurde in dem Bekennerschreiben nach dem Anschlag auf den BGH-Richter Buddenberg das Thema Haft in der BRD aufgebracht: »Die strenge Isolation, in der die Gefangenen gehalten werden, um sie psychisch fertig zu machen: Einzelhaft, Einzelhofgang, Redeverbot mit Mitgefangenen, permanente Verlegungen, Arreststrafen, Beobachtungszelle, Briefzensur, Unterschlagung von Briefen, Büchern, Zeitschriften – die Maßnahmen, mit denen sie physisch fertiggemacht werden: grelle Zellenbeleuchtung nachts, häufiges Wecken und Durchsuchen, Fesselung beim Hofgang, körperliche Mißhandlungen, das sind nicht die Schikanen von kleinen, frustrierten Gefängniswärtern, das sind Buddenbergs Anordnungen, um die Gefangenen zur Aussage zu erpressen. Das ist der bereits institutionalisierte Faschismus in der Justiz. Das ist der Anfang von Folter.«
Während die Verhaftung der prominenten Führung um Baader, Meinhof, Ensslin, Raspe und Meins für die RAF selbstverständlich einen Rückschlag darstellte, erwies sie sich aus kommunikationspolitischer Sicht als Vorteil. Nach den Anschlägen verfügte man, außer der Berichterstattung an sich, nur über Bekennerschreiben für die Öffentlichkeit. Seit der Festnahme aber betrieb die Terrorgruppe eine professionellere Medienarbeit: Neue Möglichkeiten, wie Interviews mit den Anwälten oder Presse- und Hungerstreikerklärungen sowie Briefe der Inhaftierten, wurden gezielt genutzt, um die These der »Isolationshaft« unters Volk zu bringen.
Letztlich wurden die Medien, die natürlich auch die Sicht des Staates abdruckten, »zu den Transporteuren der Sichtweise der RAF«. Sogar die Gegenstimmen aus den Boulevardmedien wie Bild (»süße[s] Leben hinter Gittern«) und B.Z. trugen auf ihre Weise indirekt zur Kommunikationsstrategie der RAF bei. Die Springerpresse galt spätestens seit Beginn der Studentenbewegung als Feind der Linken und nährte so Rache- und Mitleidsgefühle in der wachsenden Sympathisantenszene. Auch im linksintellektuellen, bürgerlichen Lager der BRD fand die Gruppe, nach der Distanzierung infolge der Bombenanschläge von 1972, wieder Zuspruch.
Die RAF nutzte die Plazierung des Begriffs »Isolationshaft« zum Aufbau einer legalen Sympathisantengruppe außerhalb der Haft. Diese sogenannten Folterkomitees halfen bei der Verbreitung der gewünschten Erzählung, dienten aber darüber hinaus auch der Rekrutierung neuer Mitglieder unter denjenigen, die den bundesdeutschen Staat auf dem Weg in einen neuen Faschismus sahen und darüber in eine Art isolierter Panik gerieten – wie das vermeintlich letzte Generationen so an sich haben.
Der Hungertod von Holger Meins im November 1974, den die Gruppe bewußt in Kauf nahm, um die Öffentlichkeit noch mehr zu mobilisieren, verfehlte seine Wirkung nicht. Er unterstrich die Behauptung der »faschistischen BRD«. Die extreme Linke hatte nun ihren ersten Märtyrer im Kampf gegen den Staat. »Rache für Holger« wurde zur neuen Losung der Sympathisantenszene und sorgte für neue Mitglieder im Untergrund der zweiten RAF-Generation.
Otto Schily, später Bundesinnenminister der SPD, schrieb als Verteidiger von Gudrun Ensslin von einer »Verwesung bei lebendigem Leibe«. Zu diesem Zeitpunkt war die RAF-Spitze im siebten Stock von Stammheim bereits mit umfassenden Privilegien – teils erzwungen durch Hungerstreiks – ausgestattet. Mehrere Stunden am Tag durften sie zusammen verbringen, wobei die sonst strikte Trennung der Geschlechter mißachtet wurde. Die Häftlinge verfügten in ihrer angeblichen »Isolationshaft« über Radios, Plattenspieler und Fernseher in ihren Zellen. Es gab sogar eine Sportzelle sowie eine eigene Terrasse für den Freigang.
Im Dezember 1974 gelang Baader der nächste »PR-Coup«, indem er den französischen Philosophen Jean-Paul Sartre für ein Gespräch nach Stammheim holen ließ. Der Besuch wurde gerichtlich genehmigt und war ein großer Erfolg der RAF-Propaganda. Sartre verwechselte die kaum eingerichtete Besucherzelle mit der von Baader und bestätigte anschließend auf einer Pressekonferenz die Lüge der »Isolationsfolter«.
Nach dem Suizid Meinhofs im Mai 1976 wurde von den Anwälten und der Unterstützerszene die These verbreitet, sie sei durch die Haftbedingungen in den Tod getrieben worden. Dies entsprach exakt der Kommunikationsstrategie der RAF; die Mordvorwürfe kamen hingegen erst später auf. Im Oktober 1977 verübten auch Bader, Ensslin und Raspe Selbstmord, da die Chance auf eine Freilassung nach der Befreiung der entführten Lufthansa-Maschine »Landshut« faktisch unmöglich geworden war.
Durch die Mordbehauptung von Irmgard Möller, die ihren Suizidversuch als einzige überlebte, und die Tatsache, daß sich Pistolen in den Hafträumen fanden, war die nächste Propagandalüge (»Staatsmord« in Stammheim) geboren. Sie konnte zwar wieder zur Rekrutierung neuer Mitglieder genutzt werden, setzte sich aber nicht über die linksextreme Szene hinaus fest. Die Legende von der »Isolationsfolter« findet sich hingegen bis heute immer wieder.
RAF-Aussteiger Horst Mahler, der später bekanntlich andere Irrwege fand, erkannte die Strategie schon früh und entgegnete 1978 dem ebenfalls inhaftierten Linksextremisten Peter-Paul Zahl: »Das Geschrei über die Haftbedingungen war und ist Stoff, mit dem Mitleidskampagnen gefüttert werden, die nichts anderes sind als Rekrutierungsunternehmen der RAF und ihrer Ableger. Daran will ich mich in keiner Weise beteiligen. Ob du an den gegebenen Haftbedingungen kaputt gehst oder nicht, hängt nicht von diesen Bedingungen ab, sondern allein von dir. Die Leute draußen können dir das nicht sagen, weil sie uns gegenüber an Schuldgefühlen leiden und solche Überlegungen in sich unterdrücken.«
Aber Mahler blieb mit seiner angeekelten Einschätzung und seinem Hinweis auf die Unehrlichkeit und den psychischen Druck eine Ausnahme – und wäre es heute wieder.