Rudolf Augstein, deutscher Durchschnitt

PDF der Druckfassung aus Sezession 116/ Oktober 2023

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Wenn sich am 5. Novem­ber sei­ne Geburt zum 100. Mal jährt, wird die deutsch­spra­chi­ge Medi­en­land­schaft ein­mal mehr über­quel­len vor Lobes­hym­nen auf Rudolf Augstein.

Als per­so­ni­fi­zier­tes »Sturm­ge­schütz der Demo­kra­tie« gab er sei­nem Spie­gel von der Stun­de Null an die Agen­da vor: »Alle im Spie­gel ver­ar­bei­te­ten und ver­zeich­ne­ten Nach­rich­ten, Infor­ma­tio­nen, Tat­sa­chen müs­sen unbe­dingt zutref­fen. Jede Nach­richt und jede Tat­sa­che ist […] pein­lichst genau nachzuprüfen.«

Auch wenn wir spä­tes­tens seit Relo­ti­us dar­über nur noch müde lächeln kön­nen, kom­men wir doch nolens volens kaum am Kom­plex vor­bei: Wo anders als in der his­to­ri­schen Spie­gel-Kan­ti­ne des alten Ham­bur­ger Redak­ti­ons­ge­bäu­des in der Wil­ly-Brandt-Stra­ße 25 hät­te man im Jubi­lä­ums­jahr 2018 sit­zen sol­len, um über »68 – Pop und Pro­test« zu sinnieren?

Woher kommt die eigen­tüm­lich aura­ti­sche Wir­kung, die Aug­stein seit Kriegs­en­de und noch Jahr­zehn­te nach sei­nem Tod inner­halb der deut­schen Pres­se­land­schaft zu ent­fal­ten ver­moch­te? Wie kam es, daß die erklär­ter­ma­ßen »bis­her ein­zi­ge JF-Demons­tra­ti­on« 1995 eine Hand­voll Redak­teu­re der libe­ral­kon­ser­va­ti­ven Ber­li­ner Wochen­zei­tung Jun­ge Frei­heit vor dem Spie­gel-Haus auf­lau­fen ließ, um dort ein Trans­pa­rent mit der Auf­schrift »Rudolf, räum den sAU­STall auf« zu ent­rol­len, nach­dem die Ham­bur­ger (Ste­fan Aust war Chef­re­dak­teur) das Ber­li­ner Druckerzeug­nis in eher plum­per Wei­se als Anti­semitenblatt dar­ge­stellt hat­ten (nach­zu­le­sen in der Chro­nik 20 Jah­re Jun­ge Frei­heit, S. 88)?

Was also war das für ein Mann, der – zweit­jüngs­tes von sie­ben Kin­dern – als Han­no­ve­ra­ner Gym­na­si­ast mit einem Hel­mut Oster­mann zur Schu­le ging, wel­cher sich spä­ter Uri Avnery nen­nen, als anti­zio­nis­ti­scher israe­li­scher Jour­na­list Furo­re machen und einen gewis­sen Mar­tin van Cre­veld für das Fach Geschich­te begeisterte?

Wer war jener Aug­stein, der nach der Ermor­dung des Gene­ral­bun­des­an­walts Sieg­fried ­Buback – zufäl­lig jenes Buback, der 1962 mit har­ter Hand die Ermitt­lun­gen gegen Aug­stein und Co. im Rah­men der »Spie­gel-Affä­re« gelei­tet hat­te – durch die Rote Armee Frak­ti­on (RAF) im April 1977 kund­tat, es brau­che kei­ne schär­fe­ren Geset­ze, denn Mord sei Mord und bedür­fe kei­ner wei­te­ren Klas­si­fi­zie­rung nach even­tu­el­len poli­ti­schen Moti­ven? (Und wie fin­den das die, die heu­te das glei­che Argu­ment vom ande­ren Pol des poli­ti­schen Spek­trums aus bemühen?)

Wer war Aug­stein, der gera­de in der Auf­bau­pha­se die Redak­ti­ons­rän­ge des Spie­gel eif­rig auch mit ehe­ma­li­gen Par­tei­ge­nos­sen und SS-Füh­rern bestück­te, aber vier Jahr­zehn­te spä­ter die wohl vom Inves­ti­ga­ti­v­jour­na­lis­ten Hans Ley­en­de­cker wei­test­ge­hend erfun­de­ne Geschich­te über den Poli­zei­mord an RAF-Mann Wolf­gang Grams in Bad Klei­nen (sie­he Sezes­si­on 87) erschie­nen ließ, die damals Bun­des­in­nen­mi­nis­ter und Gene­ral­bun­des­an­walt die Pos­ten kostete?

Die­ser Aug­stein, der 1951 mit 28 Jah­ren erst­mals in Bonn mit Carl Schmitt dis­ku­tiert hat­te und im Fol­ge­jahr unter­tä­nigst in Plet­ten­berg vor­stel­lig wur­de, um Schmitts juris­ti­sche Hil­fe bei einer Beschwer­de am eben erst gegrün­de­ten Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt gegen die von Bun­des­kanz­ler Ade­nau­er ver­an­laß­te Beschlag­nah­mung der Spie­gel-Aus­ga­be 28/1952 – es ging um Kon­tak­te höchs­ter BRD-Poli­ti­ker zum fran­zö­si­schen Geheim­dienst – zu erbitten.

(Die aus­ge­rech­net in der FAZ 2007 – zum 60. Jubi­lä­um der ers­ten Spie­gel-Aus­ga­be – her­aus­trom­pe­te­te »Ent­de­ckung« des zuge­hö­ri­gen Brief­wech­sels war eine Nebel­ker­ze: Daß es Schrift­ver­kehr und Tref­fen gege­ben hat­te, konn­te man bereits 1993 in der CS-Bio­gra­phie von Paul Noack sowie in Schmitts BRD-Wir­kungs­ge­schich­te Gesprä­che in der Sicher­heit des Schwei­gens von Dirk van Laak nach­le­sen. Im 1995 erschie­ne­nen Brief­wech­sel CS/Mohler fin­det sich sogar die Abschrift einer freund­li­chen Absa­ge Schmitts an die Spie­gel-Redak­ti­on, die noch Ende 1959 eine Stel­lung­nah­me zum sich anbah­nen­den Streit über den Reichs­tags­brand 1933 ange­fragt hat­te: »Heu­te haben ande­re Typen das gro­ße Wort, nicht die Betrach­ter der geschicht­li­chen Ver­gan­gen­heit, son­dern ihre Rück­ver­fer­ti­ger […]. Das ist die Lage. Hof­fen wir, daß Sie, der Spie­gel, stark und kon­se­quent genug sind, um etwas dar­an zu ändern.« Daß mit Details so lan­ge gegeizt wur­de, ist nur mit Rück­sicht­nah­me auf den sei­ner­zeit noch leben­den Aug­stein zu erklären.)

Je mehr man sich Aug­stein zu nähern ver­sucht, des­to ungreif­ba­rer wird der Mann. Der Spie­gel an sich jeden­falls war die Kopf­ge­burt zwei­er Pres­se­of­fi­zie­re mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund im Diens­te Albi­ons: Nach­dem bereits im Früh­jahr 1946 mit Die Welt die offi­zi­el­le Tages­zei­tung der bri­ti­schen Mili­tär­re­gie­rung eta­bliert wor­den war, woll­ten Hanus »Har­ry« Boh­rer aus Prag und Hans »Hen­ry Ormond« Jacob­sohn aus Kas­sel der auf­zu­bau­en­den Pres­se­land­schaft in der Besat­zungs­zo­ne noch eine poli­ti­sche Wochen­zeit­schrift à la Time ange­dei­hen lassen.

Mit Unter­stüt­zung ihres Vor­ge­setz­ten John Sey­mour Cha­lo­ner, Sproß einer Ver­le­ger­fa­mi­lie, ent­stand das Kon­zept von Die­se Woche, wofür im Herbst 1946 füg­sa­me jun­ge Deut­sche mit Jour­na­lis­mu­s­er­fah­rung, aber ohne den Ruch des Pro­pa­gan­da­ap­pa­rats ange­wor­ben wur­den, die »die besieg­ten Deut­schen für die mensch­li­che Kul­tur zurück­ge­win­nen« woll­ten. Ein offe­nes Tor für den sei­ner­zeit ein Han­no­ver­sches Nach­rich­ten­blatt der Alli­ier­ten Mili­tär­re­gie­rung ver­ant­wor­ten­den Aug­stein, der 1941 gleich im Anschluß an das Abitur beim Han­no­ver­schen Anzei­ger volon­tiert hat­te, um der Arbeits­dienst­pflicht zu entgehen.

Um die Iro­nie der Geschich­te zu ver­voll­stän­di­gen, soll­te aus­ge­rech­net das Ver­lags­ge­bäu­de eben­die­ses Anzei­gers, das bei Kriegs­en­de als eines von weni­gen Gebäu­den in der Innen­stadt des 88mal bom­bar­dier­ten Han­no­ver noch stand, den Bri­ten als Pres­se­haupt­quar­tier die­nen, so daß eben­dort nicht nur Die­se Woche, son­dern – 1948 aus einem fehl­ge­schla­ge­nen Ver­such der Bri­ten, zusätz­lich noch eine Jugend­zeit­schrift zu eta­blie­ren – auch der Stern geschaf­fen wur­de. Einst­wei­len aber wur­de Boh­rer Chef­re­dak­teur des neu­en Wochen­me­di­ums, und Aug­stein sein per­sön­li­cher Protegé.

So ergab sich auch ein geschmei­di­ger Über­gang, als das für die Umer­zie­hung in der Besat­zungs­zo­ne zustän­di­ge bri­ti­sche Außen­mi­nis­te­ri­um Die­se Woche nach nur sechs Aus­ga­ben zum Jah­res­en­de 1946 mit der Ein­stel­lung wegen Unbot­mä­ßig­keit bedroh­te – Aug­stein hat­te unter ande­rem Über­set­zun­gen der Rund­funk­an­spra­chen des bri­tisch-jüdi­schen Ver­le­gers ­Vic­tor Gol­lan­cz über des­sen Besuch im ver­heer­ten West­deutsch­land (»In Dar­kest Ger­ma­ny«) abdru­cken las­sen, in denen den Besat­zungs­be­hör­den vor­ge­wor­fen wur­de, die deut­sche Zivil­be­völ­ke­rung absicht­lich am Ran­de einer Hun­gers­not zu halten.

Anstatt alle Arti­kel wie gefor­dert zukünf­tig einem Zen­sor in Ber­lin vor­zu­le­gen (bei wöchent­li­chem Erschei­nen prak­tisch nicht umsetz­bar), über­ga­ben die drei Bri­ten über Nacht die Geschäfts­füh­rung an Aug­stein. Oben­drauf gab es eine der raren Ver­le­ger­li­zen­zen – und Der Spie­gel konn­te am Sonn­abend, den 4. Janu­ar 1947, aus sei­ner Pup­pe schlüp­fen. (Das Nach­spiel folg­te 1950, als der Spie­gel sich eta­bliert und wirt­schaft­lich gefes­tigt hat­te: Nun ver­lang­te Cha­lo­ner, der in der Hei­mat neben sei­ner Tätig­keit als Aus­lands­ver­tre­ter der Zeit­schrift nicht als Ver­le­ger hat­te reüs­sie­ren kön­nen, eine rück­wir­ken­de Kom­pen­sa­ti­on für die Pres­se­of­fi­zie­re, die Aug­stein doch schließ­lich »gemacht« hät­ten. Der Düpier­te lehn­te ab, und es kam erst nach dem Mau­er­fall zu einer Eini­gung, die Cha­lo­ner schließ­lich de fac­to als unun­ter­bro­che­nes Mit­glied seit 1946 in die redak­ti­ons­in­ter­ne Gewinn­be­tei­li­gung einband.)

In der Tat, Rudolf Aug­stein, der sich schon mit 21 Jah­ren fest dem »Nie wie­der« ver­schwo­ren hat­te, als einen Pro­pa­gan­dis­ten zu bezeich­nen, wäre stark über­trie­ben. Erst recht, ihn einen natio­na­len Pro­pa­gan­dis­ten zu nen­nen, selbst wenn man ihn beim Wort neh­men woll­te: »Erich Kuby hat mich kürz­lich einen Natio­na­lis­ten genannt, und das bin ich auch, wie Mit­ter­rand und ­That­cher, um ganz hoch zu grei­fen. Lie­ber aller­dings las­se ich mich als Patrio­ten bezeich­nen, die­sen Begriff habe ich in aller Sub­ti­li­tät vor 40 Jah­ren von Car­lo Schmid geerbt. Damals schimpf­te man mich ›Kom­mu­nist‹, weil ich als einer der ganz weni­gen die Gebie­te jen­seits der Oder und Nei­ße auf immer abge­schrie­ben hat­te.« (Aug­stein über Aug­stein zur Klä­rung sei­ner Posi­ti­on in Aus­ga­be 45/1989, nach­dem der dama­li­ge Spie­gel-Chef­re­dak­teur Erich Böh­me noch unmit­tel­bar vor der Mau­er­öff­nung sei­ne Hoff­nung, eine Wie­der­ver­ei­ni­gung las­se sich abwen­den, publi­ziert hatte.)

Aber wem, der bei kla­rem Ver­stand ist, fie­le das schon ein? Aug­stein war in all sei­nem Lavie­ren, in sei­nen mal schnel­len Stand­punkt­wech­seln, mal zähem Fest­bei­ßen an inhalt­li­chen Posi­tio­nen, in sei­nem Beto­nen der immer­wäh­ren­den Bedeu­tung der Ver­gan­gen­heit bei gleich­zei­ti­gem Pochen auf eine deut­sche Zukunft viel­leicht reprä­sen­ta­ti­ver für »die Deut­schen« nicht allein sei­ner Alters­ko­hor­te, der »skep­ti­schen Gene­ra­ti­on« Hel­mut Schelskys, als es sich sei­ne Ver­eh­rer eben­so wie sei­ne Ver­äch­ter bis heu­te ein­ge­ste­hen möch­ten. Ein Pro­pa­gan­dist aller­dings, das war er aller­höchs­tens für sich selbst, und das nicht mal beson­ders gut.

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

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