Wenn sich am 5. November seine Geburt zum 100. Mal jährt, wird die deutschsprachige Medienlandschaft einmal mehr überquellen vor Lobeshymnen auf Rudolf Augstein.
Als personifiziertes »Sturmgeschütz der Demokratie« gab er seinem Spiegel von der Stunde Null an die Agenda vor: »Alle im Spiegel verarbeiteten und verzeichneten Nachrichten, Informationen, Tatsachen müssen unbedingt zutreffen. Jede Nachricht und jede Tatsache ist […] peinlichst genau nachzuprüfen.«
Auch wenn wir spätestens seit Relotius darüber nur noch müde lächeln können, kommen wir doch nolens volens kaum am Komplex vorbei: Wo anders als in der historischen Spiegel-Kantine des alten Hamburger Redaktionsgebäudes in der Willy-Brandt-Straße 25 hätte man im Jubiläumsjahr 2018 sitzen sollen, um über »68 – Pop und Protest« zu sinnieren?
Woher kommt die eigentümlich auratische Wirkung, die Augstein seit Kriegsende und noch Jahrzehnte nach seinem Tod innerhalb der deutschen Presselandschaft zu entfalten vermochte? Wie kam es, daß die erklärtermaßen »bisher einzige JF-Demonstration« 1995 eine Handvoll Redakteure der liberalkonservativen Berliner Wochenzeitung Junge Freiheit vor dem Spiegel-Haus auflaufen ließ, um dort ein Transparent mit der Aufschrift »Rudolf, räum den sAUSTall auf« zu entrollen, nachdem die Hamburger (Stefan Aust war Chefredakteur) das Berliner Druckerzeugnis in eher plumper Weise als Antisemitenblatt dargestellt hatten (nachzulesen in der Chronik 20 Jahre Junge Freiheit, S. 88)?
Was also war das für ein Mann, der – zweitjüngstes von sieben Kindern – als Hannoveraner Gymnasiast mit einem Helmut Ostermann zur Schule ging, welcher sich später Uri Avnery nennen, als antizionistischer israelischer Journalist Furore machen und einen gewissen Martin van Creveld für das Fach Geschichte begeisterte?
Wer war jener Augstein, der nach der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback – zufällig jenes Buback, der 1962 mit harter Hand die Ermittlungen gegen Augstein und Co. im Rahmen der »Spiegel-Affäre« geleitet hatte – durch die Rote Armee Fraktion (RAF) im April 1977 kundtat, es brauche keine schärferen Gesetze, denn Mord sei Mord und bedürfe keiner weiteren Klassifizierung nach eventuellen politischen Motiven? (Und wie finden das die, die heute das gleiche Argument vom anderen Pol des politischen Spektrums aus bemühen?)
Wer war Augstein, der gerade in der Aufbauphase die Redaktionsränge des Spiegel eifrig auch mit ehemaligen Parteigenossen und SS-Führern bestückte, aber vier Jahrzehnte später die wohl vom Investigativjournalisten Hans Leyendecker weitestgehend erfundene Geschichte über den Polizeimord an RAF-Mann Wolfgang Grams in Bad Kleinen (siehe Sezession 87) erschienen ließ, die damals Bundesinnenminister und Generalbundesanwalt die Posten kostete?
Dieser Augstein, der 1951 mit 28 Jahren erstmals in Bonn mit Carl Schmitt diskutiert hatte und im Folgejahr untertänigst in Plettenberg vorstellig wurde, um Schmitts juristische Hilfe bei einer Beschwerde am eben erst gegründeten Bundesverfassungsgericht gegen die von Bundeskanzler Adenauer veranlaßte Beschlagnahmung der Spiegel-Ausgabe 28/1952 – es ging um Kontakte höchster BRD-Politiker zum französischen Geheimdienst – zu erbitten.
(Die ausgerechnet in der FAZ 2007 – zum 60. Jubiläum der ersten Spiegel-Ausgabe – heraustrompetete »Entdeckung« des zugehörigen Briefwechsels war eine Nebelkerze: Daß es Schriftverkehr und Treffen gegeben hatte, konnte man bereits 1993 in der CS-Biographie von Paul Noack sowie in Schmitts BRD-Wirkungsgeschichte Gespräche in der Sicherheit des Schweigens von Dirk van Laak nachlesen. Im 1995 erschienenen Briefwechsel CS/Mohler findet sich sogar die Abschrift einer freundlichen Absage Schmitts an die Spiegel-Redaktion, die noch Ende 1959 eine Stellungnahme zum sich anbahnenden Streit über den Reichstagsbrand 1933 angefragt hatte: »Heute haben andere Typen das große Wort, nicht die Betrachter der geschichtlichen Vergangenheit, sondern ihre Rückverfertiger […]. Das ist die Lage. Hoffen wir, daß Sie, der Spiegel, stark und konsequent genug sind, um etwas daran zu ändern.« Daß mit Details so lange gegeizt wurde, ist nur mit Rücksichtnahme auf den seinerzeit noch lebenden Augstein zu erklären.)
Je mehr man sich Augstein zu nähern versucht, desto ungreifbarer wird der Mann. Der Spiegel an sich jedenfalls war die Kopfgeburt zweier Presseoffiziere mit Migrationshintergrund im Dienste Albions: Nachdem bereits im Frühjahr 1946 mit Die Welt die offizielle Tageszeitung der britischen Militärregierung etabliert worden war, wollten Hanus »Harry« Bohrer aus Prag und Hans »Henry Ormond« Jacobsohn aus Kassel der aufzubauenden Presselandschaft in der Besatzungszone noch eine politische Wochenzeitschrift à la Time angedeihen lassen.
Mit Unterstützung ihres Vorgesetzten John Seymour Chaloner, Sproß einer Verlegerfamilie, entstand das Konzept von Diese Woche, wofür im Herbst 1946 fügsame junge Deutsche mit Journalismuserfahrung, aber ohne den Ruch des Propagandaapparats angeworben wurden, die »die besiegten Deutschen für die menschliche Kultur zurückgewinnen« wollten. Ein offenes Tor für den seinerzeit ein Hannoversches Nachrichtenblatt der Alliierten Militärregierung verantwortenden Augstein, der 1941 gleich im Anschluß an das Abitur beim Hannoverschen Anzeiger volontiert hatte, um der Arbeitsdienstpflicht zu entgehen.
Um die Ironie der Geschichte zu vervollständigen, sollte ausgerechnet das Verlagsgebäude ebendieses Anzeigers, das bei Kriegsende als eines von wenigen Gebäuden in der Innenstadt des 88mal bombardierten Hannover noch stand, den Briten als Pressehauptquartier dienen, so daß ebendort nicht nur Diese Woche, sondern – 1948 aus einem fehlgeschlagenen Versuch der Briten, zusätzlich noch eine Jugendzeitschrift zu etablieren – auch der Stern geschaffen wurde. Einstweilen aber wurde Bohrer Chefredakteur des neuen Wochenmediums, und Augstein sein persönlicher Protegé.
So ergab sich auch ein geschmeidiger Übergang, als das für die Umerziehung in der Besatzungszone zuständige britische Außenministerium Diese Woche nach nur sechs Ausgaben zum Jahresende 1946 mit der Einstellung wegen Unbotmäßigkeit bedrohte – Augstein hatte unter anderem Übersetzungen der Rundfunkansprachen des britisch-jüdischen Verlegers Victor Gollancz über dessen Besuch im verheerten Westdeutschland (»In Darkest Germany«) abdrucken lassen, in denen den Besatzungsbehörden vorgeworfen wurde, die deutsche Zivilbevölkerung absichtlich am Rande einer Hungersnot zu halten.
Anstatt alle Artikel wie gefordert zukünftig einem Zensor in Berlin vorzulegen (bei wöchentlichem Erscheinen praktisch nicht umsetzbar), übergaben die drei Briten über Nacht die Geschäftsführung an Augstein. Obendrauf gab es eine der raren Verlegerlizenzen – und Der Spiegel konnte am Sonnabend, den 4. Januar 1947, aus seiner Puppe schlüpfen. (Das Nachspiel folgte 1950, als der Spiegel sich etabliert und wirtschaftlich gefestigt hatte: Nun verlangte Chaloner, der in der Heimat neben seiner Tätigkeit als Auslandsvertreter der Zeitschrift nicht als Verleger hatte reüssieren können, eine rückwirkende Kompensation für die Presseoffiziere, die Augstein doch schließlich »gemacht« hätten. Der Düpierte lehnte ab, und es kam erst nach dem Mauerfall zu einer Einigung, die Chaloner schließlich de facto als ununterbrochenes Mitglied seit 1946 in die redaktionsinterne Gewinnbeteiligung einband.)
In der Tat, Rudolf Augstein, der sich schon mit 21 Jahren fest dem »Nie wieder« verschworen hatte, als einen Propagandisten zu bezeichnen, wäre stark übertrieben. Erst recht, ihn einen nationalen Propagandisten zu nennen, selbst wenn man ihn beim Wort nehmen wollte: »Erich Kuby hat mich kürzlich einen Nationalisten genannt, und das bin ich auch, wie Mitterrand und Thatcher, um ganz hoch zu greifen. Lieber allerdings lasse ich mich als Patrioten bezeichnen, diesen Begriff habe ich in aller Subtilität vor 40 Jahren von Carlo Schmid geerbt. Damals schimpfte man mich ›Kommunist‹, weil ich als einer der ganz wenigen die Gebiete jenseits der Oder und Neiße auf immer abgeschrieben hatte.« (Augstein über Augstein zur Klärung seiner Position in Ausgabe 45/1989, nachdem der damalige Spiegel-Chefredakteur Erich Böhme noch unmittelbar vor der Maueröffnung seine Hoffnung, eine Wiedervereinigung lasse sich abwenden, publiziert hatte.)
Aber wem, der bei klarem Verstand ist, fiele das schon ein? Augstein war in all seinem Lavieren, in seinen mal schnellen Standpunktwechseln, mal zähem Festbeißen an inhaltlichen Positionen, in seinem Betonen der immerwährenden Bedeutung der Vergangenheit bei gleichzeitigem Pochen auf eine deutsche Zukunft vielleicht repräsentativer für »die Deutschen« nicht allein seiner Alterskohorte, der »skeptischen Generation« Helmut Schelskys, als es sich seine Verehrer ebenso wie seine Verächter bis heute eingestehen möchten. Ein Propagandist allerdings, das war er allerhöchstens für sich selbst, und das nicht mal besonders gut.